Bübchen, wirst du ein Rekrut!

[305] Jenen Februarmorgen vergesse ich nicht. Er war vorauszusehen und hat uns doch überrascht.

Ich war ein wenig über zwanzig Jahre alt; obwohl ich mich durchaus schon als junger Mann fühlte und auch bestrebt war, als solcher zu handeln, so gehabte ich mich doch noch immer wie ein Kind, weil ich von meinen Eltern stets als solches geachtet wurde. Ich mußte mich schon bücken, wenn ich durch die Tür ins Haus trat, und wenn ich in der Stube am Tischwinkel stand, so reichte ich mit meinem Haupte hinauf bis zu der heiligen Dreifaltigkeit an der Wand, um deren Geheimnis zu erspähen ich als Knabe so oft Stuhl und Tisch erklettert hatte. Aber die Leute riefen mich immer noch bei meinem kleinen Kosenamen, und ich hörte noch immer auf denselben – und so schlich in aller Stille jener Februarmorgen heran.

Es war ein Sonntag, an dem ich mich, von einer weiten Ster heimgekehrt, recht behaglich auszurasten gedachte. Als ich erwachte, stand in der Nähe des Bettes mein Vater, der sagte, es wäre Zeit zum Aufstehen, er hätte mit mir was zu reden.

Ich streckte mich nicht nach der Decke, sondern nach allen Seiten weit unter derselben hinaus. Ich gähnte frisch drauflos, und da der Mund schon einmal offen war, so fragte ich meinen Vater, ob ich es nicht auch liegend hören könne, was er mir zu sagen hätte.[306]

»Bist du beim Bürscherwirt z' Krieglach 'leicht was schuldig?« fragte er mich und harrte mit Spannung auf eine Antwort. Aber ich fragte meinerseits, wesweg er diese Frage stelle; was ich beim Bürscherwirt getrunken, das hätte ich allemal bezahlt.

»Hab' mir's ja auch gedacht. Nur weil der Bürscher heut' ein' Zettel schickt, der, mein' ich, dir tät' gehören.«

Er gab mir den Zettel; derselbe war grau, und ich wurde rot. Der Vater bemerkte das und sagte: »Mir kommt's vor, es steht halt doch eine Schand' drin!«

»Schand' keine,« sagte ich und wendete mein Auge nicht von den Zeilen, die zum Teile gedruckt und zum Teile geschrieben waren, »da schon eher eine Ehr'.«

Der Zettel lautete:

Vorrufung. Roßegger Peter, Haus-Nr. 18 in Alpel, im Jahre 1846 geboren, von der Gemeinde Krieglach, hat behufs seiner Militärwidmung am 14. März 1864 Vormittags 8 Uhr am Assentirungsplatze zu Bruck rein gewaschen und in gereinigter Wäsche verläßlich zu erscheinen, widrigens er als Recrutirungsflüchtling behandelt werden und sich die diesfälligen gesetzlichen Folgen zuzuschreiben haben würde.

Kindberg, den 15. Februar 1864.

Der k. k. Bezirksvorsteher

Westreicher m. p.

Los-Nr. 67.

Altersklasse I.

Jetzt war schon auch die Mutter da. Sie konnte es nicht glauben. – Wie lang tät's denn her sein, daß ich kleber (kaum) ein Halterbübl wär' gewesen. Und jetzt auf einmal Soldat![307]

»Noch ist er's nicht,« sagte mein Vater.

»Laß nur Zeit. Und schau ihn nur an. Den schicken sie dir nicht mehr heim. Maria Josef! und die Brust wachst sich jetzt auch aus. Dein schmales Brüstel ist mir allerweil mein Trost gewesen. Daß du letzt' Jahr aber gar so viel daher gewachsen bist!«

Ich war aus dem Bette gesprungen, wußte aber nicht, wie ich mich gegen den Vorwurf der trostlosen Mutter verteidigen sollte.

Mein Vater sagte zu ihr: »Sei froh, daß er gesund ist. Willst denn ein' Krüppel haben? Wär' dir das lieber, als wie ein braver, sauberer Kaiserlicher?«

»Recht hast so wohl auch, Lenzel (Lorenz); wenn ich ihn nur bei mir haben kunnt! 'letzt muß er gar noch vor den Feind. Ich darf gar nicht dran denken.« Und die Schürze vor ihr Gesicht.

