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[90] Nikomedien, den 26. Februar 303.
Es ist seltsam, wie ein Abenteuer, eine Beschwerlichkeit, die wir um eines Freundes willen übernehmen, plötzlich diesem Freunde einen viel höhern Werth in unsern Augen gibt – wie Gärtnern die Pflanzen am liebsten werden, mit denen sie die meiste Mühe hatten. Ich habe oft darüber nachgedacht und dir einst in Rücksicht auf den Flattersinn der Männer darüber geschrieben; jetzt finde ich diese Beobachtung an mir bestätigt. Zweimal bin ich nun in meiner Sclavenhülle bei ihm gewesen. Wahrlich ein Mann, der sonst nicht schön ist, wird nicht reizend dadurch, wenn er bleich und verwundet auf seinem Bette liegt! Dennoch dünkt mich, er sey mir noch nie so anziehend vorgekommen, als eben jetzt. Gerade, daß er mir nur die Linke reichen kann, weil sein rechter Arm verwundet ist, daß ich ihm manchmal bei etwas helfen muß, wozu er zwei Hände brauchte, daß ihn das so ungeschickt, so hülflos macht, bewegt mich seltsam, und die Blässe seines Gesichts, der weichere Ton seiner Stimme, die mindere Lebhaftigkeit seiner Bewegungen rührt mich, ich weiß nicht warum, weit mehr, als wenn er auf einmal[90] durch die Sprüche einer thessalischen Zauberin in einen Adonis wäre umgewandelt worden. Das ist seltsam, aber mich dünkt, es ist vollkommen gut, daß es so ist. Nicht um meinetwillen – lächle nicht spöttisch, wenn du dies liesest; mein Verhältniß zu Agathokles ist gar nicht von der Art; wie du denkst, und unsre Gespräche sind von so ernstem Inhalt, daß die sanftern Gefühle scheu davor zurückbeben müssen – aber ich finde diese Einrichtung für's Ganze gut. Das Schicksal, die Natur, die Vorsicht, die Götter, oder wie man das Wesen nennt, das die Sorge für die Anordnung und Erhaltung der Welt über sich genommen hat, hat diesen Zug mit vieler Weisheit in die Tiefe unsers Herzens gelegt. Die Welt ist nun einmal so eingerichtet, daß im Physischen wie im Moralischen nichts ohne Mühe, Anstrengung, Kampf erlangt werden kann. Dem Muthigen hilft das Glück, der Anstrengung gewähren die Götter Alles. Das sind uralte Sprüche, die jede Generation von den Vätern übernimmt, und durch ihr Beispiel bestätigt den Enkeln hinterläßt. Wie weise ist es nun, daß diese warme Anhänglichkeit und Vorliebe für das Kind unsers Fleißes, unserer Aufopferungen, uns für die vergangene Mühe entschädigt, zu künftiger spornt, und oft, recht oft unsern einzigen und doch genügenden Lohn ausmacht.
Agathokles ist mir sehr werth geworden – durch die schöne Handlung, die ihm diese Wunden zuzog, und beinahe das Leben gekostet hätte, durch seinen jetzigen Zustand, und – durch die Thorheit, die ich um seinetwillen begangen habe. Noch mehr, ich laufe vielleicht einige Gefahr, wenn ich meine Besuche fortsetze; denn ich[91] merke seit gestern, daß mir Jemand nachschleicht, und mich beobachtet. – Phädo hat es ebenfalls bemerkt. Wer es ist, kann ich nicht errathen. Von meinem Vater kommt es nicht; denn der würde offen mit mir zu Werke gehen. Ich kann Verdruß bekommen; auf jeden Fall wird die Geschichte, wenn sie bekannt würde, mich den Nachreden und Verläumdungen der Stadt aussetzen. Hieran liegt mir wenig, ich verachte das Geklatsch in Nikomedien, wie ich es in Rom verachtet habe, und gehe meinen Gang nach meiner Ueberzeugung, ohne mich darum zu kümmern, was einfältige Weiber, denen, dasselbe zu thun, was sie verlästern, nur Geist und Muth gebricht, darüber schwatzen mögen. Aber die Sache selbst wird mir dadurch werther, und die unbekannte Gefahr, die mir drohen mag, bestimmt mich um so sicherer, heute wieder zu gehen. Zu fürchten habe ich persönlich nichts, denn Phädo und sein Sohn werden mich bewaffnet begleiten, und in unsern Tagen hört man von keinen Helenen und Proserpinen1. So dient das Abenteuer nur, mich zu unterhalten. Uebrigens bin ich ganz ruhig, und es kömmt mir zuweilen vor, als sähe mein inneres Ich mit Vergnügen einer Comödie zu, in der mein äußeres Ich, Agathokles, und der unbekannte Späher die Hauptrollen spielen.
Ein Verdacht ist mir schon gekommen, aber er ist fast zu weit gesucht, zu ungegründet. Marcius Alpinus ist seit einigen Tagen hier. Du weißt, daß meines Vaters[92] Einfluß und Vermögen ihm in der ersten Zeit meiner Abwesenheit meine Person sehr liebenswürdig machte. Er plagte mich damals, ich begegnete ihm, wie es seine Denkart verdiente. Er haßt Agathokles, das weiß ich, und spielt wieder eine bedeutende Rolle am Hofe, wo das kriechende listige Insekt recht in seinem Elemente lebt. Es wäre möglich, aber wie gesagt, nicht wahrscheinlich.
