Der große Wald.

[151] Von meinem Heimatberge gegen die Abend- und Mitternachtsseite hin stehen spitze und kuppige Waldberge, über deren viele man hinwegsieht in das Kalkgebirge der Alpen. Gegen die Morgenseite hin steht in weiter Ferne eine langgestreckte blaßgraue Wand. An sonnigen Sommertagen ist sie kaum zu sehen, im Schleier des Äthers verschwimmt sie mit dem Himmel. Bei feuchter Luft hingegen steht die Wand klar und leicht gegliedert da, so daß man die Waldtäler erkennen kann, die in sie hineinschneiden, und die Almblößen, die sich über den meilenlangen, fast wagrechten Höhenrücken dahinziehen. Es ist das Wechselgebirge. Zwischen diesem und meinem Heimatberge liegt ein weiter Landkessel von Berg und Tal mit vielen Ortschaften, alles so in die Tiefe gesenkt, daß unser Blick hoch und frei darüber hinfliegen kann. Menschenaugen, die auf solchen Bergen glänzen, können nie ganz kurzsichtig, Herzen, die auf solchen Höhen wachsen, nie ganz engherzig werden. Außer man ist ein dummer Junge, dessen blöde Augen selbst vor dem Leuchten der Johanniswürmchen erschrecken.

Aber auch gegen die Mittagsseite hin steht eine hohe, langgezogene Wand, sie ist viel näher da, ist ganz dunkelbewaldet und nur gegen den obersten Rand hin geht das grünliche Braun in ein leichtes Blau über. Das sind die Fischbacher Alpen, ein stundenlanger Bergzug, der meiner[152] Heimatsgegend die unabsehbare Breitseite zuwendet. Von dieser Nordseite steigt das Gebirge sachte und gleichmäßig an, auf der Höhe flacht es sich weit und fast eben hin, um im Süden gegen das hochgelegene Dorf Fischbach steil abzufallen. In meiner Jugendzeit war dieser Gebirgszug mit einem einzigen unendlichen Wald überzogen. Kein Märchenwald kann geheimnisvoller sein als dieses dunkle Meer, das, vom hochgelegenen Vaterhause aus gesehen, ewig und unbeweglich vor meiner kleinen, ahnenden Seele dalag. Immer und immer wieder zieht's mein Erinnern zurück zu diesem Walde. Und während in der Waldheimat so vieles andere klein und unbedeutend geworden ist im Vergleiche mit dem, was die weite Welt geboten: der Fischbacher Alpenwald ist groß geblieben, er trägt groß und bedeutsam die Kindesmär herüber bis an die Schwelle des Greisenalters.

Der Wald bestand fast nur aus Fichten, untermischt mit mancher weißschimmernden Tanne, deren älteste in verwitterter Wildheit starr über den Fichtengipfeln aufragten und sich auch im Winde kaum bewegten. Ganz selten stand aus der braunen Fläche das hellere Spitzchen einer Lärche hervor. Die wenigen kleinen Lichtungen, die der Wald hatte, waren aus der Ferne gar nicht zu sehen, wohl aber die scharfen Zähnchen jener Tannenwipfel, die weit hinten am gerade gezogenen Rande des Bergrückens in den Himmel standen. Noch im späten Erinnern sehe ich eine Gruppe solcher Wettertannen höher in den Himmel hineinragen, dort, wo auf der Höhe eine verfallende Halterhütte stand, die »Hirtelstube« geheißen. An dieser weit ausschauenden Baumgruppe führte der Fußsteig vorbei, der von unserem Alpel über den Bergrücken nach Fischbach ging. Auf dem höchsten Punkte dieses langen Bergzuges ragt der Teufelsstein. Mit einigen Riesenklotzen, die übereinandergelegt sind,[153] hatte dort »bekanntlich« der Teufel einst begonnen, einen Turm in den Himmel hinaufzubauen. Wenn es ihm gelänge, in einer Christnacht beim Mettenamte während der heiligen Wandlung von der Erde aus einen so hohen Turm zu bauen, dann dürfe der Teufel an demselben in den Himmel emporsteigen. Aber der arme Kerl hat's nicht einmal so weit gebracht, daß das begonnene Mauerwerk über die Baumwipfel emporragte. Heute klettern Touristen hinauf an den drei übereinandergeschichteten Felsklötzen, um über den hier verzwergten Fichtenwald in die weite Alpenwelt hinauszuschauen. Das Merkwürdigste an der Teufelssteinsage war mir immer, daß die Waldheimatbewohner, die doch sonst für allerlei Phantastereien zu haben gewesen, an sie nicht glauben wollten. Es kam ihnen zu unchristlich vor, daß einer in der heiligsten Stunde des Jahres, anstatt mit Beten, mit Arbeiten den Himmel hätte sollen erwerben können. Und als dann gar unser alter Schulmeister einmal dartat, daß der Stein auf der Höhe nur ein bloßgelegter Kopf des Felsgerippes sei, von dem die Weichteile des Erdreiches im Laufe der Zeit abgeschwemmt worden wären, kümmerte sich kein Mensch mehr um den Teufelsstein, außer man hatte dort oben ein verlaufenes Vieh zu suchen.

