Schlusswort

[79] Ich kann wol kaum erwarten, dass die hier vorgetragenen, gänzlich neuen Gesichtspunkte allzurasch bei den hohen Regierungen und bei den verehrten Fachkollegen Eingang finden werden. Das wirklich Neue muss sich ja immer auf bestimte Widerstände gefasst machen. Und – was haben wir uns in den lezten zehn Jahren nicht für neue Krankheiten, neue Bazillen und neue Serum-Terapieen zumuten lassen müssen! So werde auch ich mit der Möglichkeit rechnen müssen, dass meine grundlegenden Ideen vielfachem Zweifel, vielleicht sogar spöttischem Achselzuken begegnen werden. Besonders nazjonalliberale Psichjater werden mir vielleicht entgegnen, dass für bestimte Ideen und Ideengruppen doch auch die Möglichkeit einer Inizjative im Volk, in den beherrschten Massen, als gegeben zu erachten sei. Ich will auf diesen Einwurf jezt nicht antworten. Ich vermag nicht an seine Berechtigung zu glauben. Jedenfalls könte er mich nicht hindern, auf eine Krankheit, als eine Spezjalform, aufmerksam zu machen, die seit mindestens 100 Jahren bei uns im Abendland besteht und immer grössere Dimensjonen anzunehmen droht.

Dass diese Neuform psichischer Entartung aus dem Sammelsurium politischer Vertraktheiten und revoluzjonärer Allüren als Tipus jezt endlich herausgeschält werden muss, das ist für mich das Postulat einer wissenschaftlichen Überzeugung und das Resultat vieljährigen, emsigen Studiums[79] und genauer Beobachtung der Zeitläufte. Es komt ja so oft vor, dass man die manigfachsten Simtome für lange Zeit, für Jahrhunderte, zusammenwirft, sie vermengt, weil es noch an Schärfe der Sinne, an der nötigen Distinkzjons-Gabe fehlt, vor Allem, weil die Krankheit noch nicht so häufig aufgetreten ist. Ich erinnere an die allgemeine Paralise der Irren, an die tabes dorsalis, die spastische Spinalparalise, die Neurastenie, die multiple Sklerose, gewisse Augenkrankheiten, die alle erst im Laufe dieses Jahrhunderts als solche erkant wurden; bis eine Krankheit sich häufiger zeigt und gewisse Simptome sich immer wieder zusammenfinden, und nun plözlich der Tipus klar heraustritt und sich offenbart.

So mit der psichopatia criminalis. Sie ist eine verbrecherische Vernunft-Form, eine Art Influenza des Denkens, welche früher nur in einzelnen Köpfen hauste, sich in Singulär-Erscheinungen, wie Arnold von Brescia, dem Abt Joachim, Savonarola, dem Pfeifer von Nicklashausen u.a. manifesirte, oder in kleineren sektirerischen Epidemien, wie den Waldensern, den Begharden, den Taboriten u.a. ihren Ausdruk fand. Die Leute meinten, ihr Denken sei das Denken, sei das Leben und sei allgemeingültig. – Doch da die Krankheit nicht weiter um sich griff, und die patogenen Keime in den Köpfen der Gehenkten – oder, noch vorsichtiger: der Verbranten – erstarben, so wurden die Simptome immer noch vielfach übersehen. Erst mit dem sechzehnten Jahrhundert zeigte sich in Deutschland ein neuer Nachschub, dann in England im achtzehnten, und schliesslich zu Ende des vorigen Jahrhunderts in Frankreich, ein derartiges Anwachsen der Epidemie, dass nun die Ärzte genötigt waren, sich genauer mit den Erscheinungen zu befassen, ihre Ätiologie zu studiren und den Tipus derselben festzustellen.

