[132] Vom 23. Juni ab wendet sich die Sonne wieder der südlichen Halbkugel zu, und damit ist die Zeit gekommen, die Gegend zu verlassen, wo es nun bald stürmische und rauhe Witterung geben wird. Mit der Bewegung des Tagesgestirns nach der Aequinoctiallinie hin, empfiehlt es sich, ihm möglichst zu folgen. Jenseits derselben herrscht ein angenehmes Klima und trotz ihrer Namen, October, November, December, Januar und Februar bringen diese Monate daselbst gerade die warme Jahreszeit. Die Strecke, die die Hawaï-Inseln von den Marquisen trennt, beträgt dreitausend Kilometer. Standard-Island muß diese Entfernung bald durchmessen und nimmt deshalb die größtmögliche Geschwindigkeit an.
In diesem Theile des Meeres liegt das eigentliche Polynesien. Bei einem Flächenraume von fünf Millionen Quadratkilometern finden sich hier fünf Gruppen, die aus hundertzwanzig Inseln und Eilanden bestehen. Es sind das die Gipfel unterseeischer Berge, deren Kette sich von Nordwest nach Südost bis zu den Marquisen und zur Insel Pitcairn hinzieht, wobei sie mehrere, fast parallele Verzweigungen ausschickt.
Wenn man sich vorstellt, daß dieses weite Becken sich plötzlich entleerte, wenn der von Kleophas befreite hinkende Teufel diese Wassermassen ebenso abhübe, wie die Hausdächer in Madrid, da würde sich den Blicken eine wunderbare Landschaft zeigen. Keine Schweiz, kein Norwegen, kein Tibet könnte sich an Größe mit ihr messen. Von diesen unterseeischen Bergen, deren meiste vulcanischer Natur[132] sind, bestehen einige andre – madreporischen Ursprunges – aus einer kalkigen oder hornartigen Masse, die einst in concentrischen Schichten von Polypen, den so einfach organisierten Strahlenthieren, denen eine ungeheure Productionskraft innewohnt, abgesondert wurden. Die jüngsten dieser Inseln haben nur auf ihrem Gipfel eine leichte Pflanzendecke; die andern, bei denen die Vegetation von oben bis nach unten reicht, sind die ältern, wenn sie auch korallischen Ursprungs sind. Unter den Fluthen des Großen Oceans verbirgt sich also ein ganzes Gebirgssystem. Standard-Island gleitet über dessen Gipfel hinweg etwa wie ein Ballon zwischen den Spitzen der Alpen oder des Himalaya – nur wird es nicht von der Luft, sondern vom Wasser getragen.
Doch wie es in der Atmosphäre breite Strömungen giebt, so kennt man auch solche auf der Oberfläche dieses Oceans. Die große Strömung geht von Osten nach Westen, während mehr in der Tiefe zur Zeit, wenn die Sonne nach dem Wendekreise des Krebses geht, zwei Gegenströmungen beobachtet werden. An den Kästen von Tahiti hat man auch vier Arten von Fluth, die nicht überall gleichzeitig eintreten und deshalb die Ebbe fast unmerkbar machen. Das Klima der einzelnen Archipele ist sehr verschieden. Die bergigen Inseln halten die Wolken auf, die ihren Regen auf sie ergießen; die niedrigeren sind mehr trocken, weil alle Dämpfe von den herrschenden Winden aufgelöst und weggetrieben werden.
Wie zu erwarten, besaß die Bibliothek des Casinos eine reiche, sogar vollständige Sammlung von Karten über den Stillen Ocean, die Frascolin, der Ernsthafteste der Truppe, häufig studiert. Yvernes zieht es vor, auf alle Zwischenfälle der Fahrt zu achten, die künstliche Insel zu bewundern und dergleichen, er hat aber offenbar wenig Neigung, sein Gehirn mit geographischen Kenntnissen zu beschweren. Pinchinat nimmt alles von der heitern oder phantastischen Seite. Sebastian Zorn kümmert sich ganz und gar nicht um die Fahrt, weil er an dieser sehr gegen seinen Willen theilnimmt.