Ganz andere Geheimnisse barg der große Wald und von einigen derselben will ich erzählen.

Zu jener Zeit, als mein Vater jahrelang an einer Brustkrankheit siechte und zum Sterben sachte Vorbereitungen traf, ging er gerne langsam mit einem Stocke in Flur und Wald umher, betrachtete die Schöpfung Gottes, trug den Hut in der Hand und betete. Mich, seinen älteren, aber immer noch recht kleinen Knaben, nahm er dabei gerne mit, daß ich ihm beten helfe. So gingen wir auch einmal hinüber in jene Waldschlucht der Fischbacher Alpen, wo der[154] Vater eine Lichtung wußte, auf der Erdbeeren wuchsen. Als wir vom Hause fortgegangen waren, hatte mir – da ich in bloßen Hemdsärmeln war – die Mutter das neue Schafwolljäckchen über die Achsel gelegt, im Walde würde es kühl sein. Ich ging hinter meinem Vater einher und wir beteten halblaut murmelnd den Rosenkranz zur Erlangung einer glückseligen Sterbestunde. Ich wußte damals kaum, daß mein kranker Vater von dem Arzte aufgegeben war, und ich dachte, wir beteten nur so im allgemeinen um ein gutes Sterben, wenn's je in achtzig Jahren einmal dazu kommen sollte. Als wir eine Weile über frisch gemähte Wiesen mit dem Heudufte und am Waldraine mit den Himbeersträuchern dahingegangen, dann über ein schattiges Bächlein gestiegen waren, das unter Huflattich und Germen gurgelte, kamen wir in die Waldschlucht. Zwischen jungen Fichten, durch Haselnuß- und Brombeergesträuche tasteten wir uns langsam voran. Ins Gebet mischte sich mancher Ausruf, der eigentlich nicht dazu gehörte, besonders, wenn ein federnder Busch oder eine hochgewachsene Distel uns ins Gesicht schlug oder wenn im Schlinggewächse des Bodens eine Natter dahinschlängelte, auf die unsere Füße schier getreten waren. Aber nun prangten in diesem wilden Garten auch schon die großen, roten Erdbeeren. Während das Gebet beschlossen wurde, pflückten wir Beeren, um sie in den Mund zu tun. Eigentlich nein. Sie waren viel zu gut, um von uns gegessen zu werden. Wir pflückten die Frucht in unsere Hüte, um sie der Mutter und meinen Geschwistern heimzubringen. Durch die Waldmulde herab strich eine kühle Luft, mein Vater knöpfte seinen Rock zu und plötzlich unterbrach er ein gemütlich begonnenes Gespräch: »Bub, wo hast du dein Jöppel?«

Ich erschrak arg. Auf meiner Achsel lag es nicht, unter meinen Füßen lag es nicht, die zehn Schritte, die[155] man nach rückwärts blicken konnte, lag es auch nicht. Wir gaben alles auf und suchten das Röcklein. In kreuz und krumm, wie wir durch das Struppwerk gegangen waren, gingen wir wieder zurück, aber das Röcklein war nicht zu finden. Mein Vater schlug vor, daß wir drei Vaterunser zum heiligen Antonius beten sollten, als zum Patron verlorener Sachen. Wir taten es, aber das Röcklein fand sich nicht. Es war schier neu gewesen, erst einmal war ich mit ihm in die Kirche gegangen. »Beim Bachel wird es liegen, wo du so drüber gehüpft bist,« riet der Vater. Aber am Wasser lag's auch nicht, am Waldrain entlang lag es nirgends und auf der frisch gemähten Wiese war es nicht. Es wurde schon halbdunkel, als wir heimkamen, wir getrauten der Mutter unseren Verlust nicht mitzuteilen und siehe – in der Stube am Wandnagel hing mein Röcklein. »Ich hab's ja gewußt, daß er's bringt, der heilige Antoni!«