»Wärst liegen blieben noch,« sagte zu mir der Vater, »hättest ja noch liegen bleiben können, wenn's dir taugt.«

Mir war nicht mehr ums Liegen. Mir war heiß in allen Gliedern. Ich hatte diese Vorrufung wohl insgeheim mit Bangen erwartet; nun sie da war, fühlte ich was Frisches in mir. Lust und Stolz empfand ich. Es hatte mich der Kaiser gerufen. Ich sprang vor die Tür, ich hätte es mögen ausschreien von Haus zu Haus, von Berg zu Berg: »Ich bin Rekrut!«

Bis zum 14. März waren noch mehrere Wochen. Die Mutter wollte, daß ich gar nicht mehr auf die Ster gehen, sondern zu Hause bleiben sollte, damit sie mich die kurze Zeit noch um sich hätte. Mein Meister, der immer gütige, er gab ihr nach. Sie verlor sich in Sinnen und[308] Plänen, wie sie mir diese Zeit, die letzte, die ich um sie sein sollte, angenehm machen könne. Sie besann sich auf all meine Lieblingsspeisen. Sie sprach die Botengeherin an, daß sie ihr rote Rüben und getrocknete Kirschen verschaffe, Dinge, die meinem Gaumen damals zur Lust gewesen sind. Sie streute den Hühnern Hafer über Hafer vor und suchte ihnen zu bedeuten, daß ihnen den ganzen nächsten Sommer über die Pflicht erlassen sei, nur jetzt in dieser großen Zeit sollten sie Eier legen, sonst wisse sie sich nicht anders zu helfen, als Kopfabhacken, denn der Kaiserliche, wenn er keine Eierspeise kriege, so esse er auch gebratene Hühner, und wären sie noch so alt und zäh; man glaube nicht, was so ein junger Mensch, der just im Soldatwerden ist, für Zähne hat!

Geliebtes Mutterherz, so heiß einst und so treu! Wie kann es möglich sein, daß du heute ein kühles Stück Erde bist! Wie strebe ich heute dir zu! Wie bitte ich dich, daß du dich von mir lieben lassest, sowie einst du mich gebeten hast. Du bist mir nun fast noch kühler, als ich damals zu dir. Ich habe nicht daran gedacht, wieviel Liebesfreudigkeit und Opfersehnsucht in den kleinen Gaben und Freuden verborgen war, die du mir bereitetest! Ich habe dich genommen, wie man den Morgenhauch, den Sonnenschein nimmt, ohne dafür zu danken.

So nahm ich damals, als die Soldatenstellung bevorstand, die Güte der Mutter ziemlich gleichgültig hin, und anstatt bei ihr zu Hause zu bleiben, ging ich zu den Nachbarn und machte Gemeinschaft mit den Burschen, welche, wie ich, die Vorrufung erhalten hatten. Es waren welche darunter, mit denen ich sonst wenig zu tun hatte – ich hielt's nicht gern mit meinen Nachbarsburschen, unsere Neigungen[309] gingen allzustark auseinander – aber das gemeinsame Schicksal führte uns nun zusammen, wir gingen miteinander um, wir zechten miteinander in den Wirtshäusern, und weil ich ganz von Zusammenhaltigkeit beseelt war, so gab ich mich nicht weniger ausgelassen als die anderen.

Jeder rauchte Tabak, und zwar jetzt nicht mehr aus den Pfeifen, sondern Zigarren, so daß die Leute mei nen sollten, der Kaiser habe seinen jungen Rekruten schon Kommißwurzen vorausgeschickt. Jeder strengte sich an, hübsch gerade und aufrecht zu gehen, es soll aber – wie ich später vernahm – etwas gespreizt herausgekommen sein. Ob jeder sein Liebchen hatte, weiß ich nicht; gewiß ist nur, daß jeder von seinem Liebchen sang. Die Lieder sind da, für Schöne und Häßliche, für Treulose und für Verlassene, für Begehrte und Heißherzige, Lieder für den täglichen Gebrauch und für besondere Anlässe. Ich sang bei jedem Liede kecklich mit, als ob ich Mädchen allerlei Gattungen besäße. Und doch war mir im geheimen bange um den Rekrutenstrauß.

