Der heiratslustige Schneider.

[90] Mein Lehrmeister hatte fast immer unglückliche Schneidergesellen. Sie waren sonst zumeist gesund, wohl gewachsen und nicht ohne Fähigkeiten, aber jeder – wollte heiraten.

Zumeist, wenn der reisende Handwerksbursche bei uns Arbeit nahm, stand sein Entschluß fest: In dieser Gegend setze ich mich an, werde Meister – es ging damals gerade die neue Gewerbefreiheit an – und heirate eine Dasige. Als ob einer ohne Eheweib nicht Meister werden könnte! »Ja freilich nicht,« belehrte der Schuster Simon, »mit einem Eheweib auszukommen, das ist eben das Meisterstück!« Kaum so einem aber etwas über die Leber lief – war's nun ein nachdrückliches Wort vom Meister oder ein unausgekochter Knödel von der Sterbäuerin oder auch nur ein kropfiger Zwirn in der Arbeit – alsogleich machte er sich fremd, packte seine sieben Sachen, wenn er deren so viel hatte, zusammen und atmete auf: Gott sei Dank, daß ich dahier nicht verheiratet bin!

Und dennoch wollte jeder, so lange er festsaß, sich auch einwurzeln. Und sie machten Ansprüche. »Jung und schön muß sie sein,« sagte der eine, »denn alt und häßlich wird sie sowieso.« Ein anderer wollte das Heiraten als Nebenerwerb betrachten und forderte daher eine mit Geld. Ein dritter machte auf Bildung Anspruch, damit er[91] gleich gebildete Kinder kriege. Just einer war dabei, der Jüngste unter den Handwerksgesellen, die auf dem Kirchweg derlei einmal erörterten; dieser Jüngste sagte gar nichts; er wurde daher schief befragt, was denn er zu den Weibern meine?

»Ei, schwatzen wir von was Gescheitern!« war von dem die Antwort. Es ging nicht ein Jahr um, so war der Junge verheiratet – und die anderen alle noch ledig.

Da hatte mein Meister einmal einen Gesellen, den hießen die Leute den Mehreren. Er war eigentlich weniger als manch anderer, denn er war bloß ein Gehilfe, war niedlich und etwas zartknochig, bewahrte aber stets eine seine Haltung seines Körpers und trug sich in der Kleidung, in der Frisur seines Haares und Bartes und im ganzen Gehaben so, daß, wenn er nicht in der Schneiderbude saß, ihn jeder für was »Mehreres« halten konnte, als für einen Schneider. Übrigens nannten wir ihn den »Mehreren« vorzüglich deshalb, weil er aus Mähren gebürtig war.

Dieser Mehrere nahm die Welt wissenschaftlich. Er betrachtete alles von einem höheren Standpunkte aus, wußte über alles zu sprechen, daß es seine Art hatte, und in der Geschichte der edeln Schneiderzunft konnte er geradezu als Professor gelten. Das erste in der Kultur der Menschheit ist der Schneider, pflegte er zu sagen, und das letzte ist wiederum der Schneider, wenn er streikt. Er führte den Schneider vom Feigenblatte der ersten Eltern aus durch die Geschichte der Juden, der Assyrer, Perser, Ägypter, Griechen und Römer. Da fragte ihn der Meister einmal, ob in der alten Geschichte der Zunft ein Schneider bekannt sei, der einen unteren Hosenrand[92] ins Ärmelloch der Joppe geworfen? worauf der Mehrere frech entgegnete, in der alten Geschichte steh in der Tat kein solcher, wohl aber in der neuen! Denn der in der neuen stand, das war er selber, weil es ihm mitunter wohl passierte, daß er vor lauter tieferm Nachdenken seine Handarbeit vergaß und mancherlei verkehrt machte.

»Ihr zwei könnt's miteinandergehen!« sagte der Meister. Der zweite mit den tiefen Gedanken und der Zerstreutheit im Handwerk – ?

