Der Prediger in der Wüste.

[108] Zur Zeit dieses Schneiders war ich selbst eigentlich noch keiner. Das macht aber nichts. Das Kapitel gehört doch ins Buch. Der »Predigende« gehört so gut wie der »Aufschneider«, der »Heiratslustige« und der »Philosoph« in meine kleine Galerie der Schneideroriginale. Also herein mit ihm.

Das Tal mit seinen hundertzwanzig Einwohnern – ich machte das zehnte Dutzend voll – war wie ein Kloster. Wir hatten zwar nicht einmal eine Kirche; dafür bekränzten wir zur Sommerszeit die hölzernen Kruzifixe, die vor den Häusern und an Wegscheiden standen, und wir verrichteten zu den Sonnabenden davor unsere Andachten, und was die Hauptsache war, wir führten alle Hundertzwanzig ein sehr eingezogenes Leben. Strenge Arbeit und magere Nahrung täten die weltliche Begier in uns ersticken und uns mit Eifer den Himmel wünschen lassen, wo man nichts arbeitet, wohl aber gut ißt und trinkt und alles haben kann, was das Herz verlangt. Aber der Himmel ist ohne Frommsein nicht zu erlangen – daher wußten wir alle, was wir zu tun hatten. Freilich gab es Stunden, in denen uns jüngeren Leuten die Erde lieber war als der Himmel. Solch weltlichem Sinne wurde wacker entgegengewirkt.

Ein alter Schneider lebte in Fischbach, der hielt zuweilen Predigten, weswegen sie ihn auch den predigenden[109] Schneider hießen. Er hatte seinerzeit der Jesuitenmission beigewohnt, und seither ging ihm das Leutebekehren nicht mehr aus dem Kopfe. Er hatte Rednertalent in sich entdeckt; hatte anfangs dasselbe geübt, wenn er allein in der Werkstatt saß und später auf dem Oberboden seines Häuschens, oder draußen im Erlenbusch. Schriftgelehrt war der Meister von jeher gewesen und gewandt in der Auslegung der Bibel.

Als in späteren Tagen seine Augen so trübe geworden waren, daß er mit der Fadenspitze das Nadelöhr nicht mehr traf, sich hingegen seine Rednergabe mächtig entfaltet hatte, fühlte er sich erkoren, den Fischbacher- und Alpelbauern ein Apostel des Heiles zu werden. Er ging eines Tages höher in die Wildnis der Berge hinauf, kehrte jedoch nach sehr kurzer Zeit wieder zurück und begann sein Predigeramt.

Er war nun fast blind an seinen leiblichen Augen, hatte indes ein geistiges Gesicht; er sah den Himmel offen, ja bisweilen, wenn er an etwas Ärgernis nahm, auch die Hölle. Er sah die ganze Ewigkeit, die wir anderen uns nicht einmal genau zu denken vermochten, in leibhaftiger Gestalt. Er hat mir, seinem besonderen Liebling, die Sache einmal durchgreifend erklärt. Ich weiß nicht bestimmt, ob ich die Darstellung des blinden Sehers recht aufgefaßt habe, ich erinnere mich nur, daß ich mir die Ewigkeit gedacht hatte als einen weiten und sehr langen Stollen in die Erde hinein, welcher mit roten Wachskerzen beleuchtet ist, und in welchem die Seelen der Abgeschiedenen in Leichentüchern dahinwandeln. Wie lang dieser Stollen eigentlich ist, davon hatte der alte Schneider folgendes Bild.[110]

»Wenn,« sagte er, »die ganze Weltkugel ein Zwirnknäuel von feinstem Zwirn wäre und es tät' einer kommen, den Faden abwickeln und damit die Ewigkeit messen, so wäre, meine lieben Christen, der Maßfaden viel zu kurz!«

Ein solcher Redner mußte selbstverständlich großen Anhang gewinnen. Und so oft es hieß: »Heut' predigt der Schneider wieder!« versammelten sich des Abends die Leute in seinem Häuschen.