Hier diene zur Belehrung, daß der Bursche, welcher zur Rekrutierung muß, von seinem Liebchen einen bunten Strauß mit Bändern auf den Hut geheftet erhält. Die Bänder sind zumeist rot und flattern – wenn die Träger gerade recht Wind machen – wie Fahnen. Die Rosen und Knospen sind meist aus gefärbter Leinwand, oder aus Papier geschnitten, sie haben den Vorteil, daß sie immer hell und frisch bleiben und nicht gleich die Köpfchen hängen lassen wie natürliche Blumen – denn das Kopfhängerische taugt bei Rekruten einmal nicht.

Nur ein grünes Stämmchen Rosmarin ist dabei, das ist die Seele des Straußes, und in diesem grünen Zweig[310] redet die Liebste zum Liebsten. Solange es die Liebste mit Rosmarin zu tun hat, ist noch Maien in der Liebe.

Von woher nun sollte ich meinen Strauß nehmen? Ein Liebchen! Ich wußte eins, aber ich hatte keins; ich hatte nie daran gedacht, wie unerläßlich für den Rekruten das Mädel ist.

Sollte ich nun – während alle anderen mit wallenden Sträußchen von hinnen zögen – sollte ich »munsad« (ohne Kopfschmuck) hintendrein trotteln? Und was nützt mich das Soldatwerden, wenn kein Mädel daheim weint?

Der Tag kam heran.

Die Mutter tat gefaßt, ja bisweilen sogar heiter, hatte aber rote Augen. Einmal ging sie zu meinem Meister und weinte ihm vor. Aber er lachte und sagte, er sehe nicht ein, worüber man sich da zu grämen hätte; der Peter brauche sich vor dem Militär gar nicht zu fürchten, der hätte die Schneiderei gelernt, der könne sogar einmal ein Zuschneider bei den Kommißschneidern werden, und da lache er alle aus. – Aber die gute Mutter wollte jetzt vom Lachen nichts sehen und nichts hören, sie blieb trostlos – es war ihr dabei verhältnismäßig am wohlsten. Sie bereitete mir die feinste Wäsche, die aufzutreiben war; es wurde aber nichts weiter von der Rekrutierung gesprochen bis zur letzten Stunde, da ich fortging, und da die Mutter mich bis nach Krieglach begleiten wolle.

»Um Gottes willen, nur das nicht!« rief ich aus; wie hätte sich das gemacht, wenn ich an Mutters Seite dahergegangen wäre, und vor uns die Burschen mit tollen Spottliedern! – Ei, das hätte sich freilich übel gemacht! So sehr des Teufels ist oft die Jugend, daß es Zeiten gibt,[311] in welchen das weichherzigste Muttersöhnchen sich seiner Eltern schämt.

»Na, na, Alte,« sagte mein Vater zu ihr, »mitgehen kannst nicht; du taugst nicht dazu, und den Buben täten sie hänseln.«

Die Mutter sagte kein Wort mehr. Sie ging, um mich nicht etwa dem Spotte der Vorüberkommenden auszusetzen, nicht einmal bis vor die Haustür mit mir. Drinnen in der Stube tauchte sie ihren Finger in das Weihbrunngefäß und machte damit ein Kreuz über mein Gesicht und eilte dann in ihre Nebenkammer. Und gutstehen will ich nicht dafür, ob ich im dunkeln Vorhause mit dem raschen Strich über die Augen nicht auch die feuchte Stelle des Kreuzzeichens ausgetilgt habe.

Beim Stockerwirt am Alpsteig kamen wir alle zusammen. Jeder hatte, wie ich geahnt, seinen Hut voll Herrlichkeiten; nur mein Haupt war glatt, wie das eines armseligen Böckleins, dem noch keine Hörner gewachsen, das mit den langen Ohren allein zufrieden sein muß. Demnach war ich noch beim ersten Glase todesunglücklich, beim zweiten fiel mir schon der Tschako ein, auf dem der Kaiseradler prangt, und der mir so sicher war, als den anderen.