»Und wir werden auch miteinandergehen,« sprach hierauf der Geselle zu mir, »du wirst frei, dauert nicht lang', und ein Ehrenmann, reden kannst auch, schweigen ebenfalls. Dich kann ich brauchen.«

Damit hatte der Mehrere aber was Besonderes im Sinne. Es muß erzählt werden, daß nicht gar weit von uns ein kaiserlicher Gutsverwalter und Oberförster haushielt, der fünf erwachsene Töchter hatte. Diese Töchter waren jede einmal auf längere Zeit bei einer Tante in Wien gewesen und so fürnehm geartet, daß sich kein Mensch an sie herangetraute. Bei einer kam zur Würde der Stellung und Erscheinung auch schon die des Alters in Betracht.

Da sagte nun aber der Mehrere zu mir: »Junggeselle, mit dem kaiserlichen Verwalter wag' ich's! Eine nehm' ich ihm ab. Ich bin des ewigen Simulierens übers Heiraten satt, ob man wohl die Rechte erwischt, und wie's nachher sein wird, und das häusliche Elend und wieder die Neugier dabei – ich trag's nimmer länger, sein muß es doch einmal, weil's menschliche Bestimmung ist. Ich laß dir's gelten, man kann's bereuen, wenn's geschehen[93] ist; aber so lang' du ledig bist, hast auch keine Rast und Ruh, heißt's: Hätt' ich ein Weiberl, wie schön kunnt's sein! Seit die weibliche Menschheit auf der Welt, ist halt die männliche schlecht dran – man kann's wenden wie man will. Darum mach' ich's wie jener, der aus lauter Angst vor dem Naßwerden ins Wasser gesprungen ist. Ich pack' frischweg an und heirate eine kaiserliche Verwalterstochter.«

Über eine solche gut kaiserliche Gesinnung war ich erfreut, und doch mußte ich Zweifel hegen, die der Mehrere aber folgendermaßen behob: »Der Herr Verwalter, mein vielgetreuer Bruder, der Verwalter hat zwei Gattungen von Töchtern; einmal solche, die ich gern nehme, und dann solche, die er gern gäbe. Kriege ich von der ersteren Gattung keine, mein Gott, so werde ich eben von der letzteren eine aufheben. Aber daß du ihm's nicht gleich sagst! Denn du wirst mir morgen brautwerben helfen.«

Nach einigem Wortwechsel sah ich, daß es wirklich sein Ernst war, und ich fühlte mich getragen von meiner Aufgabe, zu der ich mich voreilig genug verpflichtet hatte.

Zum selben Abend um die »Lichtfeier« gingen wir beide am Bachesrand entlang und führten fast schreiend ein Gespräch, das man sonst nur flüsternd zu halten pflegt – denn es rauschte der Bach. Der Mehrere teilte mir mit, daß er fürderhin bei seinem Schwiegervater im Schloß wohnen werde, daß er überhaupt nicht die Absicht habe, den kaiserlichen Verwalter und Oberförster zum Vater eines Schneiders zu machen, daß er dem wackeren Mann jedoch einen Gelehrten oder gar Politiker, der sich später um ein Mandat bewerben werde,[94] zum Tochtermann geben wolle. Vorläufig befasse er sich, und das reime sich für einen jungen schwärmerischen Eher mann am besten, mit Botanik: Veilchen, Vergißmeinnicht, Himmelsschlüssel, brennende Liebe, Herzenstreu und derlei Zeugs, wie es die Weiber gern hätten. Geblümel, meinte ich, das wäre schon das rechte, und später, wenn eins dem andern, oder die Schwiegereltern ein Stein des Anstoßes würden, könne er zur Mineralogie greifen.

»Der Witz ist gut, aber ich lache nicht,« sagte mein Genosse, »in meinem Haupte gehen ehrwürdige Dinge vor, mein Lieber! Du wirst mich morgen kennen lernen, du wirst staunen, wie ich mich verhalten werde. Er wird manches fragen und mir auf die Zähne fühlen, ob da drinnen wer zu Hause ist!« er klopfte auf die Stirne. »Ich werde nicht viel reden, aber ich werde viel sagen! Verstehst mich?«

Da ich ihn verstand, so wollte er meine Meinung darüber wissen, welche Fragen derlei Leute bei solcher Gelegenheit zu stellen pflegten.

