Als wir unschuldiges Blut vergossen haben.

[28] Blutvoll, blutvoll waren sie, die Leute des Waldlandes. Aber die Feldzüge nach Italien oder nach Böhmen oder anderswohin liebten sie nicht. Die Kriege machten sie sich selber nach Bedarf in den Samstagnächten auf der Gasse, oder Sonntags im Wirtshaus. Da konnten sie Krieg erklären und Frieden schließen, wann sie wollten. Waren etliche Löcher geschlagen, aus denen das überschüssige Blut entweichen konnte, so wurde der Friede geschlossen und Männer, die sich früher geschlagen und gestochen hatten, gingen nun mit verbundenen Köpfen gemütlich miteinander heim.

Das galt aber nur von den Männern, von den jungen und reckenhaften. Die anderen, die durchaus friedliebenden, die nichts schlagen konnten, als die Bäume, und nichts stechen, als die Schweine – die mußten sich bei Blutüberfülle anders behelfen – sie gingen zum Bader. Der Schröpf und der Aderlaß, das waren dazumal neben Lebensessenz und Rosenbuschbalsam die Universalmittel gegen alle Krankheiten. Die Vollblütigen, auch wenn sie gesund waren, gingen alljährlich zum Aderlaß, um sich zu sichern vor dem Schlagtreffen. Die Blassen und Bleichsüchtigen gingen auch zum Aderlaß, weil man glaubte, daß denen das Blut in den inneren Organen gestockt sei und man es durch einigen Ablauf flüssig machen müsse. Ein rüstiger Jägersmann hatte mir einmal vertraut, es wäre viel leichter brav bleiben, wenn der Mensch öfters zum Aderlaß ginge. Ob man noch heute im Walde solche Blutzeugen der Bravheit[29] finden kann? Die heutigen Waldburschen nehmen eher Eisentropfen zu sich, damit ihnen das Blut nicht zu wenig wird. Wohin sie's vorher verschwenden, das weiß ich nicht.

Der erste Anlaß zum Aderlaß war gewöhnlich eine »hitzige Krankheit« in der Jugend. Und es ging der Glaube, daß, wer einmal angefangen, nicht mehr aufhören dürfe. Versäume er den rechtzeitigen Aderlaß, so komme irgendeine schwere Krankheit über ihn oder gar kurzerhand der Schlagfluß. Waren sie dann gesund oder krank, vollblütig oder blutarm, sie gingen alljährlich zum Aderlaß. Der Bader meinte, schaden täte es nie, Blut wachse nach wie Klee auf der Wiese, daran junger allemal frischer und süßer sei, als alter, abgeblühter. Diese Kleewissenschaft mußte den Bauern einleuchten. Noch lieber als die Männer gingen die Weiber, was mich erst nachträglich besonders wundert. Sie gingen zum Aderlaß als Mädchen wie als Mutter, ja noch als Greisin glaubten sie, daß junges Blut nachwachsen würde, wenn das alte heraußen wäre.

Wenn die Jahreszeit seit dem letzten Aderlaß um war, dann meldeten sich auch tatsächlich gleich Beschwerden. Kopfschmerz, Gliederschwere, Abgeschlagenheit, Schwindel. Besonders, wenn letzterer sich einstellte, war es höchste Zeit, zum Bader zu laufen, um dem Schlaganfall zuvorzukommen. Bei vielen machte sich das Bedürfnis fühlbar im Frühjahr, wenn die Knospen sprangen.

So war es auch bei meiner Mutter. Um den Mai herum war allemal die Rede vom Bader. Sie säume schon zu lang', es wäre höchste Zeit; des Morgens, wenn sie aufstehe, tanze die ganze Stube um sie herum. – Da ging sie denn endlich in Begleitung einer Magd oder des Vaters den stundenlangen Weg nach Langenwang zum Bader. Begleitung war deshalb nötig, weil auf dem Heimweg manchmal[30] Ohnmachtsanfälle drohten. Und einmal, als wieder der Tag kam, stand es so, daß mir, weil sonst niemand vor handen war, die Aufgabe zufiel, die Mutter zu begleiten. Ich war zur Zeit noch der kleine Bub, und wie es in meiner Erinnerung ist, so will ich's erzählen, es ist wieder so, daß ich auf dem Weg nach Langenwang zu Fuß ausging und zu Wagen heimkam.

