Als ich meinen Lehrmeister nicht bestahl.

[249] Wenn am Jüngsten Tage darüber Rechenschaft gegeben werden muß, warum ich in meinen Schneiderlehrjahren so wenig gelernt habe, so wird sich mein Meister deswegen nicht zu melden brauchen. An ihm war keine Schuld. Er hatte weder ein Weib, das für die Küche bedient, noch ein Kind, das gewiegt, weder eine Kuh, die geweidet, noch eine Ziege, die gemolken werden mußte. Sollte das einzige Paar Stiefel, welches ich an den Sonnabenden für meinen Meister zu wichsen hatte, in die böse Wagschale fallen, so wollte ich mich eilends auf die gute setzen und rufen: Herr, wenn du auf mich Schneiderlehrling noch einiges Gewicht legst, so sei versichert, ich tat's in meiner freien Zeit, ich tat's aus freiem Willen, ich habe damit nichts versäumt!

Die Lehrmeister pflegen es wohl so einzurichten, daß der Lehrling nach seinen vollendeten drei Lehrjahren nicht als Meister, sondern als Geselle hervorgeht. Sie lehren ihm das Abe ihrer Kunst, aber das Wörterbilden lassen sie ihn selber erfinden. Ich kannte alle Buchstaben: ich verstand das Fadenmachen, das Nähen mit Vorderstichen, mit Hinterstichen, mit Überwindlingstichen, das Steppen, das Säumen, das Heften, das Paspulieren, das Locheinfassen, das Knopfeinhängen. Ich verstand das[250] Lodenaufkrauen und das Bügeln, das Einlassen und das Ausschweifen, obwohl mir mein Meister in bezug auf letzteres einmal den Vorwurf machte, meine Hosen wären über den Stiefelrist nicht ausschweifend genug. Kurz, ich machte alle Teile des Rockes, aber ich machte kaum einen ganzen Rock.

Das Zuschneiden betrieb mein Meister nach Papiermustern. Solche, welche in Form von Ärmlingen, Hinter-, Vorderteilen usw. geschnitten waren, legte er auf den ausgebreiteten Stoff, erweiterte oder verengte sie je nach Umständen mit Hilfe des Maßfadens, zeichnete sie mit der Kreide nach und schnitt sodann aus dem Stoffe die Teile heraus. – Das ist sehr einfach und leicht, besonders für den, der's kann; mir jedoch hat einmal einer den Spaß gesagt, ich hätte das Aufschneiden fortweg besser verstanden als das Zuschneiden. Solche Späße kosten per Elle einen Pfennig.

Der Meister übte seine Kunst stets vor meinen Augen aus, doch sagte er einmal, und zwar schon im ersten Jahre: »Wenn der Meister zuschneidet, so hat der Lehrjung auf seine eigenen Finger zu schauen, die Gesellen pfuschen den Meistern ja noch früh genug ins Handwerk. Zuschneiden ist Meisters Sache. Mein Lehrmeister hat mir's auch nicht gezeigt.«

Trotzdem habe ich bisweilen ein wenig auf des Meisters Zuschneidemuster gelugt, aber nicht so sehr ihrer Form, als vielmehr ihres Inhaltes wegen; denn die Muster waren aus alten Zeitungen geschnitten, und noch heute erinnere ich mich deutlich an den Friedensschluß von Villafranca, der auf dem Schulterzwickel einer Weiberjoppe stand.[251]

So kam es auch, daß ich einmal mit meiner Nadelspitze nach einem Rockschößlingzuschnitt hindeutete und sagte: »Das ist ein schlechtes Muster.«

Der Meister blickte mich auf dieses Wort starr an. Ich wiederholte: »Das ist ein schlechtes Muster.«

Sagte endlich mein Meister: »Das wäre mir schon auch was Neues. Seit wann meistert der Lehrbub?« – Rasch unterbrach ich ihn: »Aber so schau der Meister doch, was da drauf steht! Die neue Gewerbefreiheit.«

Er starrte das Papier an.