»Ja, ja, der heilige Antoni!« rief die Mutter fast erzürnt. »Der soll just gut genug sein, euch das Gewand nachzutragen! Leichtsinnigerweise verloren habt ihr's! Schon beim Fortgehen. Gleich da hinter dem Haus oben bei dem Zaunstiegel hat's die Weiddirn gefunden.«

»So, so,« sagte mein Vater zufrieden. »Beim Beten ist's dem Bübel halt über die Achsel gerutscht. Weil wir's nur wieder haben.«

»Versteht sich, beim Beten!« gab die Mutter zurück. »Beim Beten alleweil wird euch noch mancherlei über die Achsel rutschen.«

»Wird eh sein. Aber, Mutter sei gut. Schau, wir kriegen ja alles wieder.«

Derart war die kleine Angelegenheit abgetan. So oft ich später durch jenen Wald hinanging, fiel mir das kleine Abenteuer ein. Denn gar oft bin ich dort dahingegangen.[156]

Bin dahingegangen den Waldsteig, der voll braunen Genadels und voll roter Baumwurzeln war, immer durch den Wald, dem breiten, flachen Rücken des Berges zu. Und jenseits die steilen Hänge hinab bis ins Dorf Fischbach, das mit seinen grauen Bretterdächern und der weißblechernen Kirchturmkuppel auf weiten Almmatten dalag. Wie viele Dinge, die uns Alpelleute mit diesem Fischbach verbanden! Dort waren die Schuster, die wir auf unsere Steren luden, damit sie uns für das ganze Jahr die Schuhe machten. Dort war ein geprüfter Arzt und ein Winkeldoktor, die unseren Kranken das Lebenselexier schickten oder die Todeskrankheiten zu gutem Ende führten. Dort war der Krämer Kajetan, der uns in schlechten Zeiten Mehl, Schmalz und andere Lebensmittel besorgte. Dort waren am Kirchweihsonntag und am Bittmontag, dann an den Tagen des heiligen Egydius und der heiligen Anna die Kirchenfeste, die nirgends so feierlich abgehalten wurden als in Fischbach. Dort wurde einmal eine Volksmission abgehalten, die uns Alpler nahezu aus Rand und Band gebracht.

Ich will morgen davon erzählen.

Auch nach dem ferneren Birkfeld und dem Obstlande draußen führte dieser Fußsteig über das Waldgebirge.

So ist denn keine Stunde des Tages, in der ich als Knabe nicht auf dem Wege gewesen bin über den Berg. Am sonnigen Morgen, wenn an allen Ästen des jungen Fichtenwaldes noch die Tautropfen zitterten, wenn der Auerhahn im Gewipfel der alten Tannen balzte, bin ich den Waldsteig still dahingegangen. Am Mittage, wenn tausend Tierlein über das Gewurzel liefen und in der Luft summten; am sinkenden Abende, wenn Wildhühner durch Dickicht und Heidekraut gespenstig dahinhuschten und dürres Gefälle unter den Beinen flüchtiger Rehe und Hirsche knisterte, bin ich[157] durch den Wald gegangen. Dann, wenn die trüben Nebel des Herbstes spannen im Geäste, daß man nicht fünfzehn Schritte weit vor sich hinsah und die Wipfel ins Unermeßliche der grauen, tropfenden Düsternis aufragten; und in den Nächten, wo man sich mit Stock und Hand langsam dahingreifen mußte, an die Stämme stieß, über Gewurzel stolperte und doch den rechten Weg einhielt; und bei stürmischem Wetter, wenn der Wind in den unbeugsamen Wipfeln toste und der Regen hagelscharf durch das Gestämme sauste, bin ich durch all das dahingegangen. Und im Winter endlich, wenn alle Pfadspur ganz verschneit war und die schneebelasteten Äste tief niederhingen – zu all diesen Zeiten bin ich über den waldigen Berg gegangen, der in zwei Stunden zu bewältigen war, wenn ihn tiefer Hochwinter nicht überhaupt unmöglich machte. Hatte man den ersten scharfen Anstieg hinter sich, so war es ja nicht steil, auf der Höhe eine lange Strecke hin fast eben. Wo man von dieser Hoch ebene aus durch eine Scharte die lichte Welt erschaute, da zeigte es sich, wie sehr sie sich verschoben hatte und wie tief sie unten lag; nur die graue Wand des Wechselgebirges stand immer gleich hoch und ruhig in der Ferne.