Ich war dabei stets einer der eifrigsten Predigtbesucher, war auch schon baß so hoch emporgewachsen, daß ich in der vollgedrängten Stube meinen Vormännern über die Achseln lugen konnte und hatte nur darauf zu achten, daß mir keiner auf die Zehen trete. Gern stellte ich mich daher zu Nachbarn, die – wie ich – keine Schuhe anhatten, und so konnte ich meine volle Aufmerksamkeit dem Prediger zuwenden.

Anfangs, wenn wir in die Stube traten, war der Schneider stets abwesend; doch hörten wir auf dem Dachboden über der Stube ein Murmeln, Seufzen und Ächzen, ein Pfustern und Räuspern, da wußten wir schon, daß der Mann in seiner Vorbereitung, oder gar in einer Verzückung war. Unsere anfangs lauten, zumeist weltlichen Gespräche wurden immer leiser, und allmählich zog ein anderer Geist ein in unsere Seelen.

Endlich stieg er die Sprossenleiter nieder. Es war, so viel man da sah, eine Knochenfigur zum Erbarmen. Das klapperte nur so, bis das Männchen herunten auf dem Boden stand.

Hierauf schritt der Schneider zum Tische hin und stieg dort auf einen Schemel. Dann legte er seine Arme kreuzweise über die Brust, schloß die Augen und[111] stand so etliche Minuten unbeweglich da. Sein Haupt war fast kahl, seine Backen waren glatt rasiert; einen schwarzen Überrock hatte er um sich geschlagen, um das priesterliche Ansehen herzustellen, aber mir – ich konnte nichts dafür – fiel es ein: »Du schaust halt doch aus, wie ein zaundürrer Schneider.« Ich sandte sofort ein Stoßgebet zum Himmel, daß der mich vor ähnlichen lasterhaften Gedanken bewahren möge, denn des war ich überzeugt: der Schneider ist ein heiliger Mann.

Bevor er noch die Augen öffnete, tat er den Mund auf und hub an mit langsamer und dumpfer Stimme, wahrscheinlich nach einer Erinnerung von der Jesuitenmission, so zu reden: »Der ewige Herrgott hat mich zu euch gesandt. Der ewige Herrgott schickt durch mich sein heiliges Kreuz, seine drei Nägel, seine blutige Kron'. Das Evangeli ist geschrieben mit rosenrotem Gottesblut. Tut die Ohren auf, denn so spricht der Herr.«

Und hierauf begann er seine Predigt, die sich je nach einem Festtag, nach der Jahreszeit, nach irgendeinem Ereignis, nach dem Stande der Zuhörer, oder auch wohl nach seiner persönlichen Laune richtete.

Die Zuhörer schluchzten oder licherten dabei; ich war stets tief versunken in den Vortrag, denn – und das dachte ich nicht damals, das schreibe ich heute – wenn die Gedanken des Redners auch noch so verrückt, es waren immerhin Gedanken und insofern bei uns daheim ein rares Ding. Die phantastischen Bilder, die der Schneider als Beispiele dreingab, habe ich seither mehrmals auf alten Gemälden vom guten Höllenbreughel wieder gefunden.

Mit uns Alpelleuten war der Meister Brotschimmel[112] – so hieß er, hat's auch im Testament nicht verboten, seinen Namen zu nennen-im ganzen recht zufrieden; nur ein klein bißchen zu viel fluchen täten wir. In Erwägung jedoch, daß das Fluchen dem Älpler im Geblüte liege, daß wir dieses Laster also unser Lebtag nicht lassen würden, empfahl er uns, die gottlosen Ausdrücke wenigstens in etwas umzumodeln und dadurch zu mildern. So sollten wir z.B. anstatt »sackra« sickra sagen, anstatt »Teufel« Teuxel, anstatt »verflucht« verflixt, anstatt »verdammt« verdangelt oder verdankt ausrufen; und das »Himmelsherrgottkreuzdonnerwetter« sollten wir ganz dem lieben Gott überlassen, da wir es ohnehin nicht zu handhaben wüßten.