Frascolin ist also der Einzige, der sich eingehend von Polynesien unterrichtet, die Hauptinselgruppe desselben, die niedrigen Inseln, die Marquisen, die Pomotu- und die Gesellschafts-Inseln, die Inseln Cook's. die Tonga- und Samoa-, sowie die Austral-Inseln, die Wallis- und Fanning-Inseln studiert, ohne von den einzeln liegenden Nine, Tokolau, Phönix, Manahiki, der Oster-Insel und von Sala y Gomez und andern zu reden. Er erfährt dabei, daß die Herrschaft in den meisten dieser Archipele, selbst in denen, die unter Protectorat stehen, in[133] den Händen mächtiger Häuptlinge liegt, deren Einfluß niemals bestritten worden ist, und daß die armen Classen den reichen vollständig unterworfen sind. Er lernt, daß außer der, allerdings am meisten verbreiteten katholischen Religion, die Eingebornen auch noch dem Brahmanismus, dem Islam und dem Protestantismus huldigen. Er lernt dabei, daß die Sprache der Eingebornen, die ein sehr einfaches Alphabet haben, da es nur aus dreizehn bis siebzehn Lautzeichen besteht, schon jetzt mit dem Englischen stark vermischt ist und später in diesem ganz aufzugehen droht; ebenso, daß die Bevölkerung Polynesiens unleugbar im Abnehmen ist, was gewiß bedauerlich erscheint, da der Typus der Kanaken – das Wort bedeutet »Mann« – wirklich schön zu nennen ist. Polynesien verliert an ethnographischem Interesse sicher ganz ungemein durch das wachsende Uebergewicht der fremden Rassen. Ueber alles das erhält er Aufklärung, vorzüglich durch häufige Gespräche mit dem Commodore Ethel Simcoë, und wenn ihn seine Kameraden über etwas ähnliches fragen, so ist er nie um eine Antwort verlegen.
Pinchinat nennt ihn darum schon gar nicht mehr anders als den »Larousse der Tropenzonen«.
Derart sind also die Inselgruppen, zwischen denen Standard-Island seine reiche Einwohnerschaft spazieren führt. Sie verdient wirklich den Namen der glücklichen Insel, denn Alles, was das leibliche und soweit es möglich, das geistige Glück sichern kann, ist hier vorgesehen, und darum erscheint es um so bedauerlicher, daß diese Sachlage durch Rivalitäten, Eifersüchteleien und dergleichen gestört zu werden droht, durch Meinungsverschiedenheiten, die Milliard-City in zwei Feldlager ebenso trennt, wie es in zwei Stadthälften getheilt ist. Für unsre Künstler, die hieran ja unbetheiligt sind, verspricht der Streit wenigstens recht interessant zu werden.
Jem Tankerdon ist durch und durch Yankee. Er hat ein großes Gesicht mit röthlichem Barte, kurzes Haar und trotz seiner sechzig Jahre noch sehr lebhafte Augen. Von hohem Wuchse, hat er einen mächtigen Torso und kräftige Gliedmaßen. Er ähnelt ein wenig den Trappern in den Prairien, obwohl er, was die Fallen angeht, niemals andre aufgestellt hat als die, durch die er die Millionen von Schweinen in seine Speicher von Chicago eintrieb. Er ist ferner etwas heftig von Charakter, obschon man erwarten sollte, daß die Stellung, die er hier einnahm, ihn hätte etwas abschleifen sollen; leider fehlte es ihm aber an der ersten Erziehung. Darum liebt er es auch, mit seinem Reichthum zu[134] glänzen, und hat, wie man zu sagen pflegt, »eine klingende Tasche«. Dennoch scheint sie ihm immer noch nicht voll genug zu sein, denn er denkt mit einer Anzahl andrer Bewohner seiner Bordseite daran, die frühern Geschäfte wieder aufzunehmen.
Mrs. Tankerdon ist eine Amerikanerin wie alle, eine gute, ihrem Manne sehr ergebne Frau, eine vortreffliche Mutter, voll Liebe zu ihren Kindern und wie es scheint, bestimmt, eine zahlreiche Nachkommenschaft zu haben. Hat man zwei Milliarden unter seinen directen Nachkommen zu vertheilen, so kann man deren schon ein Dutzend haben, sie werden ja trotzdem noch anständig versorgt sein.