»Du höllischer Wisch!« murmelte er endlich und machte sein schalkhaft-lustiges Gesicht dazu, »deswegen also strauben sich alle meine Rockschößeln auf, wie ein Ferkelschwanz! Weil von dieser vertrackten Gewerbefreiheit lauter Unglück kommt! Wart' du, mich foppst nimmer!«

Und das Muster war vernichtet.

Im zweiten Lehrjahre erzählte nur eines Nachmittags, da alle Leute des Hauses draußen auf dem Felde waren und die liebe Sonne ihre Fenstertafel auf unseren Arbeitstisch legte, mein Lehrmeister von seinem Lehrmeister, der zu jener Zeit längst heimgegangen war.

»So viel kann ich dir nicht sein, Peter,« sagte er, »als mein Lehrmeister mir gewesen ist. Mir und anderen wohl auch. Zu seiner Zeit hat die Kathreiner Pfarr' noch keinen angestellten Schulmeister gehabt; so hat mein Lehrmeister gesagt, wenn die Kinder alle Tag auf ein Stündlein zu ihm ins Stübel wollten kommen, er hätte beim Nähen wohl Zeit, daß er ihnen ein wenig Lesen, Schreiben und Rechnen beibringe, so viel er halt in seiner Einfalt selber verstünde. Da sind die Kinder von der[252] Nachbarschaft in unser Häusel zusammengekommen und mein Meister hat's allemal so eingerichtet, daß zur selben Stund' nichts zuzuschneiden und nichts zu bügeln gewesen ist, so daß er beim ruhigen Nähen sich mit den Kindern hat abgeben können. Ich sehe ihn heute noch, den Meister mit seinem weißen Haar, wie er dasitzt und nadelt und dabei die Kinder unterrichtet. Und wie nach der Schul' die Kleinen der Reihe nach zu ihm hingehen und ihm ihre kleinen Hände geben und sagen: Behüt' Euch Gott und vergelt's Euch Gott! – Ja, Peter, das ist sein ganzes Schulgeld gewesen und er hat kein anderes verlangt, hat sich selber noch schier bedankt bei den Kindern, daß sie so gern zu ihm gekommen sind und fleißig gelernt haben. Ich hab' mein Lesen und Schreiben auch von ihm. Er hat mir alles getan, was er hat können, hat mir alles gegeben, was er hat gehabt, hat mir alles gelernt, was er hat gewußt. Nur eins nicht. Das Zuschneiden hat er mir nicht gezeigt; das ist nicht der Brauch und man muß den Lehrling selber witzig werden lassen. Ich hab' mich auch nicht lang' besonnen, hab' mir gedacht: ein tüchtiger Handwerker will ich werden, und in meinem zweiten Lehrjahr hab' ich schon alle Muster von meinem Lehrmeister heimlich nachgeschnitten gehabt.«

Und schon an einem der nächsten Tage nach diesem Gespräche war es, daß mich mein Meister in jenem Hause bei einer vorgerichteten Arbeit allein ließ und auf eine andere Ster zog. Er nahm stets alles mit, was man zur Arbeit bedarf, diesmal aber vergaß er seine Muster, die er nach dem Zuschneiden auf das Winkelkastel gelegt hatte. Da lagen nun die Wertpapiere, auch unbeschnittene[253] Bogen darunter, und ich – als ich sah, wie ich mit ihnen allein war – nahm sie, legte sie auf dem Tische auseinander und begann – zu lesen, was auf dem Zeitungspapiere stand. Freilich waren gerade die interessantesten Sachen mitten durchgeschnitten, aber ein halber Satz war mir lieber als gar keiner und ich stückelte ihn aus Eigenem an. Wirklich fatal war mir das nur bei einem Attentate auf den König von Italien, dessen Ausgang ich auch inne geworden wäre, wenn man damals die Frauenmieder nicht so weit ausgeschnitten getragen hätte.

Kurz, ich benützte die Gelegenheit und als später mein Lehrmeister wieder kam und die Muster in etwas verkehrter Ordnung zusammengelegt fand, schmunzelte er ein wenig.