Die Fluchreformen sind richtig durchgeführt worden, und kein Mensch in Alpel wird heutzutage in einem gelinden Zorn noch das heilige Wort »Kruzifix« ausstoßen, sondern stets »Kruzitürken« oder »Kruziadaxl« rufen. Nur in Momenten höchster Wut greifen die Leutchen noch zu ihren hagebüchenen Ausdrücken zurück.

Das waren indes so ziemlich die ganzen Erfolge der Mission des Meisters Brotschimmel. Auch neue Gebete und Litaneien wollte er aufbringen; da unterbrach ihn ein rußiger Kohlenmann heftig, wir hätten an den alten genug.

Der Schneider predigte anfangs selten, später jedoch wöchentlich ein- oder zweimal. Bisweilen geschah es, daß irgendein Fremder, der zufällig im Tale anwesend war, sich ins Häuschen des Meisters einschlich, um aus Neugierde und Fürwitz den seltsamen Apostel zu hören. Das war stets vergebens, der Schneider merkte nur allzubald den Bock unter den Schafen und predigte nicht.[113]

Einmal kamen drei Ingenieure in die Gegend, um auszumessen. Wir alle miteinander hatten nicht viel Vertrauen zu diesen Leuten und meinten, daß sie unseren Grund und Boden messen und schätzen, bedeute nichts Gutes. Aber es ging an, die Herren brachten Geld in die Gegend. Mich, den halberwachsenen Jungen, pachteten sie bei meinem Vater für sechs Tage um zehn Gulden, daß ich ihnen die Werkzeuge mit herumtrüge und auf den Wipfeln der Bäume schneeweiße Holztäfelchen befestige.

Es waren eigentlich ganz verrückte Arbeiten, die sie trieben. Da gingen sie herum, wo gar keine Wege und Stege waren, steckten ohne allen Anlaß Fahnen und bunte Tafeln auf die Bäume und auf die Bergspitzen, schlugen Tische auf mitten im Weideplan, und aßen doch nichts drauf; durch lange Röhren guckten sie, mit Stäben zielten sie, als wollten sie schießen, mit den Zirkeln tanzten sie auf dem Papier herum, schrieben allerlei Ziffern und Buchstaben dazu, und des Abends, wenn sie ins Haus zurückgekehrt waren, wußten sie die Höhe und Breite der Berge.

Diese Art zu messen kam auch zu den Ohren des Schneiders, der sonst gewohnt war, mit dem Faden ängstlich alle Körperteile seiner Kunden zu prüfen und trotzdem die Hosen und Joppen zu verschneidern.

»Sickra, sickra!« rief er eines Tages in seiner Predigt, »diese Ausmesser, das sind Teuxelsleut'! Jetzt rechnen sie dem Herrgott seine Welt schon vor; aber Geduld! Wie sie ausmessen, so wird ihnen eingemessen werden!«

Was Wunder, daß die Ingenieure, die alles Gute und Merkwürdige in der Gegend auskundschafteten, endlich[114] auch den Wunsch hegten, unseren Prediger zu hören. Der Mann war nach und nach vollständig erblindet, und so konnte ich, als der Führer der Herren, es wagen, sie eines Abends in das Schneiderhäuschen einzuschmuggeln. Doch siehe, schon in seiner Einleitung stockte der Prediger, bald unterbrach er sich und sagte laut:

»Heut' sind fremde Leut' da!«

»Beileib' nicht, Meister, beileib' nicht!« beteuerte ein alter Knecht.

»Du!« drohte der Schneider, »der Teuxel wird dir glühende Kohlen in den Mund stecken für deine Lug'! – Stadtleut' schmeck' (rieche) ich!«

Leider waren die Fremdlinge so unvorsichtig gewesen, beim Eintritte ihre Zigarren nicht gleich auszulöschen! So war dem Blinden ihre Anwesenheit kund und die Predigt unterblieb.