Es waren saubere Kerle darunter, aber auch elendigliche Knirpse, denen die breiten Hutbänder den Höcker, den Kropf und – wenn ich ein wenig übertreiben darf – fast auch die Säbelbeinigkeiten verdecken sollten. Wo die nur ihre Mädels hergenommen hatten, daß sie zu den stolzen Sträußen kamen? Alle hatten ihre Hüte auf, nur ich hatte den meinen in einen Winkel geworfen, um den Hohn zu vermeiden.[312]

Als wir endlich aufbrachen und ich meinen Hut doch wieder hervorholen wollte, fand ich ihn nicht. Denn an seiner Stelle war ein anderer mit prächtigem Strauß und mit zwei Bändern, das eine rot und das andere weiß; und ich sah es nun, daß es doch mein Hut war, der von unbekannter Hand so glorreich zu Gnaden gekommen. – So hatte ich denn doch vielleicht ein Liebchen? Ich besann mich, aber es fiel mir keines ein, dem ich es zutrauen wollte, daß es mich, den »Traumihnit«, gern hätte. Der Stockerwirt hatte schöne Töchter, aber sie waren schon alle verheiratet. Die alte Stockerwirtin war einer Sage nach auch einmal jung gewesen, aber aus diesen Zeiten konnte der Strauß und der Rosmarinstamm doch nicht stammen.

Die alte Wirtin hatte keinen anderen Anteil an der Sache, als daß sie mir zulispelte, es wäre am Hause eine vorbeigegangen, und die hätte mir den Buschen zugeschanzt.

Nun, ich hatte ihn einmal, und er stand schöner und üppiger als wie alle der anderen. Was ich mir nun unter diesem Strauße den Kopf zerbrach! Tat aber den anderen gegenüber, als ob ich recht gut wisse, von wem ich ihn hätte, und brachte es auch so weit, daß ich selbst an eine Bestimmte dachte, glaubte und schließlich überzeugt war, welche es sei, die ich liebte. 's ist nicht zu sagen, wie sehr eine solche Gewißheit gleich mannbar macht! Ich war nun unterwegs auf der Straße der Herlebigste unter allen, und mehrere waren dabei, die sagten, sie hätten es nicht gewußt, daß der »Lenzische« (der Sohn des Lorenz) ein solcher Teufelskerl sei. Des habe ich mir nicht wenig eingebildet.

Einer der unzähligen Späße war, daß wir in Krieglach »den Eisenbahnzug zum Stehen« brachten. Wir[313] stellten uns vor der Bahnstation auf und riefen dem einfahrenden Zug ein gellendes: »Halt, stehenbleiben!« zu. Blieb er denn stehen, und wir stiegen lachend ein. Immer ging's so harmlos nicht ab.

Als wir schon auf der Eisenbahn saßen – der Gemeindevorstand in Krieglach hatte uns das Fahrgeld angewiesen, welches, wie wir glaubten, geradeswegs vom Kaiser geschickt kam – warf einer von uns, der Zedelzenz, den Vorschlag auf, wir sollten einmal all unsere Rosmarinsträuße untersuchen; wessen Stamm ins Welken übergehe, der sei zu öftest im Arm der Liebsten gewesen. – Und da stellte es sich heraus, daß der grüne Zweig auf meinem Hute sich ein wenig weich an die roten Leinwandblumen schmiegte. Mich versetzte das innerlich in neue Unruhe. Sollte denn dieser Rosmarinbusch mehr von ihr und von mir wissen, als ich selber?

»Ja, ganz selbstverständlich!« lachte ich auf.

Aber, statt damit Achtung zu erzielen, zog ich mir Spott zu. Sie sprachen von Wiegenholzführen. – Wen das was anginge? fragte ich schneidig, wem's nicht recht wäre, der solle nur hergehen! – Denn mir war es eingefallen, ein echter Rekrut dürfe sich nichts gefallen lassen, müsse wild werden können und einen Raufhandel anheben. Und so polterte ich, bis ich mich wirklich in den treuherzigsten Zorn hineingepoltert hatte, mit den Füßen stampfte, mit den Armen herumfocht und glücklich eine Fensterscheibe zertrümmerte.

