Phaethon an Theodor

[121] Noch ist Stärke, Schönheit, Tugend nicht gewichen von der Erde. O, ich fühl' es, fühl' es wie mein Ich, was würdig ist des Menschen. Rein ist der Mensch von seinem Ursprung an; denn von der Gottheit stammt er. In seinem Busen quillt der ewig treibende Keim des Guten wie eine klare, den Himmel abspiegelnde Quelle. Unglücklich ist er, wenn sie getrübt wird; aber verloren ist er, wenn sie versiegt. Das Größte, was Gott erschaffen auf der Erde, ist der Mann. Er ist's, der Starke, der Mut hat und Kraft und unveränderlichen Willen. Ruhig steht er da in seiner erhabenen Würde wie eine hundertjährige Eiche, deren Riesenwipfel vergeblich Wind und Stürme schütteln. Die Sonne spiegelt in seinen Zweigen schmeichelnd, und niedere Kreaturen der Erde kriechen um seine mächtigen Wurzeln. Und ist er auch geschmiedet, der Mann, an eine Felsenstirn, und kann er seine Arme nicht bewegen.: in seinem Busen lebt die angestammte unerschütterliche Kraft, selbst dem Unendlichen zu trotzen. Aber rein ist der Mann; denn er ist das Abbild[122] Gottes. So denke Dir meinen Katon! Seine Brust gleicht dem Diamanten, der unzerbrechlich fest doch in sich faßt das warme Licht der Sonne.

Um ihn schlingen wie zarte weiche Blumen um die Eiche das Weib sich und das Mädchen. Die sanften würden verwelken, wenn sie der kräftige edle Stamm nicht am Busen hielte. Denn weich ist das Mädchen, deren Mund der Hauch der Jugend wie ein glühend Morgenrot beseelt, wie die Mutter, wenn sie ihr lächelnd Kind am warmen milcherfüllten Busen säugt. Aber die echte Jungfrau ist noch Kind, und die echte Mutter ist noch Jungfrau.

Ein tiefes Geheimnis ist die keusche Jungfrau. Ihre Jungfrauschaft hört auf, wenn sie kein Geheimnis mehr ist. Sie ist das vollkommenste rührendste Sinnbild der Entwicklung und der Fruchtbarkeit, das Sinnbild der Natur. Darum ist ihre Nähe heilig, und das Unheilige flieht vor ihrer Gegenwart wie vor dem Tempel der Gottheit.

Des Mannes Tugend gleicht dem Riesenfelsen, der weit die Schatten auf die Täler wirft. Des Weibes Tugend ist ein sanfter ewigfließender Bach, der stillbescheiden sich durch die Blumen windet und liebend an den Ufern die zarten küßt und tränkt. So denke Dir Cäcilie und Atalanta!

Cäciliens Haus ist den Grazien geweiht, aber nicht den niedern, die das bloße Bedürfnis verschönern und heben, sondern jenen allwaltenden weisen und keuschen Förderinnen alles Schönen und Guten, von denen der weise Pindaros singt:
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Ihr an Kephissos Gewässern wohnend,

dort am Sitze der schönen Rosse weilend,

Huldinnen, Königinnen holden Gesangs im

lieblichen Orchomenos, der alten

Minyer Wächterinnen,

Höret den Fleheruf! Denn von Euch

kommt ja das Liebliche,

kommt ja in Fülle das Süße der Welt,

blühst Du an Weisheit und Schönheit oder an Adel.

Denn die Götter

ordnen ohne die heiligen

Huldinnen nie ein Gelag,

keinen Reigen; sondern allwaltend im Himmel

haben sie bei Pytho Apoll,

dem der Bogen von

Gold schimmert, sich aufgestellt den Thron,

ewig verehrend des olympischen

Vaters Herrschergröße.1


Diese, Theodor, die heitern Kinder des Weisen, lächeln aus allem. Sie sind nichts anders als das Maß.

Fußnoten

1 Pindar, Olympische Siegesgesänge XIV.


Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920.
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