Als ich aber im dritten Lehrjahre in Abwesenheit des Meisters für den kleinen Almjackelbuben ein Beinkleid derart verschnitt, daß es der alte, halbblinde Almjackel selber unternahm, vor meinen Augen das Höslein wieder auseinanderzutrennen, mich aber damit zu entschuldigen, daß er sagte: »Gott dem Herrn geraten nicht alle Leute und dem Schneider nicht alle Hosen« – da stellte mich denn mein Meister etwas unwirsch darüber zur Rede.

So redete ich denn und sagte, das Zuschneiden, das verstünde ich nicht.

»Warum verstehst das Zuschneiden nicht? Hosenmachen habe ich schon in meinem ersten Lehrjahr können.«

»Aber der Meister hat mir ja das Zuschneiden nicht gezeigt.«

Jetzt stützte er seinen Ellbogen aufs Knie, schaute mich mit einem säuerlichen Lächeln an und versetzte: »Also, auf[254] das Zeigen wartest du? Armer Mensch, auf solche Art wirst du's nicht weit bringen.«

»Es ist halt eine harte Sach', das Zuschneiden,« meinte ich.

»Ja, leicht ist es nicht!« rief er. »Daß du's ohne Muster nicht zuweg bringst, kann ich mir denken.«

»Aber Muster, die habe ich nicht.«

Da sagte er: »Machst dir doch so gern mit Papier zu schaffen, warum hast du mir die Muster nicht nachgeschnitten?«

Auf diese Frage antwortete ich, daß ich keine Erlaubnis dazu gehabt hätte. Jetzt tat mein Meister einen schrillen Lacher. Nichts als einen Lacher, dann war er lange still. Er nadelte scharf, daß schier der Faden pfiff. Mir wurde unheimlich. Nach einer langen Weile hielt er mit großer Gelassenheit folgende Rede: »Ich habe meiner Tag' allerlei Lehrjungen gehabt, brave und unbrave, gescheite und andere – aber so – so ehrlich wie du, ist keiner gewesen. Der Riedelberger Zenz ist zur nachtschlafenden Stund' aufgestanden und hat mir die Kleidermuster heimlich nachgeschnitten. Der kleine Simmerl hat sie mir kurzweg gestohlen; und am gescheitesten hat's noch der Tonel getrieben, der ist mit meinen Mustern abgefahren und hat mir falsche dafür zurückgelassen, mit Fleiß verschnittene Muster, daß ich alles Gewand hätte verschneidern sollen und er meine Kunden bekommen hätte. So ein Spitzbub da! Aber was wirst machen? Jeder schaut, wie er obenauf kommt und gefreuen muß es mich doch, wenn einer, der bei mir gelernt hat, ein tüchtiger Meister wird. 's ist eine recht schöne Sach' um die Redlichkeit, Peter, aber gar viel Ehre werde[255] ich mit dir nicht aufheben, das sehe ich schon. Jetzt wartet er Woch' um Woch' auf das Freiwerden und hat seinem Lehrmeister noch kein Muster gestohlen.«

Sagte das, war zornrot im Gesichte und nadelte weiter.

Heilig habe ich mir zur selbigen Stunde vorgenommen; das Versäumte demnächst nachzuholen, aber der Meister gab nun die Muster nicht mehr aus der Hand und bewahrte sie mit Sorgfalt in seiner braunen Ledertasche.

Viele Jahre später war's, als ich in den Bergen mit meinem alten Lehrmeister einen Gedächtnistag beging. Es waren zwanzig Jahre verflossen, seitdem ich an jenem 5. Juli 1860 bei ihm in die Lehre eingestanden. Wir frischten mit gutem Naß allerlei Erinnerungen auf. Da gestand mir denn der Greis, er hätte mit mir manchesmal seine liebe Not gehabt, aber wahrhaft geärgert hätte ich ihn doch nur einmal, nämlich als ich ihm keine Muster gestohlen hatte.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 249-256.
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