Wie dem Hartl an einem Tage die Sonne zweimal aufging.

[144] Nach solch außerordentlichen Vorkommnissen, gar schon das Wirtshaus! war's denn wohl kein Wunder, wenn mein Vater eines Tages sagte: »Den Buben müssen wir besser einspannen. Bei den Schafen tut er's nimmer, liest mir auch zu viel zusamm', daß er ganz närrisch wird. Werden ihn halt jetzt zur Kohlstatt stellen; der Ruß ist ihm gesund.«

Aber bei der Kohlstatt ist mir auch was Außerordentliches begegnet.

Zum meisten Teil geht's den Knecht Hartl an.

Oben auf der Hochöde zogen eines Tages im Frührot zwei graue Ochsen einen Leiterkarren dahin. Sie fuhren um Futter aus. Auf dem Karren lag der Riegelberger Knecht, der Hartl. Wie gestorben lag er auf der Leiter und einen Fuß ließ er niederhängen zwischen den Sprossen und hin und her schlängeln, so oft die trägen Ochsen einen Schritt machten. Auf der Brust lag ihm die Tabakspfeife; er hatte sie schon angezündet und in den Mund gesteckt gehabt, aber sie war wieder herausgefallen und verloschen. Der Hartl war gar verzagt. Er kniff die Augen zu und dachte: Hin sein, ganz mausetot sein, das wär' das beste. Es gibt gar keine Religion mehr auf der Welt. Hi, Grull, Wald! Die Alpelbauern schimpfen über die Mürztaler Leut',[145] daß sie keinen Festtag halten und in keine Kirche mehr gehen wollen. Die Alpelbauern sind selber um kein Haar besser. Noch schlechter sind sie. Hi, Grull, Wald! – So lang ich was denk', ist der Magdalenentag ein Feiertag gewesen in der Gemein, und daß wir das Kirchenfest haben mitgemacht in Haustein. Jetzt auf einmal bringen sie den Brauch auf und halten das Fest Sonntags ab und es mag Magdalena zehnmal auf den Erchtag fallen, oder auf den Pfingstag (Donnerstag). Weil der arme Dienstbot' ein Zugochs sein soll, den sie die ganz' Wochen einspannen wollen. Nicht einmal einen Tabak hat eins mehr in der Blader (Blase). So verfluchtlete Feiertagsschänder. Hi, sag' ich! Gelt, Grull, du selber hast heut' keine Schneid! Am heiligen Magdalenentag! Wenn ich mich leichter reden tät', eher wie nit ging' ich zum Pfarrer und wollt' ihm's sagen: Hochwürden Herr, der Sonntag gehört unserem Herrgotten selber zu, das geht nicht, daß man ihn an einen Heiligen verschenkt! Fällt der Heilige, und schon gar ein Kirchenpatron, auf einen Wochentag, so muß er am Wochentag gehalten werden. Ganz wahr, daß jetzt die g'nötige Zeit ist – das Vieh zu versorgen, das Mähen und Branden – aber soll eins deswegen auf die Kirchen vergessen? – Was kunnt er sagen drauf? Nichts. – Was ist's vor Zeit immer lustig gewesen am Magdalenentag! Leut' hat's geben beim Hausteinerwirt, daß die Trinkgläser zu wenig sind worden. Nicht einmal, oftmal hab' ich meinen Hut unter die Pippen gehalten. Gespielt, getanzt und gesungen ist worden. Räusch' hat's geben. – 's kommt alles ab. – Hi, Grull: Wald! –

Die Ochsen pfusterten und gingen ihren zähen Schritt über die Hochöde hin gegen die steile Lehnwiese, wo das Futter wuchs.[146]

»He, Hartl! Schlafst noch?« rief es jählings und eine Hand klatschte her. Der Knecht fuhr auf, rieb sich die Augen und griff nach dem Haupte, um den Hut zu rücken. Aber der Hut saß gar nicht oben.

Ein Schock Herren stand da. Der Bezirksrichter von Kindberg, und der Apotheker, und der Bräuer, und der Schullehrer von Krieglach, und der Kaufmann, und der Lederer und der Bader und noch ein paar Fremde. Ein geistlicher Herr war auch dabei. Der Bader hatte den Hartl aufgeschreckt.

Im Grunde war der Hartl ein sehr manierlicher Mensch, er wollte von seinem Karren springen, aber die Herren sagten, er möge nur sitzen bleiben, sie gingen bald wieder ihres Weges, sie wollten noch bis zur Spitze steigen, um den Sonnenaufgang zu sehen. Ob das der rechte Weg wäre?

»Ja, versteht sich, ist das der rechte Weg. Nur alleweil grad' auf!«

Die Gesellschaft folgte der Weisung; der Hartl blieb liegen auf dem Leiterkarren, die Ochsen trotteten schwerfällig über die Hochmatte dahin.

»Narren, das,« brummte der Hartl den Herren nach. »Die sind heut' um Mitternacht aufgestanden, heißt das, wenn sie schlafen gegangen und nicht etwa so lang im Extrazimmer sitzen geblieben sind. Und schnaufen mit Mühsal auf den Berg, daß sie den Sonnenaufgang sehen. Ist das so was Schönes? So lang' die Sonn' hinterm Berg ist, sieht man sie nicht; und ist sie heroben, so kann man sie nicht anschauen. Und kunnt man sie anschauen, was hätt' man davon – sie ist halt die Sonn' und von der kann man sich nichts herabbeißen. – Aber so Herren müssen[147] sich selber ihre Plag' machen, sonst hätten sie ein gar zu schönes Leben. Ein andermal schlafen sie wieder, bis ihnen die Sonn' in den Hals hinab scheint. Wissen nichts davon, wie's unsereinem geht, der alle Tag' im Stockfinstern muß die Hosen anlegen und schon wieder müd' und hungrig ist, bis die Sonn' ausgeht. Und jetzt auch schon an den Feiertagen. – 's ist ein Hundeleben, bei meiner Seel'! – Hi, geht's einmal weiter, ihr Viecher, ihr zaunmarterdürren!« Mit der Peitsche pfiff er den Ochsen eins über die Rücken.

Dieweilen ging schon die Sonne auf. Der Hartl lugte sie mit zwinkernden Augen an und lachte sie aus. Sie und die Herren, die ihretwegen über den Berg hinaufschwitzten. – »Möcht' wissen, was das Schönes ist! Nur die Augen tun einem weh. Heiß wird's und gleich ist man durstig. Mein Bauer, der Riegelberger, das weiß ich, der legt sich heut' schon einen Feiertag zu. Der ist christlich, der geht zur Meß und nachher ins Wirtshaus – und bleibt drin sitzen, bis es finster wird und nachher – wird das Licht angezündet. Unsereins muß in der Hitz' rackern den ganzen Tag. Geh' zum Teufel!«

Die Wut kam ihm plötzlich; aufsprang er und mit dem umgekehrten Peitschenstiel versetzte er den trägen Zugochsen ein paar tüchtige Schläge: »Das will ich sehen, ob ihr keine Füße habt, ihr Sakermenter!«

Er sah's, sie hatten Füße. Einen wilden Sprung machten sie im ersten Schreck und dann schossen sie schnaubend davon über die Höhe, über die Biegung, über die steile Lehnwiese nieder. Der Karren klapperte und hüpfte hoch auf. Der Hartl hielt sich mit Händen und Füßen an die Leitersprosseln, daß er nicht abgeschleudert wurde und rief mit aller Stimme den Ochsen zu: »Ho, Ho!«, daß[148] sie stehenbleiben sollten. Aber sie raseten schnurgerade in die die Tiefe hinab – gegen die schattenfinstere Felsenschlucht.

Der Hartl konnte sich noch eine Menge denken: »Jetzt ist mein letztes End'. Ade, du schöne Welt! Bin noch so jung – hätt' gern noch eine Zeit gelebt. Das geht ja wie der Wind. Dort steht der Buchenbaum mit dem grünen Platzel. Meine liebe Dirn. B'hüt dich Gott, meine liebe Dirn! – Damisch geht's talab. Dort drüben am Weg ist das Kreuz, wo sie allemal die Leichen abstellen, die sie von Alpel hinabtragen ins Pfarrdorf. Heut' ist Pfingstag, am Samstag stellen sie meine Truhen vors Kreuz... daß die Sonn' noch einmal drauf scheint. Unter der Erden ist's finster. Ade Welt! – Ho, Grull, ho, Wald! – Keine Menschenmöglichkeit mehr. Wir drei sind hin...«

An demselben Magdalenenmorgen war's, als ich unten im Tale an der Kohlstatt meines Vaters stand und den glimmenden Meiler zu überwachen hatte, daß das Feuer nicht ausschlug. Es war mir öde zumute neben dem schwarzen, langweiligen Haufen mit dem grauen Rauche. Ich blickte zu den Gipfeln der Berge auf, an denen schon die Morgensonne lag. Da hörte ich plötzlich ein Tosen und Rasseln – wußte anfangs nicht, woher es kam – sah's aber bald. Die steile Lehne herab schoß ein Gefährte mit Ochsen und Karren. Von letzterem war schon ein Rad abgegangen, das tanzte in der Luft und hüpfte selbständig hernieder, und die Achse schleifte im Gerölle, daß die Steine flogen. Und jetzt sah ich auch den Mann, der sich förmlich in die Leitern des Karrens verschlungen hatte. – Ein Unglück ist fertig, denk' ich noch und ruf' die heilige Magdalena an, daß sie an ihrem Ehrentag doch keinen solchen Jammer geschehen lasse. Da ist ein Krachen – die Ochsen fahren auf den Anger hinab, der Karren liegt in Trümmern an[149] einem Baumstrunk, in der Luft fliegt was und just vor meinem Meiler fällt ein Menschenfuß nieder.

Mir wird blau vor den Augen. Hat ihn zerrissen, denk' ich; es war aber kein Fuß, es war nur der Stiefel allein. Und von den Karrentrümmern her hinkt der Riegelberger Knecht, der Hartl. – Der Schuh weg, der Ärmel weit aufgerissen, einen Schurf am Schenkel, die Tabakspfeife beim Teufel... sonst war ihm nichts geschehen.

Er setzte sich aber auf meinen umgestülpten Wasserschöpfer, stützte den Kopf auf die Arme und war totenblaß.

Unten auf dem Anger grasten die Ochsen und jeder hatte ein Stück des zertrümmerten Joches an den Hörnern.

Ich brachte dem Hartl einen Topf Wasser – er trank nicht; brachte ihm ein Schälchen Milch – er trank nicht. Stumm wie der Fisch saß er da und stierte auf den schwarzen Boden. Ich stand ganz verzagt neben ihm und wußte nicht, was ich tun sollte.

Endlich – der helle Schein, der niederging über sein Gesicht, weckte ihn. Er erhob sich, breitete die Arme aus und blickte gegen den jenseitigen Waldkamm auf. –

Dort guckte eben die Sonne herfür. In funkelndem Vormittagsglanze stieg sie über den Waldrücken empor – und der Hartl lachte. Aber er lachte sie nicht aus und er lachte niemanden aus...

»Hab' allzuviel geschmäht,« so sagte er jetzt, »'s ist eine große Gnad' Gottes, daß mir die Sonnen heut' das zweite Mal aufgeht.«

Darauf hat er mir seine Morgenfahrt erzählt.

»Und jetzt geh' ich wohl gleich in die Kirchen und bedank' mich bei der heiligen Magdalena für ihren Beistand, daß mir nichts geschehen ist.« So schloß er. Dann[150] ging er. Und weil er zur Messe schon zu spät kam, so setzte er sich ins Wirtshaus, um das Wunder zu feiern, wie an einem Morgen ihm zweimal die Sonne aufgegangen war. –

Als er nach Hause wankte, ging sie schon unter. Er stand still, blickte sie mit verschwommenen Augen an und lallte: »Dieser Magdalenentag! In der Früh geht die Sonne zweimal auf und jetzt geht sie doppelt unter.«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 144-151.
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