Dann gab es auf diesem an Werktagen einsamen Waldweg über die Höhe hin manch unheimliche Örtlichkeit. Da war der »Rauberkessel«. Mitten in einem grünen Angerlein stand ein riesiger halbvermoderter Baumstock, der in der Mitte hohl war und an dem nur die äußeren Teile wetterzernagt aufragten. Verkohlter Holzreste nach zu schließen, war in dem Stocke manchmal Feuer unterhalten worden. Die Räuber der Wälder versammelten sich hier, um ihre Schätze unter sich zu teilen, Wildbret zu braten und dann neue Raubzüge zu verabreden. So wurde geredet. In Wahrheit gab es in den Waldgegenden weitum[158] zu jener Zeit nicht einen einzigen Menschen, der – vielleicht etliche Wildschützen ausgenommen – seinen Lebensunterhalt nicht redlich als Holzknecht, Kohlenbrenner, Kohlenführer, Wurzelgräber, Kräutersammler, Förster oder Jäger, verdient hätte. Dem kleinen Wallbauernbuben rieselten aber doch manchmal einige Erbsen über den Rücken, wenn er in die Wildnis zu diesem »Rauberkessel« kam.

Weiterhin, zwischen Wildfarren, aus Stein und Sand aufsprudelnd, war eine Quelle. Sie war nicht gefangen, rann auf keinem Rinnlein in den Trog, sondern rieselte im Sande weiter. Daneben lag ein großer Holzblock zu einer Art von Bank ausgehauen, in die gar wunderliche Zeichen eingeschnitten waren, seltsam zueinandergestellt und verschlungen, daß man wohl vermuten konnte, es müsse etwas Bestimmtes, Geheimnisvolles damit gemeint sein. Daneben ragte die gewaltige Ruine eines Fichtenbaumes, den der Blitz entwipfelt hatte und der jetzt in seiner obersten Krone eine ganze Wipfelgruppe gegen Himmel streckte. Auch an seinem Schaft waren die Zeichen eingeschnitten. Trotz seiner fahlen Äste, die wie Riesenklauen in die Lüfte ausgriffen, lebte dieser Baum noch und wucherte fort, aber seine hunderttausend gekreuzten Zweige schwiegen und sagten es nicht, was die Zeichen bedeuteten. Diebszeichen oder Zaubererformeln! Wer sie hätte lesen können!

Eines Tages, als ich an dieser Quelle getrunken hatte und dann ein wenig gesessen war auf der Bank, fiel mir ein, es wäre wohlgetan, wenn man den heiligen Namen Maria in den Baum schnitte, damit die bösen Zeichen, die dort standen, keine Kraft hätten. Mit der Spitze des Taschenfeitels grub ich mühsam die Buchstaben ins Holz, aber als sie dastanden, unterschieden sie sich kaum von den anderen Zeichen, und da wußte ich auch, was sie alle miteinander[159] bedeuteten. Der erste vor soundso viel Jahren hatte die weihevolle Stelle an der Quelle wohl mit einem heiligen Zeichen ehren wollen; ein Nachfolger tat es ebenso und ein weiterer wollte die ihm unbekannten und unheimlichen Zeichen durch ein anderes beschwören und so entstanden allmählich die Einritzungen, jede aus frommer Meinung, um aber von späteren für Diebsmarken oder Zauberformeln gehalten zu werden