Des Morgens im Sonnenschein davon und in die weite Welt hinaus, als die mir damals das Mürztal galt, das war eine große Freude. Daß die Mutter in ihrem Armkörbchen so viele Tücher und Binden mit hatte, fiel mir nicht auf. Erst später, als auf der Landstraße lauter fremde Leute zogen, bettelnde Handwerksburschen, fluchende Fuhrleute, schreiende Zigeuner, wurde mir unheimlich in der Ahnung, daß in dieser schrecklichen Fremde der lieben Mutter, die so still und gütig neben mir herging, heute was geschehen würde.

So kamen wir nach Langenwang zum Bader. Vor seinem Hause stand ein blühender Kirschbaum, unter demselben liefen Kinder herum, schrien und lachten in den Baum hinauf, und oben im flaumigen Geäst kletterte der Bader auf und nieder. Er hatte ein altes bartstoppeliges Gesicht und eine graue gestrickte Wolljacke an und er stellte einem buttergelben Falter nach, der in und um den Baum munter hin- und herflatterte, als wollte er den Alten necken. Wir standen unten, meine Mutter hüstelte, daß der Bader uns gewahren möchte, er lugte auch zwischen den Ästen einmal herab, ohne sich in seiner Schmetterlingsjagd weiter stören zu lassen. Vor dem Hause auf der Bank saß ein borstiger Mensch, der wartete und wartete, und endlich schrie er hinauf: »Na, Bader, werst noch nit bald so gnädig sein und herabsteigen? 's ist not, mein Weib hat das Nervenfieber!«[31]

Antwortete oben der Bader: »So, das Nervenfieber hat s'? Na, wenn du's eh kennst, was gehst denn noch zum Arzt? Jetzt habe ich keine Zeit. Siehst es denn nit, daß die Kinder den Falter haben wollen?« und fächelte mit seinem Hut in die Luft hinaus, um den Gelben zu fangen.

Sagte hierauf der Borstige: »Wenn du selber nit so viel Vertrau hast auf deine Medizin, daß dir das gelbe Vieh wichtiger ist, nachher – behüt dich Gott!« Und ging mit seinen krummen Knien heftig davon.

Mir war dieser borstige Mann sehr zuwider vorgekommen. Wo der Bader eh so ein lieber Mensch ist und den Kindern Falter fängt! Nein, der gute Mann! der tut meiner Mutter nicht weh.

Als dem Schmetterling der Spaß zu langweilig wurde, flog er hoch im Zickzack gegen den blauen Himmel und der Bader stieg schnaufend vom Baum und jagte die Kinder auseinander. Als er das Anliegen der Mutter vernahm, wies er uns hinein in die Stube, dort sollten wir warten. – Ganz verwunderlich bald kam eine Frau in weißer Haube und brachte eine große grünglasierte Schüssel. Ich erschrak ein wenig, ohne recht zu wissen, warum. Meine Mutter packte das Verbandzeug aus, und als der Bader erschien, entblößte sie den Arm. Der Mann betastete und beguckte die großen bläulichen Adern und sagte: »Waldbäuerin, es ist wieder einmal die höchste Zeit. Nit einen Tag mehr kunnt ich dir sicher versprechen, alle Augenblick kann's geschehen sein. Wenn 's Blut ins Hirn steigt, bist fertig.« Jetzt tat er aber selber mit den Vorbereitungen so langweilig um, daß ich die größte Angst bekam, es stiege derweil ins Hirn. Endlich zog er aus dem Sack das Schnappmesser, aber in demselben Augenblick stürzte die weißhaubige Frau zur Tür herein: Vom Stall wären die Ferkeln ausgekommen[32] und liefen im ganzen Dorf umher. Da tat der Bader einen erklecklichen Fluch, schmiß das Schnappmesser auf den Tisch und ging Ferkel fangen.