Von dieser ganzen Gesellschaft zog nur der älteste Sohn die Aufmerksamkeit unsrer Künstler auf sich, und gerade dieser sollte in unsrer Geschichte noch eine gewisse Rolle spielen. Walter Tankerdon, eine elegante Erscheinung mit mäßigen Anlagen, doch mit gewinnendem Auftreten und hübschen Gesichtszügen, hatte mehr von Mrs. Tankerdon als von dem Familienoberhaupt an sich. Ausreichend unterrichtet, denn er hat Europa und Amerika durchstreift, reist er noch jetzt zuweilen, fühlt sich aber immer wieder nach Standard-Island zurückgezogen. Mit allen sportlichen Uebungen vertraut, steht er, wenn es sich um Polo, Golf oder Crocket handelt, an der Spitze der Milliardeser Jugend. Auf sein ihm einmal zufallendes Vermögen bildet er sich gar nichts ein und ist von Herzen wirklich ein guter Mensch. Wegen Mangels an bedürftigen Leuten auf der Insel, hat ihm freilich jede Gelegenheit gefehlt, sich als Wohlthäter zu erweisen. Immerhin ist es zu wünschen, daß seine Brüder und Schwestern ihm gleichen. Letztere sind noch zu jung, um an eine Heirat zu denken, er aber zählt nahe an die Dreißig, und hat alle Ursache dazu. Ob er wohl daran denkt? Das wird sich im weitern zeigen. Ein greller Contrast besteht zwischen der Familie Tankerdon, der ersten auf der Backbordhälfte, und der Familie Coverley, der hervorragendsten auf der Steuerbordhälfte. Nat Coverley ist von feinerem Schlage als sein Rival, er verräth die französische Abstammung seiner Vorfahren. Sein Vermögen entstammt weder den Eingeweiden des Erdbodens in Gestalt von Petroleumansammlungen, noch den dampfenden Eingeweiden der Schweinerasse. Ihn haben industrielle Unternehmungen, Eisenbahnen und Bankgeschäfte zu dem gemacht, was er ist. Er denkt nur daran, seine Reichthümer in Frieden zu genießen – und macht auch kein Hehl daraus – und er würde sich jedem Versuche, das Juwel des Oceans in eine riesige Fabrik oder ein ungeheures Handelshaus umzuwandeln, mit allen Kräften widersetzen. Groß und gut gewachsen, mit hübschem Kopf,[135] vollem, ins Graue schillerndem Haare, trägt er einen Vollbart, dessen Braun sich schon einzelne Silberfäden beigemischt haben. Von kühlem Charakter und vornehmen Manieren, nimmt er den ersten Rang unter den Notabeln ein, die in Milliard-City die Ueberlieferungen der höchsten Gesellschaftskreise Südamerikas bewahren. Er liebt die Künste, versteht sich auf Malerei und Musik, bedient sich gern der unter den Steuerbordbewohnern viel angewendeten französischen Sprache, hält sich auf dem Laufenden bezüglich der amerikanischen und europäischen Literatur und ruft seine Bravos und Bravas, wenn die roheren Typen aus dem Far-West und aus Neu-England ihre Hurrahs und Hips ertönen lassen.
Mrs. Coverley, die zehn Jahre jünger ist als ihr Mann, hat eben – und ohne sich groß darüber zu beklagen – die Schwelle der Vierzig überschritten. Eine elegante vornehme Dame, rührt sie aus einer der halbcreolischen Familien des alten Luisiana her, und ist eine ausgezeichnete Pianistin – denn man darf nicht glauben, daß ein Reyer des 20. Jahrhunderts das Piano aus Milliard-City verbannt hätte. In ihrem prächtigen Hause in der Fünfzehnten Avenue hat das Quartett ja häufig Gelegenheit, mit ihr zu musicieren, und kann nicht umhin, sie wegen ihrer musikalischen Talente zu beglückwünschen.
Der Himmel hat den Ehebund der Coverley's nicht so reich gesegnet wie den der Tankerdon's. Drei Töchter sind die einzigen Erbinnen eines ungeheuern Vermögens, womit Mr. Coverley nicht so prahlt, wie sein Rival. Sie sind sehr hübsch und an Freiern wird es ihnen aus den besten Kreisen der Alten wie der Neuen Welt gewiß nicht fehlen, wenn sie sich einmal verheiraten wollten. In Amerika ist eine so große Mitgift übrigens gar nicht so selten. Vor wenigen Jahren erst war mehrfach von der kleinen Miß Terny die Rede, um die sich wegen ihrer siebenhundertfünfzig Millionen junge Männer schon bewarben, als sie nur – zwei Jahre zählte. Hoffentlich hat sich das Kind nach seinem Geschmack verheiratet, so daß es nicht nur die reichste, sondern auch die glücklichste aller Ehefrauen in den Vereinigten Staaten geworden ist.