Auf diesen Höhen waren die Bäume nicht mehr so buschig und hoch, sie waren verknorrter, starrer und hatten Flechtenbärte. So standen sie auch dort, wo das Wunderbare war, daß über die bewaldete Hochebene hin ein stattliches Bächlein rann. Woher kam dieses Wasser? Von der Gegend des Teufelssteins kam es her, aus hohen Quellen, den Ursprung habe ich nie ergründen können. Es war ein kristallklares Wasser, in dem die Steinchen und Sandkörner wie Gold glänzten, es rann ganz leise und flach, gleichsam wie ein lebendiges Geflechte über diesen Grund dahin. Und warum dieser stille Bach »der Schreier« heißt, habe ich nie erfahren können. Man sagte, daß es im Bache rote Forellen gebe, und zwar – singende Forellen. Sie sängen zauberhaft süß, aber nur besonders auserwählte Menschenkinder könnten sie hören. Zu diesen werde ich wohl kaum zählen, denn nie habe ich eine Forelle singen gehört und im »Schreier« einen Fisch auch nie gesehen. Etwa hundert Schritte von der Stelle, wo das Brücklein über dieses Wasser führt, ein wenig wegsab, ragte aus dem Moosboden ein verwitterter Stein. Er wurde »die Mutter« genannt. In alten Zeiten soll einmal eine Mutter mit ihrer jungen Tochter aus Alpel gegen Fischbach gegangen sein. Hier am »Schreier« hätten sie gerastet. Es war im Walde still, fast zum einschlummern, da sagte die Tochter plötzlich:[160] »Mutter, hörst du nichts? Ich höre singen. Dort aus dem Wasser höre ich singen.«

»Gott behüte dich, mein Kind, dann sind es die singenden Forellen.«

»O schönes Singen! O liebliches Singen!« flüsterte das Mädel, stand leise auf und ging nach der Richtung hin, wo der Bach aus dem Dickicht hervortritt und von wo das Singen kam. Und horchte und legte die Hand an die Stirn und ging im Dickicht dahin. Die Mutter blieb auf dem Moose sitzen und wartete, bis ihre Tochter sich an dem Singen genugsam ergötzt haben und zurückkommen würde. Sie wartete drei Stunden lang, das Mädel kam nicht zurück. Die Mutter wartete drei Tage lang, drei Monate lang, drei Jahre lang, dreimal hundert Jahre lang – die Tochter ist nicht mehr gekommen. Die Mutter aber ist bei diesem Warten zu Stein geworden und ragt noch heute aus dem Moosboden. Ich habe an dem Steine nie Ähnlichkeit mit einer menschlichen Gestalt finden können, mit Ausnahme einer einzigen Begegnung. Eines Abends im Hochsommer mußte ich für einen erkrankten Nachbar nach Fischbach zum Arzt. Dem sagte ich die Leiden des Kranken, er gab mir eine Flasche Medizin und die dazu gehörigen Verordnungen und ich ging in der Nacht heim. Den steilen Hang herauf ließen sich auf dem Wege die weißen Steine noch erkennen. Endlich auf die Höhe gekommen, war es finster geworden wie in einem Ofen, am Himmel kein Stern, schwül war die Luft. Ich achtete auf eine besonders knorrige Baumwurzel, die zu übersteigen war, auf einen alten, grobrindigen Lärchbaum, der rechterhand stehen mußte, auf einen Viehzaun, der oberhalb der Hirtelstube überstiegen werden mußte. Das alles stimmte. Mir fiel auf einmal das Sprichwort ein: So finster, daß man eine[161] Todsünde machen könnte. – Dann mehrten sich die Blitze; es waren aber keine Strahlen, nur rote Scheine; kein Donner war zu hören in nah und ferne. – Endlich war das rote Flackern, das Himmel und Wald erfüllte, so anhaltend geworden, daß es schier wie ein einziger beständig zuckender Schein war, und wenn er ein paar Sekunden aussetzte, so war es finsterer als finster und ich mußte stehen bleiben, wo ich stand. Nun fiel mir meine Mutter ein. Ich hatte Angst, daß sie Angst haben würde um mich. Und führte mich doch Gott so schön mit seinem Lichte. So war der Wald durchwogt von einem einzigen roten Feuermeer, glühend und schattenlos standen die Bäume und über den Himmel sprangen die großen Scheinfluten, eine nach der anderen, eine in die andere. Und in diesem Scheine stand plötzlich vor mir – die Mutter. Aber nicht die meine, vielmehr die andere, die schon dreihundert Jahre dasteht und auf ihr Töchterlein wartet. Wie eine hellglühende Menschengestalt, so stand zu jener Stunde der Stein. Nun hörte ich in der Nähe auch den Bach rieseln, ganz leise, und ich horchte, ob nicht auch ein Fischlein sänge. Da fiel mir das Vaterunser ein: »Führe uns nicht in Versuchung.«

Nach Stunden, als das elektrische Glutmeer über das Gebirge dahingeflutet und verlodert war, ohne daß ein Donner grollte, ein Tropfen fiel, war ich hinabgekommen ins Alpel.