Das ganze Jahr ist mir nicht so lang vorgekommen, als die Zeit, da wir jetzt warten mußten. Unverwandt blickte ich die Mutter an, die ergeben dasaß und sich manchmal mit dem roten Handtüchel übers Gesicht fuhr. Als die Ferkeln wieder im Stalle geborgen waren, saß sie, gottlob, immer noch aufrecht da. »Jetzt werden wir's bald haben!« sagte der Bader, und kurze Zeit darauf schlug das Schnappmesser in die Ader des linken Armes. Und jetzt war ein schwarzer Springbrunnen da, der in die Schüssel plätscherte, wie daheim der Wasserquell in den Trog. Mir war gar behaglich im Ansehen dieses Brunnens, denn mit demselben ergossen sich ja alle möglichen Krankheiten, namentlich die Gefahr des »Gehirnschlages« in die Schüssel. Als aber diese mehr als zur Hälfte voll war, und der Strahl immer noch rann, da wurde mir bange. Der Bader hielt meiner Mutter eine Essigflasche unter die Nase. Und endlich legte er den Verband an. Die Schuldigkeit war ein Zwanziger, das Blut wurde draußen auf den grünen Rasen ausgegossen und meine Mutter wankte blaß und erschöpft wegshin. Ins Wirtshaus gingen wir, und da war es gut. Braten, Semmelschnitten mit Zucker und Zimt in Wein gebeizt und noch ein Glas Wein extra. Blutmachende Mittel hatte der Bader verordnet. Die dicke Wirtin saß neben uns am Tische, legte ihre Arme gekreuzt über den Busen, war sehr mitleidig und erzählte Geschichten, wie Aderlässe den Tod gebracht hätten.

Nach dem Essen war der Mutter ums Rasten, und am Nachmittage gingen wir den Heimweg an, nicht die weitere Straße, wie ich damals im Winter, sondern den kürzeren[33] und steileren Sommerweg. Auf der Straße und an den kahlen Bergböschungen der Illach war es noch heiß. Im Trabachgraben am Waldhang und neben dem schäumenden Wasser wurde uns frischer, und ich kleiner Schlingel kam mir wichtig und bedeutsam wie ein Großer vor, als Begleiter und Beschützer der Mutter so einherzusteigen! Für alle Fälle hatte ich meine Vorschriften, die der Vater mir eingeschärft. Aber sie schienen überflüssig zu sein. Es kam der steinige Waldsteig bergan, die alten Bäume deckten uns mit ihren Astwüchsen ein, wie ein grünes Gewölbe, und mancher Windbruchstamm lag spießig über dem Wege, so daß wir mühevoll drunter durchkriechen oder darüber klettern mußten. In dieser Wildnis stolperte die Mutter, fiel zu Boden und stieß ihren Arm an einen Stein. Sie erhob sich sehr schnell und brummte ein wenig, aber nicht über den schlechten Weg, sondern über ihre Ungeschicklichkeit. Da könnte man sich sogar wehtun, meinte sie. Daß sie sich wehe getan hatte, verschwieg sie. Nach einem Weilchen, als wir zum Anger kamen, der mitten im hohen Walde liegt und wo der Fußsteig an die Straße stößt, setzte sich die Mutter, ohne weiter ein Wort zu sagen, auf den Rasen. Ein in Essig getränktes Tuch, das sie mit hatte, tat sie fast hastig hervor, fuhr sich damit über die Stirn, an den Mund, dann sagte sie zu mir: »Ein klein Randel schlafen laß mich. Sieben Vaterunser sollst beten, nachher wecke mich wieder auf.«