Die älteste Tochter der Familie Coverley, Diana oder vertraulich nur Dy genannt, zählt kaum zwanzig Jahre. Sie ist eine sehr schöne Erscheinung, in der sich die körperlichen und seelischen Eigenschaften ihres Vaters und ihrer Mutter vereinigt wiederfinden. Mit reizenden blauen Augen, einem reichen Haar von einer zwischen braun und blond liegenden Färbung, rosigem Teint, eleganter und graziöser Haltung, erscheint es erklärlich, daß sie den jungen Herren in Milliard-City in die Augen sticht, und daß diese die Eroberung des »unzählbaren[136] Schatzes« – hier ein mathematisch richtiger Ausdruck – gewiß Fremden nicht überlassen werden. Es ist sogar anzunehmen, daß Mr. Coverley in einer Verschiedenheit der Religion kein Hinderniß einer Verbindung sehen würde, wenn er dadurch das Glück seiner Tochter gesichert wüßte.
In der That ist es bedauerlich, daß gesellschaftliche Eifersüchteleien die beiden sonst am besten für einander geschaffenen Familien von Standard-Island trennen. Walter Tankerdon erschien ja mehr als jeder andre geeignet, der Gatte Dy Coverley's zu werden.[137]
Hieran ist aber leider gar nicht zu denken. Eher würde Standard-Island in zwei Theile zerschmettert und führen die Backbordbewohner mit einer Hälfte, die Steuerbordbewohner mit der andern Hälfte ab, ehe ein solcher Ehecontract zu Stande käme.
»Wenn nicht die Liebe in der Geschichte dennoch den Ausschlag giebt!« sagte zuweilen der Oberintendant, der unter seinem goldnen Klemmer mit den Augen zwinkerte.
Es scheint aber nicht so, als ob Walter Tankerdon eine besondre Zuneigung für Dy Coverley – oder umgekehrt – empfände. Wenn es doch der Fall wäre, so legten sich wenigstens Beide eine ungeheure Zurückhaltung auf, die selbst die Neugierde der vornehmen Welt von Milliard-City täuschte.
Ungefähr dem hundertsechzigsten Meridian folgend, segelt die Propeller-Insel weiter nach dem Aequator hinunter. Vor ihr liegt jetzt der Theil des Stillen Oceans, der die wenigsten Inseln und Eilande aufweist und dessen Tiefe bis auf zwei Lieues – eine Tiefe von sechstausend Metern – reicht, aus der mit der Sonde jene merkwürdigen Muscheln oder Zoophyten herausgebracht werden, die so beschaffen sind, daß sie den ungeheuern, auf sechshundert Atmosphären geschätzten Wasserdruck auszuhalten vermögen.
Fünf Tage später gelangt Standard-Island nach einer Gruppe, die englisches Besitzthum ist, obwohl sie die der Amerikanischen Inseln genannt wird. Nachdem es Palmyra und Suncarung zur Rechten gelassen, nähert es sich bis auf fünf Meilen Fanning, einer der zahlreichen und hier der wichtigsten Guanolagerstätten des Archipels. Im übrigen haben die mehr kahlen Berge dem Vereinigten Königreich bisher noch keinen besondern Nutzen gebracht. Es hat aber seinen Fuß auf diese Stelle gesetzt, und jedermann weiß, daß der große Fuß Englands gewöhnlich unverwischbare Eindrücke hinterläßt.
Jeden Tag, wenn seine Kameraden den Park oder das benachbarte Feld durchstreifen, begiebt sich Frascolin, den alle Einzelheiten dieser merkwürdigen Fahrt lebhaft interessieren, nach der Rammspornbatterie. Hier trifft er häufig mit dem Commodore zusammen, und Ethel Simcoë belehrt ihn gern über alle eigenthümlichen Meereserscheinungen. Sind diese von einigem weitern Interesse, so unterläßt es die zweite Geige nie, auch den Andern davon Mittheilung zu machen.