»Ich hätte,« so beiläufig gab ich darauf zur Antwort, »all meiner Tage noch keinen Menschen um die Tochter angegangen, also könne ich den Hergang nicht wissen, dächte aber mindestens, daß folgende zwei Kardinalfragen gestellt werden würden: Erstens: Was haben Sie für einen Erwerb und sind Sie imstande, Weib und Kind zu ernähren? Denn – mußt dir denken – da ist allemal auch schon vom Kind die Red'. Und zweitens: Haben Sie schon mit meiner Tochter gesprochen?«

»Die erste Frage fürchte ich nicht,« sagte der Mehrere, »wohl aber die letztere. Und wenn erst die Rede davon[95] sein sollte, welche von den fünf Töchtern ich haben möchte? Ich kenne keine einzige mit Namen. Ich verlange auf gut Glück die jüngste. Die älteren, werde ich sagen, finden immer noch leicht ihre Verehrer, weil sie die Gescheiteren sind.«

»Ein solches Brautwerben ist gefährlich,« war mein Bedenken. Ich war klüger, als es für einen zwanzigjährigen Springinsfeld anständig ist und doch nicht so klug, um mich von dem Unternehmen des unbedachten, fürwitzigen Gesellen abzusondern. Er brachte, als der Bach leiser wurde und der gewöhnliche Stimmenaufwand auch einen gewöhnlicheren Gedankengang erzeugte, ganz vernünftige Dinge vor und ich dachte, wenn er sich zusammenstiefelt und sehr wenig spricht, so wäre es wohl immerhin möglich, daß bei einem leichten Schütteln der Baum die reifste Birne abwürfe. Ich habe hernach den Mehreren allein gelassen, damit er sich für den wichtigen Schritt vorbereiten konnte.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Nach dem Gottesdienst begaben wir uns ins Schloß, das auf seinem Berge ruinenhaft dasteht und in dessen Wirtschaftsgebäuden der Verwalter wohnte. Der Mehrere hatte eine Nelke im Knopfloch, ich eine Kornblume, die damals an der Weltgeschichte noch so unschuldig war, als ich es heute bin. Wir sprachen nicht viel miteinander und ich vermute, daß uns beiden verflucht schneiderhaft zumute war.

Wer der Redner sein sollte, war ausgemacht. Selbst ist der Mann. Ich sollte nur neben stehen als feierliche Zeugenschaft, daß er's wirklich selbst ist. Ich sollte in meinem Festgewand wohl auch einen Schmuckgegenstand bilden; der Freier hatte seine rote Seidenschleife am[96] Hals, seine goldenen Ringlein im Ohr und seinen zierlichen Schneider an der Seite. Für den Notfall mußte aber meine Geistesgegenwart bereitstehen, um zu bestätigen: Keinen Bessern für die Tochter kunnt der Herr nit kriegen...! So war's ausgemacht.

Als wir in den Schloßhof eintraten, kam eine Meute von Hunden auf uns los; wir standen regungslos wie zwei Zaunstecken, denn »sich nicht rühren, das ist das beste!« So ließen wir, für unsere unteren Partien bangend, das drohende Gebelle über uns ergehen, bis eine hochaufgebaute Dame in himmelblauem Schleppkleid und mit langen, gelösten Locken im schönsten Feuerrot aus der Tür trat und den Bestien Ruhe gebot.

Der Mehrere trat rasch an sie hin, und da ich sah, wie er zu ihr emporblickte, war mein Gedanke: Du, Schneider, wie ihr zwei nebeneinandersteht, ist sie die Mehrere!

Trotz des wahrhaft stattlichen Wuchses der Dame war ihr Angesicht derart, daß ich zuversichtlich wurde. Nicht so sehr weil es huldreich lächelte, als vielmehr weil es – nichts weniger als schön war. Ich konnte das näher beschreiben, ich tue es aber nicht; die seelischen Häßlichkeiten eines Menschen darf man lächerlich machen, die körperlichen nicht, denn für solche kann niemand.