Agathokles ist sehr strenge geworden. Ich habe gestern einen lebhaften Streit mit ihm gehabt. Von ungefähr entschlüpfte mir eine leichte Bemerkung, von der Art wie die vorige, über Gott, Vorsicht, Schicksal. Er nahm das sehr ernst auf, und verwies mir den sträflichen Leichtsinn (so wagte er es, meine Denkart zu nennen), mit dem ich die wichtigste Sache des Menschen behandelte. Ich fragte ihn lachend, ob er etwas davon wisse, ob irgend ein Mensch seit Deucalions Zeiten etwas Gewisses darüber erfahren, ergrübeln, schließen habe können? Das mußte er verneinend beantworten. Aber er verwies mich an den Glauben, als das Theuerste, was der Mensch besitze, das Einzige, was ihn über den Staub erhebe, und ihm Kraft gebe, Alles, was ihm als einem sinnlichen Wesen werth ist, sein irdisches Wohlseyn, und endlich selbst die letzte Bedingung dieses Wohlseyns, sein Leben aufzugeben, um das Höchste, Größte zu erringen. Und was ist denn dies so gepriesene Höchste, Größte? fragte ich lächelnd in einem wohl zu leichten Ton; denn ich wollte unserm Gespräch eine fröhlichere Wendung geben.
Er sah mich streng und forschend an, dann legte er seine Hand auf mein Herz. »Und sollte dies gute Herz[93] durch den Umgang mit der Welt so erkältet worden seyn, daß es die Antwort auf diese Frage nicht in allen seinen Tiefen wiederhallen hören sollte?« Ich muß dir gestehen, ich war ein wenig verlegen und beschämt, und doch lag etwas Angenehmes in diesem Vorwurf. Ich schwieg eine Weile. Ein Blick auf Agathokles verwundeten Arm, ein Gedanke an die Ursache desselben machte mich fühlen, daß ich mit meiner Weltphilosophie etwas klein vor dem Manne stand, der noch vor drei Tagen eben diese letzte Bedingung seines Wohlseyns kaltblütig auf's Spiel gesetzt hatte, um jenes unnennbare Höchste zu erhalten. Wie nennst du es – Glück – Bewußtseyn – Tugend? Er nennt es das Gute, und seinen ersten, hiernieden vielleicht einzigen Lohn, Seelenfrieden. Ich vertheidigte mich noch ziemlich gut, trotz meiner Verlegenheit, und er fing nun, um mich ganz zu überzeugen, mit seiner glühenden Beredtsamkeit an, mir die Erhabenheit der christlichen Moral zu schildern, deren Hauptgesetz höchste Reinheit des Willens und unablässiges Streben nach dem Guten ist, die ihren Jüngern auferlegt, so zu leben, daß ihre Handlungsweise zur Richtschnur für die ganze Welt dienen könnte u.s.w. Ich muß dir gestehen, was er sagte, und wie er's sagte, war schön und würdig, es rührte, es erhob mich. Aber so denkt auch nur Agathokles, und auch er vielleicht nur in wenigen Augenblicken. Wer von den übrigen Christen denkt aber wie er?
Diese Bemerkung drängte sich mir leider bald darnach auf, als ich ihn verlassen hatte, und in der Stille meines dunkeln Zurückweges, mir selbst überlassen, und[94] nicht mehr von einem gewaltigen Geist aus meiner Bahn in einen fremden Gesichtspunkt gerissen, die Sache wieder in dem gewöhnlichen Lichte betrachtete. Ach, unsre Voreltern waren ja auch nicht lauter Thoren oder Betrüger, und wenn der Polytheismus so gar verächtlich und untauglich gewesen wäre, das Menschengeschlecht im Zaum zu erhalten, die Welt hätte nicht so lange bestanden, das eiserne Zeitalter, das Ovid, als schon ein Mal da gewesen, besingt, wäre wieder gekommen, der Krieg Aller gegen Alle wäre ausgebrochen, und das vertilgte Geschlecht hätte eines zweiten Deucalions bedurft. So sank ich denn allmählig aus den Wolken, oder vielmehr aus Agathokles erhabnem Christenhimmel langsam wie der auf die Erde herab, und nichts blieb mir übrig, als reine Hochachtung für den Mann, der nicht allein so zu schwärmen, sondern auch dieser Schwärmerei gemäß zu handeln fähig ist.
Als ich kaum ein Paar hundert Schritte von dem Wittwenhause an einem Gebüsche vorbei war, bemerkte ich dieselbe verhüllte Gestalt, die mich schon auf dem Hinweg begleitet hatte, und die sich in der Entfernung von ein Paar Schritten immer an unserer Seite hielt; ich sah, daß sie mir unablässig folgte, schneller und langsamer, links und rechts ging, wie ich es oft, um sie zu necken, that. Ich fand es nicht rathsam, gerade in unser Haus zu gehen; als wir daher innerhalb der Thore waren, flisterte ich Phädo zu, er möchte mich zu seinem Bruder führen, der hier ein kleines Kaufmannsgewölbe hat. Er that es, ich kann auf die Verschwiegenheit dieser Leute rechnen, und blieb hier so lange, bis ich mit[95] Wahrscheinlichkeit vermuthen konnte, daß mein unbekannter Begleiter, des Wartens müde, fortgegangen seyn mochte. Das war auch wirklich geschehen, und ich langte endlich ohne weiteres Abenteuer, aber nicht ohne einige Bangigkeit zu Hause an.
Ich bin neugierig, wie es heute Abends seyn wird. Meine Maaßregeln sind getroffen, ich fürchte nichts, und wenn ich auch ein wenig Furcht empfinde, so würde das Interessante des Abenteuers, und dieser heimlichen Zusammenkünfte sie weit überwiegen. Leb' wohl, Sulpina! ich bin müde vom Schreiben. Nächstens mehr.
1 Helene wurde zwei Mal, einmal von Theseus, das zweite Mal von Paris entführt. Proserpinens Entführung durch Pluto ist bekannt.
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