Von dieser Zeit an war Meister Brotschimmel vorsichtiger. Er hatte ein junges Mädchen, armer Leute Kind, ins Haus genommen, das er nach seinen Grundsätzen zu erziehen und vor den Fallstricken der Welt zu bewahren trachtete. Das Mädchen – Marianne Schober ließ es sich schreiben – war gar eingezogen und sittsam. Die Marianne nun mußte immer vor den Predigten an der Tür stehen und jeden zurückweisen, der ihr nicht als Einwohner unseres Tales bekannt war.

Ich war mit dem Mädchen schon früher ein wenig vertraut worden. Wir waren bei der Predigt häufig nebeneinander gestanden, weil es, wie ich, keine Schuhe trug. Das eine Mal nun hatte ich – zufällig – die Marianne auf die Zehen getreten; das andere Mal war ihr Pfötlein auf das meine gestiegen; und so hatten, während[115] wir oben den Worten des Propheten lauschten, unten unsere Zehen miteinander Bekanntschaft gemacht. – Später nähte mir Marianne einmal während der Predigt ein am Halse herausgesprungenes Hemdhäkchen ein; und ich guckte mir dabei ihre seinen, salben Locken und ihre blauen Augen etwas näher an. – Ich freute mich stets die ganze Woche auf die Erbauungsstunde beim Meister Brotschimmel und gab mir bei solchen hierauf öfters Mühe, das Hemdhäkchen wieder herauszusprengen.

Mein jüngerer Bruder ging auch mit Vorliebe zur Schneiderspredigt. Derselbe hatte hinter dem Kachelofen sein Winkelchen und konnte dort eine ganze Stunde lang seinen Übungen obliegen. Er »lernte« damals nämlich just das Tabakrauchen, was daheim streng verpönt war. Da in der Predigt auch andere schmauchten und der Vater selten anwesend war, so kann man sich die Vorteile meines jüngeren Bruders wohl denken.

Eine Besonderheit war es, daß die älteren Leute des Tales sich den Vorträgen des blinden Schneiders allmählich entzogen. – »Wir wissen's ja schon, was er sagt,« meinte einer der Ältesten, »und täten in der engen Stube anderen nur den Platz wegstehlen; den jungen Leuten tut es 'leicht nöter, als uns, daß sie fleißig in die Predigt gehen.«

So sind wir junge Leute denn weiter verhalten worden, an den stillen Feierabenden ins Schneiderhäuschen zu wandern, um dort das Gotteswort zu vernehmen. Als der Prediger wußte, seine Zuhörerschaft bestünde zumeist aus jungem Volke, dem das Blut erst warm zu werden beginne, da zog er andere Saiten auf. Wir hörten manch[116] Erfreuliches von heiligen Jünglingen und Jungfrauen, aber auch allerlei Seltsames von den Begierden und Anfechtungen des Fleisches, von den höllischen Werkzeugen, womit die Gefallenen gezwickt, gekratzt, geschunden, geschmort, zerstückt und auf alle erdenkliche Weise gepeinigt werden.

Doch der Mensch wird alles gewohnt; bald verloren die Vorträge jegliche Wirkung. Wir ergötzten uns im stillen nach unserem eigenen Geschmacke.

Die Predigt begann stets um sechs Uhr.

Es war dem Schneider ein Gesetz, die Lehre mußte eine Stunde währen, denn so lange hatten auch die Missionäre gesprochen. Zum Stundenschlag sieben aber wurde der Vortrag plötzlich mit einem kräftigen Amen abgehackt.

Und eines fröhlichen Samstagabends im Frühherbste gingen wir wieder ins Haus des blinden Schneiders zum Unterrichte. Da traf es sich, daß wir Zuhörer aus lauter jungen Leuten bestanden, aus Burschen und Mädchen von zwölf bis fünfundzwanzig Jahren, wovon nur das Bachreutermaidle mit ihren dreiundfünfzig Jahresringen um die Augen eine schöne Ausnahme machte.