Der Schneider wußte ihr auf einem Atem viel Reizendes zu sagen und als sie nun gar ihr weißes Taschentüchlein fallen ließ, hielt ich alles für gewonnen. Er hob es rasch auf, und an der Ecke die eingewirkten Buchstaben bemerkend, flüsterte er: »Das ist wohl der werte Namenszug!«

Als wir hernach die Stiege hinaufgingen, rannte[97] mir der Mehrere zu: »Ich weiß genug, das Ungeheuer heißt Thusnelda. Ihre jüngeren Schwestern Sophie und Hermine.«

»Wenn wir sie nur schon gesehen hätten!« seufzte ich.

»Ich bin gefeit,« war seine Antwort.

Bald darauf standen wir in der großen Stube. Wir gaben uns eine dem Freier gebührende Stellung, vereinigend die bittende Demut mit dem begehrenden Stolze.

»Wenn man abergläubisch wäre!« flüsterte er, auf die vielen Hirschgeweihe rings an der Wand deutend. – »Ausgeschlossen!« sagte ich.

Nun trat der kaiserliche Verwalter ein. Das war ein alter Recke mit roter Stumpfnase und grauem Vollbart. Er knurrte uns lachend an, was wir wünschten?

Jetzt begann mein Mehrerer ein Gemenge von Redensarten, Sprichwörtern, Titulaturen und dergleichen herzusagen, in denen ihn der Verwalter nach einer Weile unterbrach: »Ah, ihr wollt Gefällholz! Gar keinen Anstand weiters, nur auf die frischen Bäume acht haben!«

Da glotzten auf einmal ihrer zwei jämmerlich drein.

»Jeß Maria!« sagte endlich der Mehrere, »jetzt haben wir uns nicht verstanden.« Und weil er entgleist war und doch in heiliger Not was gesprochen werden mußte, so ergriff er das Nächstliegende, nämlich die nackte Wahrheit und sagte, daß er Jaroslaw Votschka heiße, annoch das Schneidergewerbe ausübe, übrigens zu was Besserem geboren sei und in Ehren um die Hand der Tochter Hermine bitte.

»Ah ja so!« rief der Verwalter lachend, »meine Tochter! Na, da müssen wir doch ein Glas Wein miteinander trinken.«[98]

Ich erschrak ordentlich über die unheimliche Leichtigkeit, mit der das ging. Mein Genosse kneipte mich heimlich in den Arm. Auf den Wein schien das Haus gut eingerichtet zu sein, rasch war er zuwege mit allem Zubehör und wir saßen dabei.

»Also die Tochter!« knüpfte der Verwalter das Gespräch wieder an, dann drohte er mit dem Finger: »Haben hinter meinem Rücken wohl schon alles mit ihr abgemacht! – Nicht? Na, tut nichts. Es plangt jeder schon um einen Mann, und ein so netter Bursche da – !«

Der Mehrere trat mir vor Wonne auf die Zehen.

»Daß Sie in Ihrem Gewerbe sehr tüchtig sind –« der alte Herr würzte die Bemerkung, indem er uns frischen Wein nachschenkte, »das ist wohl ohne Zweifel.«

»Man befleißigt sich stets auf der Höhe der Zeit zu stehen,« sagte nun der Mehrere, sich leicht verneigend, »denn unser Gewerbe hat in den letzten Jahrzehnten wissenschaftlich große Fortschritte gemacht. Ich will von den Nähmaschinen nicht sprechen, nicht von dem neuen amerikanischen Repasseur, welcher imstande ist, in dreißig Minuten die Pantalons einer halben Armee zu glätten; ich rede vielmehr erstens von den großartigen Dimensionen, welche besonders in Holland die Tuchfabrikation genommen, mithin unserer Kunst durch Hunderte von Fabriken stets feinster Stoff zugeführt wird, sowie von der unbehinderten Entwicklung derselben durch die Gewerbefreiheit und viele neue technische Einführungen auf dem Gebiete des Messens, Taillierens und Coudrierens, welche besonders in der französischen Hauptstadt Paris –«

»Und können Sie auch lodenriffeln?« unterbrach ihn der Verwalter schnarrend.[99]

»Ah, Sie meinen das Drapieren des Stoffes?«

»Ich meine das Lodenriffeln.«

»Das allerdings – liegt einem wissenschaftlich gebildeten Kleiderkünstler – wenn ich mich so ausdrücken darf – etwas ab, weil solcherlei ordinäre –«

So der Mehrere und das war gefehlt.