Ein solches Ereigniß trat z. B. in der Nacht vom 30. zum 31. Juli ein.
Am Nachmittage schon wurde eine große, mehrere Quadratmeilen bedeckende Akalephenbank gemeldet. Die Bevölkerung hatte noch nie Gelegenheit gehabt,[138] solchen Mengen von Medusen zu begegnen, denen verschiedne Naturforscher den Namen Oceanien gegeben haben. Diese Thiere haben nur ein sehr eingeschränktes Leben und grenzen mit ihrer halbkugligen Gestalt schon an die Pflanzenwelt. So beutegierig die Fische im allgemeinen sind, scheinen sie jene doch mehr als Blumen anzusehen, denn keiner bedient sich derselben als Nahrung. Die der heißen Zone des Stillen Weltmeers eigenthümlichen Oceanien zeigen sich ausschließlich in Gestalt vielfarbiger Schirme, die durchsichtig und mit Fühlfäden ausgestattet sind. Sie messen nicht mehr als zwei bis drei Centimeter. Wie viele Milliarden gehören also dazu, eine Bank von solcher Ausdehnung zu füllen!
Bei Erwähnung dieser Zahlen in Gegenwart Pinchinat's antwortete dieser:
»Ei was, den steinreichen Notabeln von Standard-Island, bei denen die Milliarde Scheidemünze ist, kann das auch nicht besonders imponieren!«
Später am Abend hat sich ein Theil der Einwohnerschaft nach dem »Vorderkastell«, das heißt nach der Terrasse begeben, die die Rammspornbatterie überragt. Die Tramwagen sind überfüllt, elektrische Wagen strotzen von Neugierigen. Elegante Wagen haben die Nabobs der Stadt hierher gebracht. Die Coverley's und die Tankerdon's fahren in einiger Entfernung von einander. M. Jem grüßt nicht M. Nat, der auch wieder M. Jem nicht grüßt. Beide Familien sind übrigens vollzählig zur Stelle. Yvernes und Pinchinat haben das Vergnügen, mit Mrs. Coverley und deren Tochter, die sie stets freundlich empfangen, zu plaudern. Vielleicht ärgert sich Walter Tankerdon im Stillen, an der Unterhaltung nicht theilnehmen zu können, und vielleicht hätte auch Miß Dy Coverley gern mit dem jungen Manne gesprochen. Doch das hätte vielleicht einen hellen Aufruhr erregt und in den beiden Zeitungen der Insel wären darüber gewiß indiscrete Anschuldigungen zu lesen gewesen.
Nach Eintritt vollständiger Dunkelheit, so viel von einer solchen bei den sternenhellen Nächten der Tropenzone die Rede sein kann, scheint es, als ob das Meer bis tief hinunter aufleuchte. Die ganze Wasserfläche glänzt von phosphorescierendem Schein, von röthlichen oder blauen Lichtreflexen, die aber nicht nur auf den Wellenkämmen spielen, sondern vom Wasser selbst auszugehen scheinen. Dieser Lichtschein wird so stark, daß man dabei wie bei einem entfernten Nordlicht sogar lesen kann. Es sieht aus, als ob der Stille Ocean, nach dem er sich am Tage mit den Strahlen der Sonne gesättigt hatte, diese in der Nacht zurückerstatten wolle.[139]
Bald schneidet der Bug von Standard-Island in die Masse der Akalephen ein und theilt sie längs des metallnen Ufers in zwei Ströme. Nach wenigen Stunden ist die Schraubeninsel von einem Gürtel von Noctiluken umschlossen, dessen Lichtquelle sich noch immer nicht verändert. Die Erscheinung glich einer Aureole, dem Strahlenkranze um die Bilder der Heiligen, wie man ihn um das Haupt Jesu Christi immer zu sehen gewöhnt ist. Das Phänomen dauert bis zum Anbruch des Tages, wo es beim ersten Frühroth endlich erlischt.