Das Bachreutermaidle hinderte uns aber gar nicht, im Gegenteile, wir waren froh, daß wir es unter uns hatten, denn, wo das dabei war, da gab es unterschiedliche Schwänke und Possen allerwege. Wenn den tollsten Jungen nichts übermütiges mehr einfiel, so war gewiß noch das Bachreutermaidle die Anstifterin irgendeiner Schalkheit, eines ausgelassenen Stückchens. Wie ein Bub konnte es springen und johlen und balgen, das Maidle; wenn es aber still war und seinen kurzen Hals einzog[117] zwischen die hohen, spitzigen Schultern – da gab's gar noch das Ärgste zu fürchten oder zu hoffen – da kam sicher bald ein rechtes Schelmenstück heraus.

Es war bislang ohne Mann geblieben, das Maidle, und die Talbewohner rieten schier, es sei bei der Taufe desselben eine Irrung geschehen und das ganze Tal um ein Bachreuterbüble betrogen worden. Das Maidle hielt sich so brav, daß niemand von der Haltlosigkeit obiger Annahme überzeugt war. Nun freilich hatte es schon die Runzelchen und etliche graue Haare, aber der Possenreißer in ihm war jung geblieben.

Dieses Maidle hatten wir Jungen unter uns, als an jenem Samstagabend der Schneider zu predigen anhub. Ich, als einer der zuletzt Erscheinenden, hatte meine barfüßige Pförtnerin mit in die Stube genommen und mich mit ihr auf ein Bänklein gesetzt, unter welchem die Hühnersteige war. Die Hühner saßen schon geruhsam auf ihren Stangen, nur der Hahn schlug bisweilen noch eins mit den Flügeln. Auf der Ofenbank, auf dem Gesiedel und in anderen Winkeln saßen andere, wie sie sich eben beliebig gesellt hatten. Etliche Jungen dampften aus Tabakspfeifen; andere strichen sich mit Kohlen Schnurrbärte an; wieder andere schnitten allerlei Gesichter und drehten dem Schneider Nasen. Der Schneider aber stand auf seinem Schemel und predigte. Er predigte von der Tugend der Abtötung. Er führte alle Heiligen an, die sich kasteit, gegeißelt, mit härenen Kleidern gekratzt, ausgehungert und auf alle andere, oft unsaghafte Weise gepeinigt hatten. – Und die Jungen drehten dem Prediger Nasen, oder kauerten in einer Ecke und spielten Karten. Und einer war dabei, der schrieb Spottliedchen[118] auf den Schneider und verteilte die Papierstreifen. Eines derselben lautete:


»Der Schneider, der Schneider.

Wie ein Zahnbrecher schreit er,

Und Maidle in der Still'

Tut doch, was sie will!«


Ein anderes, das mir noch in Erinnerung:


»Der Schneider Brotschimmel

Fährt heut' noch in Himmel,

Morgen ist's zu spat,

Weil ihn der Teufel g'holt hat.«


Natürlich geschah das alles in gehöriger Ruhe, denn diese Gelegenheit, in Gemeinschaft Hallodria zu treiben, durfte für heute und die Zukunft nicht verscherzt werden.

Am trautsamsten selbstverständlich ging es dort zu, wo sich zu Maid und Bursch' die Pärchen versammelt hatten.

Zu solcher Stunde nun, es mochte dreiviertel auf sieben, und die Auflösung der Gesellschaft also nahe sein, schlich das Bachreutermaidle auf Zehenspitzen zur Schwarzwälderuhr hin und häkelte von der Schlagwerkschnur den Gewichtklumpen ab. Die Uhr tickte wie vor und eh' und das Maidle huschte auf seinen Platz zurück und tat sein andächtig horchen auf die Predigt, insgeheim frohlockend über die Wohltat, die sie der ganzen Gesellschaft erwiesen hatte. Es war dabei ja auch beteiligt, denn ihm zur Seite saß ein rotlockiger Bursche, mit dem sich das Maidle nicht ungern im Fingerhäkeln übte.