Zu jener Zeit war ich ein Knabe von etwa zehn Jahren gewesen. Damals hatte ich mich unter Ausnahmen noch vor nichts gefürchtet. Ein paar Jahre später war ich von unseren alten Mägden doch schon so weit unterrichtet, daß ich mich in den Nächten tapfer vor den Geistern fürchtete. Nun wurden die nächtlichen Gänge durch den Wald der Fischbacher Alpen schon bedenklicher. Wie, wenn am Rauberkessel[162] doch Räuber säßen, oder unerlöste Seelen von Gemordeten? Wie, wenn die steinerne Mutter plötzlich lebendig würde? Die Hirtelstube, die halb verfallen unter den großen Schirmbäumen stand und keine Fenstergläser hatte, war besonders unheimlich. Die Leute wichen ihr in weiter Runde aus, so daß der Fußsteig, der hart an ihr vorüberging, schon ganz verwachsen war und weit oben durch den Jungwald ein neuer ausgetreten wurde. Denn in jener Zeit war es, daß zu den Fenstern der Hirtelstube Leute herausschauten, die schon lange gestorben waren. So sah jemand den alten Hirten Kilian, den man ein Jahr vorher in der Hütte tot aufgefunden, herausschauen, mit traurigen Gebärden um Hilfe bittend. Dem er also erschienen, der ließ zu Fischbach eine Messe lesen für seine arme Seele. Da war es an einem späten Juliabend, daß ich von einer Missionsandacht nach Alpel heimging. Andere waren noch bei Tage nach Hause gegangen, ich aber hatte die Abendpredigt über die vier letzten Dinge nicht versäumen wollen. Nun war ich im weiten Walde ganz allein, begleitet nur von meinem durch die Predigt aufgeregten Herzen. Es war schon ganz dunkel geworden. Auf der Höhe wollte ich natürlich den Fußsteig durch den Jungwald einschlagen, konnte es aber nicht lassen, einen Blick gegen die Hirtelstube hin zu tun, die unter der schwarzen Masse der Schirmbäume stand. Da sah ich um die Hütte kleine blaue Lichter schweben. Sie schwebten langsam hin und her, auf und nieder, verschwanden zum Teile und traten wieder hervor und schwebten in geheimnisvollen Kreisen um die alte verlassene Hütte. Anfangs war ich vor Entsetzen starr gewesen, dann floh ich durch den Jungwald und stieß mir an den Stämmen Beulen in den Kopf. Naß wie ein Pudel vor Angstschweiß war ich nach Alpel gekommen.[163]

Nach mir ging in der gleichen Nacht ein anderer von Fischbach her denselben Weg. Steinreiters kleiner Kühbub, der Franzl. Auch der sah an der Hirtelstube die schwebenden Lichtlein, und weil sie ihm so wundersam schienen, ging er näher hin, um sie anzusehen. Da hörte er, daß in der verfallenden Hütte ein Gewimmer war. Ein klägliches Stöhnen. Der Missionär zu Fischbach hatte von den armen Seelen im Feuer gepredigt. Wimmerten ihrer da drinnen? Waren die fliegenden Lichtlein Funken des schrecklichen Feuers? Das waren diese gerade einmal nicht, sondern Johanniswürmchen, wie der Junge dergleichen auch unten am Berghang gesehen hatte. Dann kann das Stöhnen wohl auch nicht von einer armen Seele sein. Eher von einem armen Leibe. Der Kleine ging um den alten Holzbau herum, bis er den Eingang fand, stolperte über die Schwelle und hörte vor sich ein lautes Dankgebet dafür, daß endlich jemand komme. Tagelang schon war der alte Wurzelsammler Joachim in dieser Höhle gelegen auf einem Mooshaufen. Sein Brot hatte er all schon verzehrt; dem Regen, der zweimal durch die Dachluken auf sein Lager fiel, konnte er nicht entweichen, denn er hatte den »Brand in den Füßen«. »Wer bist denn, Mensch? Vom Steinreuter der Kühbub? So nimm den Hut und bring' mir Wasser!« Gröhlend fast war die alte Stimme, gröhlend vor Freude, daß jemand gekommen, der »ihm sterben helfen« konnte. Der Franzl ging im Walde hin bis zum »Schreier« und brachte Labung. Und als es anfing, zu tagen, ging er wieder hinaus, suchte Pilze und briet sie an einem Feuer. Der Kranke verzehrte sie mit Gier. »Ach,« sagte er und rang seine hageren Finger. »Franzl, du bist wohl brav. So viel schwer, wenn der Mensch hungrig und durstig versterben muß. Verlaß' mich nit, ich vermach' dir zu Lohn mein Geld.«[164]

