§ 30

[196] Der Selbstmörder weiss nicht, was nach dem Schuss kommen wird, oder, im Fall des Gelingens, nach Eintritt des Todes. Er will nur den gegenwärtigen Gedanken, den er anders nicht losbringen kann, zerstören; sein Ich davon befreien. Und meist gelingt dies sogar schon durch den Schuss, der nicht tötet. Denn dieser ist schon eine Hinausschleuderung der in ihm nicht anders zu brechenden Widerstände. Er handelt also ganz rationell. Dass er im Fall des Gelingens des Schusses die weitere Funkzion seines Ichs, die Möglichkeit, überhaupt noch Illusionen zu haben, damit zerstört, ist eine Sache, die eigentlich ausserhalb seines Kalküls liegt, ist eine Nebensache, ein Abfallprodukt seiner geistigen Arbeit, die ihn nichts angeht. Man darf daher den Selbstmörder weder so tragisch, noch so transzendental, noch so moralisch komplizirt nehmen, wie wir gewöhnlich tun. Jedenfalls nicht tragischer, als er sich selbst nimt. Er nimmt sich aber rein – wie soll ich sagen? – fisiologisch. Unsere Erwägungen über ihn sind schon wieder vollgepfropft mit Illusionen. Als fisiologischer, unvermeidlicher [196] Akt ist der Selbstmord so berechtigt wie das Niesen, das Spuken. Es muss eben geschehen. Es ist ein fisiologischer Akt.

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978, S. 196-197.
Lizenz:
Kategorien: