Nachtklage

[155] Ein holder Jüngling, sagen uns die Alten,

Erscheint allnächtlich an der Ruhestätte,

Er neigt sich sinnbethörend über's Bette,

Still weiß er mit des Mohnes Kraft zu walten.


Das ist der Schlaf, er glättet alle Falten,

Zerreißt des Lebens ew'ge Bilderkette,

Und, daß er von des Tags Getrieb' uns rette,

Führt er den Reigen süßer Traumgestalten.


Ich sah ihn lange nicht, es naht statt seiner

Ein ander Bild mir schon seit vielen Nächten,

Ein holdes Mägdlein ist es anzusehen.


Doch nicht erbarmt es, wie der Schlaf, sich meiner,

Und, lächelt's gleich aus dunkeln Lockenflechten,

In Angst und Liebesschmerz muß ich vergehen.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 155.
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