Sie lehnte sich zurück aufs Moos und schlief. Etwas zu schnell mochte ich das Vaterunser siebenmal hergesagt haben, sie hatte noch nicht ausgeschlafen. Mir fiel der Ausspruch des Vetters Jakob ein: »Im Schlafen wachst beim Menschen das Blut am geschwindesten.« Auf dem Anger standen allerhand rote, blaue und weiße Blümlein,[34] die brockte ich zu einem Strauß und legte ihn der Mutter heimlich auf die Brust. Wenn sie sich dann beim Erwachen darüber wundern würde, wollte ich sagen: »Ja, Mutter, dieweil Ihr geschlafen habt, sind die Blumen aus der Brust hervorgewachsen.« – Sie schlief und schlief, im Gesicht blaß wie das Essigtuch, mit dem das Antlitz halb gedeckt war. Zwischen den Binden des Armes rieselte das Blut hervor und sickerte in raschen Tröpflein auf das Gras. Ich hatte für alle Fälle Vorschriften gehabt, die waren vergessen, ich wußte nichts und nichts. – Wenn's so war, wie mir's heute vorschwebt, so begann ich nun über den Anger hin und her zu laufen und in den Wald hineinzurufen um Hilfe. Im Walde knisterte es, ein Hirsch setzte zwischen den Stämmen dahin, mit hochgehobenem Kopfe, plötzlich wendete er sich, sprang heran, an mir vorbei in den Anger und mit gespanntestem Satz fast über meine Mutter dahin. Sie ist nicht aufgewacht. Das Tier war zurückgescheucht worden von einem klappernden Scheiterkarren, der oben auf dem Wege herankam. Den Fuhrmann, der darauf saß und ein Liedel pfiff, rief ich an: »Komm' mir zu Hilf', ich weiß nit, was es mit meiner Mutter ist. Sie will nit mehr aufwachen!«

»Recht hat sie,« antwortete der Fuhrmann, hieb auf das Roß ein und fuhr weiter. Ein scheckiges Hündlein hatte er mit, das umkreiste bellend den Karren, dann lief es zu mir, sprang mich an, schnupperte am Lager meiner Mutter herum, begann an ihrem Arm das Blut zu lecken und an ihrer Stirn die Tropfen. Auch dem Tiere schrie ich zu: »Hilf mir, du lieber Hund!« Der aber lief keifend dem Fuhrmann nach, gleichsam: Schämst dich denn nit, Christof! So davonzufahren! Geh' doch erst sehen, was ihr ist! – Und das ist auch wahr, mochte sich der Christof gedacht[35] haben, es muß richtig was geben, weil der Hund so tut. Will doch umkehren und sehen, was ist. So wendete er dah Fuhrwerk, fuhr herbei, hing das Roß an einen Baum an und ging herab zu dem Anger. Als er sie sah, und das Blut, und die Waldbäuerin erkannte, murmelte er: »So steht's! Na, dann muß man sie heimführen.« Trug sie wie ein Kind auf den Armen zum Karren, wo er sie neben der Straße niederließ. Während er die Scheiter ablud, begann sie zu sich zu kommen. Ihr erster suchender Blick war nach mir. Auf mein zärtliches Hinsinken an ihre Brust sagte sie leise: »Hab' ich denn solange geschlafen? Aber jetzt ist mir schon besser. Du, mich däucht, es sind die Binden ledig geworden. Bluten, das tät nit gut sein.« Und band sich selbst die Fatschen fest, das eine Ende mit den Zähnen haltend, das andere mit der rechten Hand um den linken Arm windend.

»So, mein Bübel,« sprach sie wohlgemut, »und jetzt rucken wir in Gottes Namen wieder an.«

»Was?« lachte der Christof, »jetzt, wo ich die Scheiter hab' abgeworfen, will die Waldbäuerin auf den Füßen heimgehen? Wo ihr just totenschlecht ist gewest! Gewiß beim Bader gewest! Gewiß auf dem Aderlaß! Unschuldiges Blut vergießen! Dummheiten!«

Weiter, deucht mich, hat er nichts gesagt, hat meine Mutter auf den Karren gelegt, hat mich auch dazugetan, das scheckige Hündlein ist selber hinaufgehüpft und hat sich niedergelegt zu der Mutter ihren Füßen. Der Christof – er hat ein blaues Jackel angehabt und eine Zipfelmütze auf, ich sehe ihn heute noch – ist zu Fuß gegangen, hat das Roß geführt und hat uns zur Abenddämmerung glücklich heimgebracht ins Waldhaus.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 28-36.
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