Sechs Tage später berührt das Juwel des Stillen Oceans den großen, gedachten Kreis unsres Sphäroids, der, wenn wirklich aufgezeichnet, den Horizont in zwei gleiche Hälften theilen würde. Hier kann man zu gleicher Zeit beide Pole des Himmels sehen, den nördlichen, der durch den flammenden Polarstern, und den südlichen, der durch das glänzende Kreuz, wie die Brust eines Soldaten, mit dem südlichen Kreuz geschmückt ist. Wir fügen hier ein, daß an den verschiednen Stellen des Aequators die Sterne jeden Tag eine zum Horizont perpendiculäre Kreislinie zu beschreiben scheinen. Will man stets gleich lange Tage und Nächte haben, so muß man sich nach Inseln oder Festländern begeben, die vom Aequator durchschnitten werden.
Seit seiner Abfahrt vom Hawaï-Archipel hat Standard-Island eine Strecke von etwa sechshundert Kilometern zurückgelegt. Es ist jetzt das zweitemal, daß es sich von einer Hemisphäre zur andern begiebt, wobei es die Linie das erstemal in der Richtung von Norden nach Süden und jetzt in umgekehrter Folge durchschnitt. Gelegentlich dieser »Passage« wird für die Bewohner von Milliard-City ein Fest veranstaltet. Im Tempel und in der Kathedrale sollen Gottesdienste abgehalten, im Park sollen Spiele aller Art veranstaltet werden. Von der Plattform des Observatoriums wird ein Feuerwerk abgebrannt werden, das bezüglich seines Glanzes mit dem der Sterne wetteifern kann.
Der Leser erkennt, daß es sich hierbei um eine Nachahmung der Aufführungen handelt, die auf Schiffen stattfinden, wenn sie den Aequator berühren, ein Seitenstück zu der gewöhnlichen »Linien-Taufe«. Dieser Tag wird immer gewählt, um die Kinder zu taufen, die seit der Abfahrt von der Madeleinebay geboren worden waren. Einer gleichen Taufceremonie haben sich die Fremden zu unterziehen, die die Linie noch nicht passiert hatten.
»Da kommen wir diesmal daran, sagte Frascolin zu seinen Kameraden, wir werden schon die Taufe erhalten!
– Bleibt mir damit vom Leibe! ruft Sebastian Zorn mit lebhafter Empörung.[140]
– Ja, mein alter Baßkratzer, erwidert Pinchinat, da gießt man uns aus einem großen Eimer ungeweihtes Wasser über den Kopf, setzt uns auf schaukelnde Bretter, von denen wir in Wasserkufen fallen, und dann erscheint der Herr Meeresgott der Tropen mit seinem Gefolge von Possenreißern, um uns das Gesicht gemüthlich einzutheeren!
– Sie werden doch nicht glauben, ruft Sebastian Zorn, daß ich mich dieser Harlequinade unterwerfe!...
– Das wird nicht zu umgehen sein, sagte Yvernes. Jedes Land hat seine Sitten, und wer es besucht, muß sich ihnen unterwerfen...
– Nur dann nicht, wenn man ein unfreiwilliger Gast darin ist!« erklärt der unbeugsame Chef des Concert-Quartetts.
Nun, er hätte sich beruhigen können wegen dieser Harlequinade, mit der sich manche Schiffe beim Passieren der Linie ergötzen. Er braucht auch das Erscheinen des Tropengottes nicht zu fürchten. Ihn und seine Kameraden wird niemand mit Seewasser taufen, sondern mit Champagner der besten Marke. Ebenso wird es niemand einfallen, ihnen den Aequator zu zeigen, den man schon vorher auf das Objectiv des Fernrohres gezeichnet hatte. Dergleichen paßt für Matrosen auf der Fahrt, nicht für die ernsten Leute von Standard-Island.
Das Fest findet am Nachmittag des 5. Juli statt. Außer den Zollwächtern, die ihren Posten nie verlassen dürfen, haben alle Beamten Urlaub erhalten. In der Stadt und in den Häfen ruht jede Arbeit – selbst die Schrauben bewegen sich nicht. Die Accumulatoren enthalten eine solche Menge Volts, daß diese für die Beleuchtung und die elektrischen Wagen ausreichen. Standard-Island liegt deshalb aber nicht völlig still, eine Strömung führt es nach der Linie, die beide Erdhälften scheidet. Gesänge und Gebete steigen in den beiden Kirchen zum Himmel und die Orgeln erklingen mit voller Kraft. Im Park, wo man sich allerlei Sportübungen hingiebt, herrscht nachher eitel Lust und Freude. Heute sind alle Classen hier vermischt. Die reichsten großen Herren und Walter Tankerdon an der Spitze verrichten im Golf und Lawntennis wahre Wunder. Wenn die Sonne lothrecht unter den Horizont gesunken und die nur fünfundvierzig Minuten dauernde Dämmerung zu Ende ist, wird das Feuerwerk prasselnd emporsteigen, und eine mondlose Nacht wird dieses glänzende Schauspiel unterstützen.