Und der Schneider predigte und predigte. Schon schien sich ihm manchmal der Stoff zu verflachen, aber die Uhr schlug nicht sieben. Noch erzählte er die Legende vom heiligen Aloisius und erklärte die Bedeutung der[119] Lilie, und sprach von den himmlischen Freuden der Frommen – aber die Uhr schlug nicht sieben. Einmal setzte er ab und horchte. Die Versammlung schien in tiefer Andacht zu sein, und die Uhr tickte und tickte. So ließ er sich nun auf die ewigen Strafen der Gottlosen ein.

Ich saß auf dem Bänklein, hielt meinen rechten Arm um den seinen Hals der Marianne Schober geschlungen, und mein Lebtag war mir nicht so wohl, als zur selben Stunde, in der die Uhr nicht sieben schlug. Nur der Hahn war zuweilen etwas unruhig unter dem Bänklein. Der flatterte mit den Fittichen und ließ die Hühner nicht schlafen.

Es war allmählich dunkel geworden. Ein oder der andere Zuhörer räusperte sich dann und wann, mancher vertuschte zur Not ein Kichern. Das Maidle neben dem Rotkopf war die Ernsthafteste. Die Kartenspieler unterschieden ihre Trümpfe nicht mehr genau, und die Pärchen waren womöglich noch näher zusammengerückt.

Noch einmal unterbrach sich der Prediger und horchte. Es war ihm so ein schmatzender Ton aufgefallen; – es war aber nichts weiter, er fuhr fort, hielt es jedoch nicht gerade für überflüssig, noch mehr Scheiter in das höllische Feuer zu werfen, in welchem die weltlustigen Sünder gebraten werden.

Bei solcher Wärme war es naheliegend, daß ich heimlich die Frage an mich stellte: Wenn alle anderen um dich herum heute ihr Mädchen küssen, warum sollst das Ding nicht auch du versuchen?

Ich faßte daher mit meiner linken Hand die Marianne fester denn bisher am Arm, schlang meine rechte Hand noch enger um ihren Nacken, zog ihren Busen an[120] meine Brust, beugte mein Haupt auf ihr Gesichtchen nieder – und wie ich meine Lippen ausbiege nach den ihren, da kräht unterwärts der Hahn.

Erschreckt emporgefahren sind wir beide von unseren Sitzen. Der Prediger aber brach ab und rief: »Wie? Mein Hahn kräht niemals vor dreiviertel auf acht! Morgen ist schlechtes Wetter, und heut hat die Uhr einen Narren gemacht. Geht daher, meine lieben Zuhörer, eilends nach Hause und seid wachsam, denn ihr wisset weder den Tag noch die Stunde. Amen.« Nun war plötzlich unser Eden aufgelöst. Das Bachreutermaidle kicherte und trillerte, von Burschen umjohlt, davon.

Am anderen Tag sind in der Stube des Apostels Spielkarten gefunden worden und die paar beschriebenen Papierstreifen. Darüber war der Meister Brotschimmel derart empört, daß er ausrief: »Nie wieder, daß ich diesen Heiden des Herrn Wort verkündige: Diese verfluchten Ausmesser haben unsere jungen Leut' verdorben. Der Teufel soll sie holen! Was hilft bei so einem vermaledeiten Volk das Predigen?!«

»Freilich, Meister,« antwortete ihm die Marianne, »das Predigen hilft nichts, sonst wär' der Meister selber bekehrt und tät' nicht so mörderisch fluchen.«

Der Schneider ist nicht ein einzigmal mehr auf den Schemel gestiegen. Die jungen Sünder des Tales haben sich allmählich zerstreut in alle Welt; – etliche davon sind bereits alte Sünder geworden.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 108-121.
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