Jetzt war der Kondukteur da: Welcher das Glas zerschlagen hätte?

»Der Lenzisch!« krähte einer, »der Schneider!« Aber[314] die anderen schrien, es wäre nicht wahr, und es würde nicht gesagt, wer es getan hätte.

»Von euch brauch' ich keine Vertuscherei!« fuhr ich drein, »ich hab' die Scheiben zertrümmert, was kostet der Bettel?«

»Das wollen wir in Bruck miteinander abmachen,« entgegnete der Kondukteur, »wirst schon zahm werden, Bursch', beim Militär.«

– Jetzt, dachte ich bei mir, Lenzischer, jetzt bist Soldat. Hierauf soll ich ruhig geworden sein, als hätte mich die Winterluft, die durch das zerbrochene Fenster strich, hübsch abgekühlt.

Auf dem Bahnhofe in Bruck war von der Glasscheibe keine Rede mehr, und als wir die Stadt durchjohlten, schlang ich meine Arme um die Nacken meiner Nebengehenden und fühlte Dankbarkeit, daß sie mich als Täter hatten in Schutz nehmen wollen.

Von den Fenstern der Häuser schauten Stadtfräulein auf unser tolles Treiben herab, und wir waren überzeugt, daß sie alle in uns verliebt sein müßten, je ungebärdiger wir taten und je wilder unsere Hutbänder flogen. Wir hatten ein bißchen Ahnung davon, daß so ein vor Trotz und Übermut wiehernder Bauernbursch' aus dem Gebirge, der als Ritter des Vaterlandes ausmarschiert, auch für das Stadtweibervolk immerhin ein kleines Begehr hat.

Schon von Korporälen geleitet, zogen wir auf der anderen Seite wieder zur Stadt hinaus und einem alleinstehenden Gebäude zu. Da hinein. Jedem von uns war ein wenig wirr, keiner wußte, als was er wieder aus diesem Hause gehen würde. Hier in der Stadt sah sich das Soldatenleben nicht mehr ganz so glorreich an, als[315] daheim in den Wäldern. Die meisten von uns – die wir sonst nicht die Frömmsten waren – seufzten, als wir die Stiege hinanpolterten, ein »in Gottesnamen!«

Wir kamen in einen großen Saal, der fast Ähnlichkeit mit einer Scheune hatte, und wo schon über hundert junge Männer versammelt waren, so daß es ein Gesurre und Durcheinanderhuschen und einen seltsamen Anblick gab. Einige hüpften und sprangen, des Galgenhumors voll, in bloßen Strümpfen oder barfuß drüber und drunter; andere banden ihre Kleider zusammen und setzten sich auf die Bündel und waren todestraurig. Wieder andere lehnten und standen an den Wänden herum wie geschnitzte Heilige, und der Angstschweiß stand ihnen auf der Stirne. Gerade von den Zwergen und Krüppeln könnte man sagen, daß ihnen das Herz am tiefsten in die Hosen gefallen wäre, wenn sie noch welche angehabt hätten.

Ich ging im Saale herum, meinte es mit jedem gut, wollte aber mit keinem reden; sie wunderten sich, daß ich so gleichgültig sein konnte; von der großen Aufregung, die in mir war, habe ich nichts merken lassen.

Plötzlich wurde die Eingangstür geschlossen, so daß einer murmelte: »Schaut's, jetzt ist die Fuchsfallen zugeschnappt!« Dafür ging eine gegenüberliegende Tür auf, ein paar Soldaten – das waren aber schon fix und fertige – stiegen unter uns um und beförderten einen um den anderen durch die Tür in den inneren Raum. Die meisten schritten übrigens recht tapfer durch die verhängnisvolle Pforte. Wir waren numeriert. Damit an einer und derselben Altersklasse in der Reihenfolge der Vorrufung keine Willkürlichkeit herrschen konnte (dieweilen es für den Rekruten gewöhnlich vorteilhaft ist, einer der[316] Letzten zu sein), so wird die Reihenfolge einige Wochen früher stets durch das Los bestimmt, welches jeder Stellungspflichtige persönlich ziehen oder durch beliebige Personen ziehen lassen kann. Für mich hatte der Krieglacher Vorstand gezogen, und zwar die günstige Nummer 67.