Im Mittelalter wäre es z.B. keinem Menschen eingefallen, das freie Verfügungsrecht des von Gott eingesezten Fürsten[80] über Leib, Leben und Gedanken seiner Untertanen anzuzweifeln.35 Einzelne verirte Geister, wo sie vorkamen, wurden rasch hingerichtet und entfernt. Als aber vor 200 Jahren die englischen free-thinkers, die Frei-Denker in England – »Frei-Denker«, welches Wort!! – ihre feindliche Geistestätigkeit begannen, genauer: als man im Abendlande erkante, dass Fürsten im Hinblik auf ihre Gedankengebilde wirklich abgeschaft, nämlich geköpft werden können, also seit der Hinrichtung Karl's I. von England, verdichteten sich diese dissoluten, aufrührerischen Meinungen zu der Tese: als gäbe es »Menschenrechte« – soll heissen: Untertanenrechte – neben den Fürstenrechten. Ein ganz wahnhaftes, luftiges Gedankengebilde; das Resultat jener englischen und französischen Denker und entgleisten Gesellen, die nicht rechtzeitig in ein lunatic asylum, oder in die Bastille, gebracht wurden, oder wenn sie dahin kamen, nicht festgehalten wurden.

Es ist das Verdienst der heutigen Psichjatrie und der wissenschaftlichen Untersuchungen über Sugestjon und psichische Anstekungen, erkant zu haben, auf welchen Bedingungen das Weiterfressen und Umsichgreifen krankhafter, antimonarchischer Gedankengebilde beruht; und dass es nur des rechtzeitigen Eingreifens des Arztes und der amtlichen Behörde bedarf, um die den deutschen Fürstenhäusern drohenden Gefahren und ungünstigen Gedanken-Konklomerate aus der Welt zu schaffen.

Somit steht denn der Tipus der psichopatia criminalis heute klar und unverrükbar fest.

Sie erscheint unter den mannigfachsten Simptomen, die wir hier unter den landläufigen, weil leichter verständlichen, Krankheitsformen: mania, melancholia, Gehirnerweichung, Verrüktheit, zur Darstellung gebracht haben. Und besonders[81] unter dem Bild der paranoia entwikeln sich vielfach die Krankheitssimptome dieser kriminellen Psichose.

Man möge sich nicht durch den luftigen, hauchartigen Charakter, der überhaupt den Äusserungen der Psiche innewohnt, über die grosse Virulität der in Rede stehenden Keime täuschen lassen. Die Gefahr ist da. Sie ist iminent. Und bei dem stets fortschreitenden Prozess der politischen Gehirn-Erkrankungen im Abendlande wird es sich bald deutlicher herausstellen, dass wir hier vor einer der gefährlichsten und folgereichsten Massen-Epidemien stehen, und es Zeit ist, den Monarchen zuzurufen: »Fürsten Europa's, wahret Eure heiligsten Güter!«

Fußnoten

1 Unter Rindenzwang versteht die moderne Psichjatrie den von der Gehirn-Rinde, als dem Siz der höchsten Gedanken-Reihen, ausgehenden Widerstand gegen Einflüsterungen und Sugestionen, so dass selbst die bestgemeinten Absichten der Regierungen an solch' individualistischen Starrköpfen wirkungslos abprallen.


2 Mommsen, Th., Römische Geschichte. Bd. II. 5. Aufl. Berlin 1869. S. 87–94. Dort ist wol von »agricolem Proletariat« und dem »Untergang des italischen Bauernstandes« die Rede; aber nirgends steht ein Wort, dass ein Römer oder Italer direkt verhungert sei.


3 Arndt, R., Lehrbuch der Psichjatrie für Ärzte und Studirende. 637 S. Gross-80. Wien und Leipzig 1883. – Das bewundernswerte Lehrbuch ist bei weitem nicht genügend gewürdigt und noch immer in der ersten Auflage zu haben.