»Sie sind Schneider und können nicht lodenriffeln!« sagte der Verwalter, »alsdann kann ich Ihnen meine Tochter nicht anvertrauen. Ich bitte schon um Entschuldigung, ich bin nicht besoffen, aber das muß ich sagen, ein Schuster, der nicht lederklopfen und ein Schneider, der nicht lodenriffeln kann, der ist nicht weit her, und selbst wenn er von Mähren wär'.«

»Aber kaiserlicher Herr Verwalter und Oberförster!« stotterte der Mißhandelte.

»Es ist noch Vormittag und ich weiß, was ich sage!« fuhr der Verwalter fort, »ich habe meinen Töchtern oftmals vorgehalten: Wenn eine von euch einen fleißigen Handwerker kriegt, so kann sie sich alle zehn Finger ablecken. Jetzt kommt einer und kann schön reden. Aber mit der Zungen verdient der Handwerker sein Brot nicht, sondern mit der Hand. Weiter geht's mich nichts an. – Was gibt's Neues, meine Herren?«

Der Mehrere stieß mich mit dem Ellbogen: »Weißt was, so sag' ihm's du, ich gehe zum Kuckuck!«

Wir trollten uns beide davon. Im Hofgarten an den Blumenbeeten standen in hellen Farben und reizvollem Geflüster miteinander fünf Frauengestalten. Wir schossen an ihnen vorüber und erst draußen, weit draußen im Buchenwalde blieb mein Genosse stehen, trocknete sich die Stirn und sagte: »So, das wär' auch vorbei.«[100]

Mich dauerte das Herz; ich sann nach Balsam.

»Richtig für Ernst hat er's gehalten, der Alte!« rief ich und brach in ein unbändiges Lachen aus.

Der Mehrere verstand mich und haben wir es in unserer Niederträchtigkeit so verdreht, als hätten wir den Verwalter mit der Brautwerbung nur gefoppt. Aber innerlich verwand er's doch nicht, der gute Jaroslaw. Er ließ wohl das Großsprechen sein, doch seine Arbeiten wurden nicht besser, sondern begannen in der stummen Sprache ihrer Wesenheit nachgerade das Handwerk zu verhöhnen. Und eines Tages sagte ihm der Meister, während er ihm in den glänzendsten Silberzwanzigern, die ich je gesehen, den Wochenlohn auszahlte: »Mein lieber Jaroslaw, man kann dir nicht feind sein, denn du bist soweit brav und alleweil bei Humor, aber dein Arbeiten ist nicht viel nutz. Probier's einmal wo anders.«

Der Mehrere war fremd. Er warf sich in sein elegantes Gewand und machte bei allen Bekannten die höflichsten Abschiedsbesuche und hat als manierlicher Mensch überall den besten Eindruck zurückgelassen.

Vier Jahre später sahen wir uns in Wien. Er lief mir nach und hatte tüchtig zu tun, sich mir wehmütig lachend als der Mehrere vorzustellen, denn er war überaus verändert – herabgekommen. Er erzählte mir sein Unglück und daß auf der Welt keine Gerechtigkeit sei. Trotz all seiner Talente und seines höheren Strebens, das Gewerbe zu veredeln, stehe er da, wo er stehe!

Weil du eins übersehen hast: die einfache Arbeit! – Das wollte ich ihm sagen. Da mahnte mich eine innere Stimme: »Sag's nicht, zahle ihm ein Mittagmahl.«[101]

Bei demselben wurden wir beide lustig und er erkundigte sich nach dem kaiserlichen Verwalter und Oberförster.

»Den zieht's schon arg in die Krumme, und seine fünf Töchter haben ein so gutes Herz, daß noch keine den mühseligen Vater verlassen hat.«

»Kommst einmal zum Herrn Verwalter,« sprach nun der Mehrere und faßte meine Hand mit der seinen, die ganz kühl war, »kommst zu ihm, so sag', ich ließe ihn grüßen; und er hätte schon recht gehabt.«

Er goß den Rest des Weines in seine Gurgel und verließ mich.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 90-102.
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