Die Nummern bis 60 hinauf kehrten fast zur Hälfte nicht wieder. Ein Feldwebel holte ihre Kleider. Wir wußten, was das zu bedeuten hatte. Die aber zurückkehrten, brachten ein um so vergnüglicheres Gesicht mit, kleideten sich so rasch als möglich an oder nahmen aus Furcht, daß es die Herren drinnen gar noch reuen könne, sie laufen gelassen zu haben, eilig die Kleider unter den Arm und entschlüpften durch irgendein Loch davon.

Von Nummer 51 bis 65 kehrte jeder zurück. Die Nummer 66 erschien nicht mehr; der Feldwebel kam um ihren Anzug. So wurde endlich nach Nummer 67 gerufen. Ich schritt mit möglicher Gemessenheit – eher zu schnell als zu langsam – in die Löwenhöhle.

Was war denn da Besonderes? Drei oder vier Herren in schwarzen Röcken mit funkelnden Knöpfen, silbernen Halskrägen, Säbeln und Schnurrbärten. Zigarren rauchten sie. Mein erster Gedanke war, ob sie nicht durch ein höfliches »Guten Morgen« zu bestechen wären. Aber ich hatte von meinen Vordermännern gehört, daß die Herren auf solchen Gruß gar nicht gedankt hätten; wir waren nichts als eine Sache, und wer wird denn mit einer Nummer 67 Gruß tauschen? Ich biß also die Zähne zusammen und schwieg und warf den trotzigsten meiner Blicke vor mich hin.

Sofort wurde ich an eine aufrechtstehende Stange gestellt. Einer der Offiziere schob mit sachtem Händedruck[317] die Brust hervor, die Knie zurück und sagte: »Vierundsechzig ein halb!«

Ein anderer schien das aufzuschreiben.

»Brust frisch; Muskeln bildungsfähig.«

»Noch ein Jahr laufen lassen,« sagte ein anderer.

»Geh' und zieh' dich an!«

Das war der ganze Vorgang. Ich wußte kaum, wie ich wieder in den Vorsaal gekommen war. Beim Ausgang an der Treppe hielten die wachehabenden Soldaten das Bajonett vor den Weg; das ist eine Bitte an die Glücklichen um Trinkgeld. Es bedürfte des Bajonettes nicht, jeder gibt: ist es doch der Moment, in welchem er aus dem verhängnisvollen Hause und seinen oft harten Folgen wieder in die liebe Heimat zurückkehren darf.

Die »Gebliebenen« durften zumeist auch noch ein mal heimgehen und dort die Einrückung abwarten; aber erst werden sie in Gewahrsam gehalten, bis die Herren mit der Assentierung fertig sind; dann werden sie zu den Regimentern eingeteilt und haben den Fahneneid zu leisten, und nun sind sie – Soldaten.

Wir erwarteten sie in den Wirtshäusern von Bruck, sie wurden mit lauten Geschrei empfangen, und sie wurden gefeiert mit Wein und Gesang, und wenn mancher der »Behaltenen« ins Brüten wollte versinken darüber, daß er heute sein heiteres Jugendleben in den grünen Bergen verloren und nun fortmarschieren soll vielleicht in ein fremdes Land, vielleicht aufs weite Feld, und daß er – er lebte so gern wie die anderen – sein junges Blut soll einsetzen: so weckte ihn das Gejohle der Zechgenossen immer wieder zu neuer Wirtshauslust, und endlich war in allen eine Stimmung, als wäre bloß dieser eine Tag,[318] aber er hätte kein Ende, er versinke nur in die Nacht und die Nacht in Wein.

Doch es kommen und vergehen die Stunden, und es kommen und vergehen die Räusche. Am anderen Tage sonderten wir uns, und nach Krieglach-Alpel ging, was nach Krieglach-Alpel gehörte. Aus unserem Schocke waren zwei Mann zu Soldaten geworden: ein blutarmer, aber bildschöner Kohlenbrennerssohn und ein Bauernknecht. Der Bauernknecht stellte sich lustig und fast ausgelassen und wollte mit manchem Straßenwanderer, der uns begegnete, Händel anfangen. Der Kohlenbrennerssohn war traurig. Wir wußten nicht, was denn er durch das Soldatenleben verlor, er wußte es auch nicht – er schaute die hohen Berge an und die Waldbäume...

