Der Euangelisch gute hirt sucht das verlohren Schäfflein

[221] 1.

O Schäfflein vnbeschoren/

Du zartes wüllen Kind:

Ach wo dan gehst verlohren/

Daß dich so gar nit find?

In holen Felß- vnd Klufften/

Feld/ Wiesen/ Berg/ vnd Thal/

Auff müden bein- vnd hufften

Dich such ich vberall.


2.

Mit seufftzen vngezehlet

Ich Lufft/ vnd Wolcken spalt/

Daß Leyd/ mit leyd vermählet

Sich mehret hundertfalt:[221]

Die zähr mir han zerschlissen

Wol halbe wangen beyd/

Weil nie von dir mag wissen;

Wer jrr-weg dich verleyt.


3.

Vnd ach! was auch muß dencken

Der fromme Vatter mein/

Sich weil so späth last fencken

Das wüllen Wiltprat sein?

Daß Thierlein er/ das eintzig

Kurtzumb wil wider han/

Ob wol noch neun vnd neuntzig

Auff grünem wasen gahn.


4.

Wolan/ wolan/ dort eben

In jenem Bircken-waldt/

Mich dünckt sichs thut erheben/

Ey da/ da lieber halt.

Halt/ halt/ ichs muß ertappen/

Wil sehn mirs nit entspring:

Nun soll mirs nicht entschappen/

Wil wetten mirs geling.


5.

O wee doch meiner lenden!

O wee/ werd schwach/ vnd kranck!

Mich streiffen aller enden

Die Bircken-gerten schwanck:[222]

Vnd ach der pein/ vnd qualen!

Daß Thierlein ist entwischt;

Mir bleiben allemahlen

Das glück/ vnd spiel vermischt.


6.

Doch dort in jener hecken/

Da dannoch düncket mich/

Da bleibets gar bestecken;

Dort hör ichs regen sich.

Ja wärlich da/ da drinnen

Da möchts in warheit sein:

Wils greiffen da mit sinnen/

Wil schleichen sanfft hinein.


7.

Ach aber/ ach mit nichten/

Ach aber nein/ ach nein/

Als vil ichs kan entrichten/

Ist nit nochs Thierlein mein.

Vergebens nur verletzet

Mich hab in dörnen spitz/

Das haupt mir gar zerfetzet

Ist voller fewr/ vnd hitz.


8.

Ey dorten doch/ dort oben

Auff jener schedel-statt/[223]

Ein Creutz-baum frisch erhoben

Die näst ersträcket hat.

Da düncket mich gar eben

Dörffts haben seinen gang/

Jhm da denck nach zu streben/

Hoff dort ichs endlich fang.


9.

Doch müd mich auff den beinen

Ich mehr mag halten kaum:

An dich dan muß ich leinen/

O starcker Eichen-baum.

Ach Schäfflein außerkohren/

Ach kämest/ kämest noch!

Mit mir dochs ist verlohren/

Muß ich wol sterben doch.


10.

Mit armen außgestrecket/

Wil deiner warten hie;

Mirs leben mehr nit schmecket/

Alweil noch seumest je.

O Vatter dir zun händen

Mein Seel von hinnen reist;

Zu dir wol muß ich senden/

Schaw da dan/ meinen Geist.


Vorgehende Ode findet der Leser im Psälterlein PP. Societ. Jesu schier auff selbigen sinn, aber mit anderen vvorten gestellt, pag. 246. Cöllnische
[224]


Trucks, mit dem Titel: Christus sucht das verlohrne Schäfflein: Ein Schäfflein usw.


Quelle:
Friedrich Spee: Trutznachtigall, Halle a.d.S. 1936, S. 221-225.
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Trutznachtigall
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