Im großen Saale des Casinos wird das Quartett in der erwähnten Weise, und zwar von Cyrus Bikerstaff's eigner Hand, getauft. Der Gouverneur bietet[141] ihm die schäumenden Gläser und der Champagner fließt in Strömen. Fleißig schlürfen die Künstler den edlen Cliquot und Röderer. Sebastian Zorn hat gewiß keine Ursache, sich über diese Taufe zu beklagen, die ihn in keiner Weise an das salzige Wasser erinnert, mit dem seine Lippen nach der Geburt benetzt wurden.
Die Pariser bringen ihren Dank für alle Freundlichkeiten dadurch dar, daß sie die besten Stücke ihres Repertoires aufspielen. Das siebente Quartett in E- Dur, Op. 59 von Beethoven, das vierte Quartett in A-moll, Op. 10 von Mozart, das vierte Quartett in Des-Dur, Op. 17 von Haydn und ein herrliches Werk von Mendelssohn. Die Zuhörer erweisen sich im höchsten Grade dankbar, man drängt sich an den Thüren und erwürgt sich fast im Saale, die Musikstücke müssen zwei- auch dreimal wiederholt werden, und der Gouverneur überreicht den Vortragenden dafür eine goldne, mit Diamanten eingefaßte Medaille, die auf der einen Seite das Wappen von Milliard-City zeigt, auf der andern in französischer Sprache die Inschrift:
Dem Concert-Quartett gewidmet
von der Gesellschaft, den Stadtbehörden und der
Einwohnerschaft von Standard-Island.
Wenn alle diese Ehrenbezeugungen dem unversöhnlichen Violoncellisten nicht zu Herzen gehen, kommt das entschieden daher, daß ihm ein beklagenswerther Charakter eigen ist, was seine Kameraden ihm auch öfters ins Gesicht sagen.
»Warten wir erst das Ende ab!« Das ist dann, während er mit fiebernden Händen im Barte wühlt, seine ganze Antwort.
Um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten des Abends – die Astronomen von Standard-Island haben es ausgerechnet – befindet sich die Schraubeninsel gerade über der Linie. In diesem Augenblick soll von der Rammspornbatterie ein Kanonenschuß gelöst werden. Ein Draht verbindet die Batterie mit dem elektrischen Apparat in der Mitte des Observatoriums. Für denjenigen Notablen, dem es zufällt, die furchtbare Detonation durch Schließung des Stromes hervorzubringen, ist das eine ganz besondre Befriedigung der Eigenliebe.
Am heutigen Tage machen darauf zwei Persönlichkeiten Anspruch – natürlich Jem Tankerdon und Nat Coverley. Cyrus Bikerstaff kommt dadurch in die größte Verlegenheit. Zwischen dem Stadthause und den beiden Hälften der Stadt haben darüber schon peinliche Verhandlungen stattgefunden, ohne zu[142] einer Einigung zu führen. Auf Einladung des Gouverneurs hat sich auch Calistus Munbar dabei betheiligt. Doch trotz seiner bekannten Geschicktlichkeit und seines diplomatischen Geistes vermag der Oberintendant leider gar nichts auszurichten. Jem Tankerdon will einmal nicht vor Nat Coverley, und dieser nicht vor jenem zurücktreten. Alle erwarten eine heftige Scene.
Diese entwickelt sich auch sofort, als die beiden »Chefs« sich begegnen. Der Apparat steht nur fünf Schritte weit entfernt, es braucht nur einer den Knopf daran mit dem Finger zu drücken...
Ueber diese Schwierigkeiten unterrichtet, hat sich eine große, neugierige Volksmenge in der Nähe angesammelt.