Um so mehr sorgten wir anderen und die Wirtshäuser am Wege, daß die tolle Rekrutenlust nicht entschlafe. Auch in Bauernhöfe sprachen wir zu um einen Trunk. Den Strauß und die Bänder sollte nach der Väter Sitte nur der als Soldat zurückkehrende Rekrut auf dem Hute behalten. Wir aber machten es anders, wir behielten alle die Sträuße auf, um damit um so mehr Aufsehen zu erzielen.

»Schau, schau, 's wird 'leicht wohl Krieg werden,« meinte manch ein Bäuerlein, »weil sie jetzund alle behalten – gleich alle nach der Reih' her. Wird wohl wahr sein, was die alten Leut' haben gesagt, daß die Weibsleute um den Stuhl raufen werden, auf dem einmal ein Manneder ist gesessen.«

Hinter dem Dorfe Freßnitz erreichten wir einen Bettelmann, der seinen Leierkasten auf dem Rücken trug. Sogleich forderte ihm einer den Drehhebel ab, und während ein zweiter den Alten voranführte wie ein Zaumroß,[319] werkelte ein dritter auf dem Rücken des Bettelmannes alle Weisen, die im Kasten staken, und wir übrigen tanzten und hüpften auf der gefrorenen Straße. Solchen Aufzuges kamen wir nach Krieglach, wo wir unser musikalisches Gespann ins Wirtshaus mitnahmen. Der Alte war gar sehr vergnüglich und versicherte uns, daß wir Engel von Rekruten wären gegen jene zu seiner Zeit. Er hätte es auch getrieben, und wenn sie einmal einen Bauer, der im Wagen saß und sich von seinem Esel den Berg hinanziehen ließ, an die Deichsel gespannt und dafür den Esel in den Wagen gesetzt hätten, so wäre das noch nicht das Keckste gewesen. Er ließ uns leben und pries die alte Zeit.

Über den Alpsteig hin wurde viel gesungen. Ich möchte die Lieder nicht wiedergeben; wir sangen uns warm, wir sangen uns heiser. Als uns an der oberen Reide eine Hausiererin, die Eiermirzel aus dem Jackellande, begegnete, welche im Korb die Dingelchen, von denen der Volksmund singt: »'s ist ein länglichrund Kastel, hat kein Türl und kein Astel, ist eine Kaiserspeis' drein«, nach Mürzzuschlag trug, kam mir das Wort aus: »Lene (weiche) Eier wären gut gegen die Heiserkeit!«

»Das werden wir aber gleich sehen!« riefen die anderen, nahmen dem Weibe den Korb ab und tranken ihre sämtlichen Eier aus. Der Köhlerssohn trank auch mit – ich ebenfalls.

Die Eiermirzel konnte in ihrer Entrüstung sonst kein Wort hervorbringen, als: »Ihr seid's Lumpen!«

»Das macht nichts,« antwortete ihr der Zedelzenz, »wenn wir einmal Geld haben, zahlen wir.«

Sie kehrte nun mit ihrem leeren Korbe um und äußerte brummend ihre verschiedenen Ansichten über uns[320] und unser Gehaben. Wir huben wieder an zu singen, und die Eier taten ihre Schuldigkeit.

Beim Stockerwirt ließen wir's noch einmal toll übergehen. Ich unterließ es nicht, hier neuerdings nach der Straußspenderin zu forschen, und war fest entschlossen, dieses Mädchen, wann und wo ich es auch ergriffe, mit ganzer Herzensseligkeit zu lieben.

Die alte Wirtin zwinkerte vielsagend mit den kleinen Äuglein, aber näheres habe ich bei ihr nicht erfahren.