4 Thomasius, G., Darstellung der evang.-luth. Dogmatik vom Mittelpunkt der Christologie aus. Erlangen 1852. S. 175.


5 Spener, Ph. J., Pia desideria oder Verlangen nach gottgefälliger Besserung. Frankfurt 1673.


6 Heinroth, F.C.A., Störungen des Seelenlebens. Leipzig 1818. S. 127.


7 Heinroth, F.C.A., Die Lüge. Beiträge zur Seelenkrankheitskunde. Leipzig 1834. S. 38.


8 Schüle, H., Klinische Psychiatrie. 3. Aufl. Leipzig 1886. S. 376.


9 Baillarger, J., Recherches sur le système nerveux. Paris 1847.


10 Magnan, V., Maladies mentales. 2ème édit. Paris 1893.


11 Griesinger, W., Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten. 2. Aufl. Stuttgart 1861.


12 Schüle, H., Handbuch der Geisteskrankheiten. 2. Aufl. Leipzig 1880. S. 513.


13 Hyrtl, Jos., Lehrbuch der Anatomie des Menschen. 20. Aufl. Wien 1889. S. 236.


14 Mendel, C., Die progressive Paralyse der Irren. Berlin 1880. S. 97.


15 Die Ausgabe von 1782 hat einen »rechtsspringenden« Löwen auf dem Titelblatt, die Ausgabe vom folgenden Jahr einen »linksspringenden« Löwen, damit nur Jeder die ihm passende Gangart vorfinde; als ob es nicht schon an einem Löwen genug wäre!


16 Thomasius, Gottfried, Erste Religionsstufe. Erlangen 1853 ff. Das oftmals aufgelegte vortrefliche Schriftchen des so früh Verblichenen, dessen Brust die höchsten Staatsorden schmükten, bildet eine ausgezeichnete Vorschule für den späteren Beamten.


17 Bei der Kasuistik der psichopatia criminalis mussten wir gelegentlich bis auf das entfernteste Altertum zurükgreifen, da gerade in jenen älteren Zeiten, da eine psichjatrische Erkentnis politischer Gehirnprozesse noch nicht möglich war, einzelne Fälle sich in voller Klarheit, ausserhalb des Irrenhauses, in breitester Öffentlichkeit, abspielten, und in schauerlich-schöner Weise zeigen, wie die kranken Ideen eines Einzelnen das gesamte politische Leben eines Volkes auf's Schlimmste beeinflussen können.


18 Mommsen, Th, Römische Geschichte. Berlin 1869. 5. Aufl. Bd. II. S. 92.


19 Gneist, Rud., Englische Verfassungs-Geschichte. Berlin. 2. Aufl. 1889, ein vorzügliches Werk.


20 Sybel, H. von, Geschichte der französischen Revoluzions-Zeit 1789–1800. 5 Bde. Stuttgart 1853–1879. Das Beste, was man in der Art lesen kann!


21 Mommsen, Theodor, Römische Geschichte. Bd. I, II, III und V. Berlin 1854. 8. Aufl. ebd. 1888. Bekantes Meisterwerk! Hätte der ehrwürdige Verfasser es vermieden, sich in die politischen Zustände seines Landes zu mischen, wofür er, wie gebührend, – da man wegen so kurzer Krankheiten die Leute nicht interniren kann, – vom Strafrichter abgeurteilt wurde, dann wäre er um eine empfindliche Lekzjon ärmer, um einen Orden reicher und der so sehnlichst erwartete vierte Band der »Römischen Geschichte« wäre erschienen.


22 Es muss als ein glüklicher Zug bezeichnet werden, dass die deutschen Regierungen dem in lezter Zeit unter den gebildeten Massen so lebhaft aufgetretenen Bedürfnis nach Ansichts-Postkarten nach Möglichkeit entgegengekommen sind, da – abgesehen von den erhöhten Einnahmen des Staats – das Publikum auf diese Weise seine verbrecherische Lust, eine Ansicht über die Politik seines Landes zu gewinnen, wenigstens in Form von Ansichts-Postkarten befriedigen kann; statt Einsicht in die Politik zu verlangen, wo ihm nach Lage der Umstände derzeit wenigstens jede Einsicht notgedrungen abgesprochen werden muss. –


23 Lombroso, C., Il genio nei pazzi: L'uomo di genio. 5a ediz. Torino 1888. p. 150 ff. – Carl du Prel, Mystik im Irrsinn. Psychische Studien, Zeitschrift der Untersuchung der Phänomene des Seelenlebens gewidmet. Leipzig. 16. Jahrg. 1889.


24 Den Forscher und Patologen wird es interessiren, wie die moderne, bibelwidrige und von den Regierungen nicht anerkante Lehre von der Auffassung des Verbrechens als einer Krankheit, als einer Zwangshandlung, so weit und auf so kranke Spur zurükgeht, wie hier.