Nach dem Concert haben sich auch Sebastian Zorn, Yvernes, Frascolin und Pinchinat nach dem Square begeben, um zu sehen, wie der Wettstreit enden wird. Bei der Stimmung, wie sie unter den Anhängern der beiden Männer herrscht, hat dieser Streit eine gewisse Bedeutung für die Zukunft.
Die beiden Notabeln treten vor, ohne sich auch nur durch eine schwache Neigung des Kopfes zu begrüßen.
»Ich erwarte, mein Herr, beginnt Jem Tankerdon, daß Sie mir nicht die Ehre streitig machen werden...
– Ganz dasselbe erwarte ich von Ihnen, mein Herr, erwidert Nat Coverley.
– Ich werde nicht zugeben, daß mir dieselbe hier öffentlich vorenthalten wird...
– Und ich ganz ebenso...
– Nun, wir werden la sehen!« ruft Jem Tankerdon, indem er schon einen Schritt nach dem Apparat hin thut.
Nat Coverley thut aber auch einen. Die Parteigänger der beiden Notabeln fangen an sich einzumischen. Von beiden Seiten her schallen aufhetzende Rufe. Natürlich ist Walter Tankerdon bereit, für die Rechte seines Vaters einzutreten, doch da er die Miß Coverley erblickt, hält er sich ein wenig bei Seite und fühlt sich offenbar nicht wenig verlegen.
Der Gouverneur ist, obwohl er den Oberintendanten zur Hilfe an der Seite hat, in heller Verzweiflung, die weiße Rose von York und die rothe von Lancaster nicht zu einem Sträußchen vereinigen zu können, denn wer konnte vorhersagen, ob dieser beklagenswerthe Wettstreit hier nicht ebenso traurige Folgen haben werde, wie der im 15. Jahrhundert für die englische Aristokratie.
Inzwischen nähert sich die Minute, wo die Spitze vom Standard-Island den Aequator schneiden soll. Bis auf eine Viertelsecunde genau berechnet, kann es[143] sich räumlich höchstens um einen Irrthum von acht Metern handeln. Jeden Augenblick kann nun von Observatorium aus das verabredete Signal gegeben werden.
»Halt! da kommt mir ein Gedanke! flüstert Pinchinat.
– Und der wäre?... fragt Yvernes.
– Ich werde den ganzen Apparat umzuwerfen versuchen, da werden die Kampfhähne wohl einig werden...[144]
– Nein, thu' das nicht!« mahnte Frascolin, den Bratschisten mit kräftigem Arme aufhaltend.
Kurz, niemand weiß, wie die Sache ausgelaufen wäre, da donnert plötzlich eine Detonation durch die Luft...
Sie rührte jedoch nicht von der Rammspornbatterie her. Es war ein Kanonenschuß draußen auf dem Meere, den man deutlich hörte.
Die Menschenmenge schweigt.
Was kann diese Entladung eines Feuerschlundes zu bedeuten haben, der nicht zur Artillerie von Standard-Island gehört?
Ein aus dem Steuerbordhafen einlaufendes Telegramm bringt sofort die Erklärung.
Aus der Entfernung von zwei bis drei Meilen hat ein in Gefahr befindliches Schiff seine Nothlage gemeldet und verlangt Hilfe.
Ein glücklicher unerwarteter Zufall! Jetzt denkt keiner mehr daran, sich um den elektrischen Tastenknopf zu streiten oder die Linie feierlich zu begrüßen. Dazu gebricht es an Zeit. Die Linie ist passiert und der beabsichtigte Schuß in der Seele des Geschützes stecken geblieben. Für die Ehre der Familien Tankerdon und Coverley offenbar die erwünschteste Lösung des Knotens. Das Publicum strömt vom Square fort, und da die Tramwagen nicht mehr im Gange sind, wälzt sich alles zu Fuß nach dem Steuerbordhafen.
Gleich nach dem Krachen des Nothschusses hat der Hafencommandant die nöthigen Rettungsmaßregeln eingeleitet. Eines der im Hafen vertäuten elektrischen Boote ist bereits ausgelaufen, und als die Menschenmenge hier anlangt, bringt es schon die geretteten Schiffbrüchigen, deren Fahrzeug sehr bald in den Abgründen des Großen Oceans verschwand.
Dieses Fahrzeug war die malayische Ketsch, die Standard-Island schon seit der Abfahrt von den Sandwich-Inseln verfolgte.[147]
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