Vor dem Wirtshause trennten wir Burschen uns in dem unerschütterlichen Bewußtsein, nach diesen Tagen der Gemeinsamkeit uns gegenseitig die zusammenhaltigsten Kameraden zu bleiben. Für den Tag, wenn die beiden Gebliebenen fort müßten, wurde noch ein Abschiedsfest beim Stockerwirt bestimmt. Nach verrauschter Lust fast öde war es in meinem Innern, als ich hinausging gegen mein Heimatshaus. Zu jedem Fenster sah schon ein lachender Kopf auf mich heraus. Der Vater ging mir langsam entgegen und schlug mir mit dem Arm den Hut vom Kopf, daß die Bänder rauschten im hartgefrorenen Schnee.

Ich wußte im ersten Augenblicke nicht, was das zu bedeuten hätte, aber mein Vater ließ mich hierüber nicht lange im ungewissen.

»Macht dir das nichts,« sagte er, »daß du mit einer brennroten Lug auf dem Hut heimkommst? Von wem du den Besen hast, davon werden wir später noch reden. Jetzt frag' ich dich nur, wieso du deiner Mutter das antun kannst? Wie hart ihr ums Herz ist in der Angst, daß sie ein Kind kunnt verlieren, das weißt du hundsjunger Laff freilich nicht. Aber daß du uns so hättest erschrecken mögen! Von dir hätt' ich's nicht vermeint. Wenn nicht[321] just die Eiermirzel gottsgeschickt daher kommt, so hättest du mit deinem verdanktleten Buschen eine saubere Geschicht aufheben können. Wo die Mutter eh' alleweil kränklich ist!«

Ich zitterte am ganzen Leib. Der Rekrutendusel war weg, ich sah plötzlich meine Niedertracht. Mein Herz tat einen Schrei nach der Mutter. Und dieselbe Eiermirzel, die wir auf der Straße – ich sage den rechten Namen – ausgeplündert hatten, war in ihrer Gutmütigkeit vorausgelaufen, um den Meinen, von denen sie manche kleine Wohltaten empfangen hatte, zu sagen, daß sie sich vor dem Soldatenstrauß, mit dem ich wahrscheinlich heimkommen würde, nicht erschrecken möchten, ich wäre glücklich davongekommen.

Der freudvolle Händedruck der Mutter vergrößerte noch meine Zerknirschung. Da hielt mir schon der Vater den Strauß vor die Nase: »Und jetzt, Bub, mußt wohl so gut sein und mir sagen, woher du das schöne Geblümel hast! Ziehst mir gar schon etwa mit einer um? Das muß ich wissen!«

So Vieles und Süßes von hübschen Dirndln ich in mir dachte, so gern ich davon mit meinesgleichen sprach, vor dem Vater sah das Ding anders aus.

Ich versicherte, daß ich noch mit keiner umziehe und daß ich nicht wisse, wer mir den Strauß gegeben hätte. Er lachte auf, dann fuhr er mich zornig an, von wegen »der dummen Keckheit, ihm so was vorlügen zu wollen«.

Die Mutter kam dazwischen und sagte, man könne froh sein, daß ich wieder daheim wäre, und man solle mich nicht erst hart schelten.

»Du machst ihn in seiner Schlechtigkeit noch stark?«[322] rief er, »wenn er mir hell ins Gesicht lügt. Oder ist dir so ein Halbnarr schon vorgekommen, der nicht weiß, von wem er den Buschen auf dem Hut hat?«

»Jetzt muß ich lachen auch noch,« sagte die Mutter, »dasmal kann's der Bub' freilich nicht wissen, weil ich selber ihm den Strauß heimlich auf den Hut stecken hab' lassen, daß er doch auch was Färbig's haben soll, wie die anderen.«

Heimlich hat sie's getan, weil sie wohl geahnt, ihr Sohn verlange nach fremden Rosen und könne die Spende der Mutter verschmähen. Sie hat ihm seine Undankbarkeit schon im vorhinein verziehen. – Und der heimkehrende Sohn hätte sie mit demselben Strauß zu Tode erschrecken können!

Daß die Kinder nur immer so ins Weite und ins Fremde streben, nach Liebe hungern und nach Liebe haschen, die sie doch so rein und reich und unendlich nimmer finden, als daheim an der ewigen Liebe Quell – am Mutterherzen!

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 305-323.
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