25 Aus den gerichtlicherseits beschlagnahmten Manuskripten Weitlings.


26 Es ist dieselbe aufreizende Sprache, die man auch heute, erst neuerdings bei Gelegenheit des grossen Hamburger Hafenarbeiter-Streiks, von verschiedenen Seiten hören konte, und die immer und unter allen Umständen pervers, und niemals bei den Fürsten Gefallen finden kann.


27 Weitling, W., Das Evangelium des armen Sünders. Bern 1845. – So geht es, wenn man diesen Leuten die Bibel in die Hand gibt. Die katolische Kirche hatte in dieser Beziehung einen richtigen Blik, den Laien die Bibel gänzlich zu versagen. Sie lernen nur die poetische Sprache und beweisen Einem schliesslich die Haltlosigkeit des Christentums aus der Bibel, was nicht im Interesse der Fürsten sein kann.


28 Weitling, W., Kerkerpoesieen. Hamburg 1844.


29 Auch die geisteskranken Elaborate Weitlings werden immer noch gekauft und neu aufgelegt. »Evangelium des armen Sünders«, Bern 1845, erschien schon 1848 in dritter Auflage. 1843 erschien eine französische, 1846 eine norwegische Übersezung. Ende der achtziger Jahre erschien ein anastatischer Nachdruk der Berner Ausgabe. München 1894 erschien ein Neudruk, herausgegeben von Eduard Fuchs, und von dieser Ausgabe 1897 schon die 2. Auflage. – Von »Die Garantieen der Harmonie und Freiheit« (die in keiner psichjatrischen Bibliotek fehlen solten), Vivis 1842, erschien 1845 die zweite, 1849 die dritte Auflage. 1846 eine norwegische, 1849 eine französische Übersezung. Eine kritische Ausgabe der sämtlichen Schriften Weitlings soll sogar von Dr. C. Hugo in Stuttgart in Angriff genommen sein. Wohin soll das führen? Die deutschen Fürsten solten das nicht erlauben. Von solcher Poesie haben wir doch wahrhaftig schon an Schiller genug.


30 Schüle, H., Klinische Psichjatrie. 3. Aufl. Leipzig 1886. S. 131.


31 Schüle a.a.O.S. 131.


32 Es ist nebenbei gesagt ein Unfug, den jungen Leuten auf Gimnasien und humanistischen Lehranstalten, zu einer Zeit, wo die jugendliche Psiche sich so aufnahmefähig und sugerirbar zeigt, Erzählungen wie die von Muzius Skävola u. dgl. ohne jeden Komentar – ohne die Erläuterung: dass man sich nur zu Gunsten des von Gott eingesezten Landesfürsten die Finger verbrennen dürfe – nicht für die Republik! – lesen zu lassen. Bei diesen Leuten muss später, wenn sie Beamte geworden sind, eine gewisse Verwirrung eintreten. Es wäre doch wahrhaftig für diese jungen Leute besser, wenn sie irgend ein tüchtiges, mustergültiges Geschichts-Buch, etwa Professor Oncken's »Geschichte des grossen Heldenkaisers« in solchem Falle lesen würden. Von Schiller's Prosa solte grundsäzlich aus der Zeit vor dessen Wendung zum Ewig-Sitlichen – also etwa vor 1790 – Nichts auf die Schule kommen. Eine Nazion, bei der Schiller's »Räuber« von jeder unschuldigen Seele für 20 Pfennig gekauft werden kann, muss dem Untergang entgegengehen.


33 Siehe das vor einem halben Jahrhundert viel gelesene und angestaunte Buch Stirner's – der Titel fält mir momentan nicht ein –; auch es ist für 20 Pfennig in der Reklam-Bibliotek zu haben!!! –


34 34 Siehe, was wir darüber im ersten Abschnitt gesagt haben.


35 Siehe den bekanten Grundsaz im Hinblik auf religiöse Anschauung: »cujus regio, ejus religio.« –

Quelle:
Oskar Panizza: Die kriminelle Psychose, genannt Psichopatia criminalis. München 1978.
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