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[225] 1.
Bey stiller nacht/ zur ersten wacht
Ein stimm sich gund zu klagen.
Ich nam in acht/ waß die doch sagt;
That hin mit augen schlagen.
2.
Ein junges blut von sitten gut/
Alleinig ohn geferdten/
In großer noth fast halber todt
Im Garten lag auff Erden.
3.
Es wahr der liebe Gottes-Sohn
Sein haupt er hat in armen.
Viel weiß- vnd bleicher dan der Mon
Eim stein es möcht erbarmen.
4.
Ach Vatter/ liebster Vatter mein
Vnd muß den Kelch ich trincken?
Vnd mags dan ja nit anders sein?
Mein Seel nit laß versincken.
[225]
5.
Ach liebes kind/ trinck auß geschwind;
Dirs laß in trewen sagen:
Sey wol gesinnt/ bald vberwind/
Den handel mustu wagen.
6.
Ach Vatter mein/ vnd kans nit sein?
Vnd muß ichs je dan wagen?
Wil trincken rein/ den Kelch allein/
Kan dirs ja nit versagen.
7.
Doch sinn/ vnd muth erschrecken thut/
Sol ich mein leben lassen?
O bitter Tod! mein angst/ vnd noth
Ist vber alle massen.
8.
Maria zart/ Jungfräwlich art/
Soltu mein schmertzen wissen;
Mein leiden hart zu dieser fahrt/
Dein hertz wär schon gerissen.
9.
Ach mutter mein/ bin ja kein stein;
Das hertz mir dörfft zerspringen:
Sehr große pein/ muß nehmen ein/
Mit todt/ vnd marter ringen.
10.
Adè/ adè zu guter nacht
Maria mutter mildte![226]
Ist niemand der dan mit mir wacht/
In dieser wüsten wilde?
11.
Ein Creutz mir für den augen schwebt/
O wee der pein/ vnd schmertzen!
Dran soll ich morgen wern erhebt/
Daß greiffet mir zum hertzen.
12.
Viel Ruthen/ Geissel/ Scorpion
In meinen ohren sausen:
Auch kombt mir vor ein dörnen Cron;
O Gott/ wem wolt nit grausen!
13.
Zu Gott ich hab geruffen zwar
Auß tiefen todtes banden:
Dennoch ich bleib verlassen gar/
Ist hilff noch trost vorhanden.
14.
Der schöne Mon/ wil vndergohn/
Für leyd nit mehr mag scheinen.
Die sternen lan jhr glitzen stahn/
Mit mir sie wollen weinen.
15.
Kein vogel-sang/ noch frewden-klang
Man höret in den Lufften/
Die wilden thier/ trawrn auch mit mir/
In steinen/ vnd in klufften.
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