Dann ist der Wurzelgräber nach Alpel in ein Bauernhaus geschafft worden, wo er nicht mehr lange gelebt hat. Einen Strumpf voll Maria-Theresientaler, so hieß es, hatte der Franzl von dem Alten geerbt. – Geradeso gut hätte ich die Erbschaft machen können, wenn die Angst vor den – Johanniswürmchen nicht gar so groß gewesen wäre. Der Strumpf soll zwar nicht allzuviel innegehabt haben, nur ganz unten bei den Zehenspitzen seien ihrer etliche Silberklinger beisammen wie ein Beutlein gebunden gewesen.

So waren die Geheimnisse des großen Waldes allmählich entgeistert worden, daß schließlich nicht mehr viel übrig blieb als Bäume, als der Fußsteig mit den braunen Nadeln und dem knorpeligen Gewurzel, und als das schöne Wasser, das so seltsam über den breiten Hochrücken heranfließt.

Dreißig Jahre später, als ich einmal von Graz über Birkfeld und Fischbach dem Alpel zugewandert, fand ich den Weg nicht mehr. Auf der Höhe war Wald wie immer. Aber als es dann niederwärts ging, da brach der Wald plötzlich ab und vor mir tief unten lag Alpel, wie eine weite, lichte, schier fremde Gegend. Die alten Riesenbaumstämme sind teils als Kohlen, teils als Zimmerholz ins weite Land hinausgegangen. In den Tälern nagen Tag und Nacht die Holzsägen, um den Urwald zu zerschneiden, und die Parkette in den Salons von Wien und Graz ruhen auf den Trambäumen, die einst in dieser weltfernen Wildnis gewachsen. Ganz zu bewältigen aber ist der große Wald nicht. Immer noch ziehen sich ungemessene Waldflächen über das Gebirge dahin, und in den weiten abgeholzten Gründen zwischen dem teils modernden Gestock und unter den wuchernden Himbeer- und Erdbeergebüschen sprießen kleine, weiche Fichtenbäumchen frisch hervor, so daß es den[165] Anschein hat, als sollte ich auf den Fischbacheralpen noch ein zweites Waldgeschlecht erleben.

Der »Schreier« rinnt in der Sonne dahin und ist versandet, »die Mutter« steht nicht mehr unter hundertjährigen Bäumen, sondern zwischen jungen Sprößlingen, sie ist noch bemooster und noch verwitterter geworden und wartet auf ihr Kind. – An der Stelle, wo unter Schirmbäumen die Hirtelstube gestanden, ragt ein knochenweißer, halb vermoderter Strunk auf, an den ein großer Ameisenhaufen hingebaut ist.

Der Kühbub Franzl, der einst die Erbschaft des Wurzners gemacht hat, lebt noch, aber in einer anderen Gegend. Er hat sich aus jenen Silbertalern einen großen, eisernen Kessel schmieden lassen, mit dem er zur Herbstzeit von einem Bauernhof zum andern fährt, um den Leuten vom Garten weg im Freien über einem Feuer die Kohlköpfe zu brühen, bevor diese im Krautschacht für den Winter aufbewahrt werden. Dieser Kessel hat den Mann wohlhabend gemacht. Das kann nur einem solchen passieren, der sich vor den schwebenden Johanniskäferchen in der Waldnacht nicht fürchtet.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 151-166.
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