Psalm. 22. Deus deus meus

[654] Weissagung vom Leiden vnd aufferstehung Christi, erlösung menschlichs geschlechts, vnnd ehre Göttlichs namens.


1.

Da Christus an dem Creutze hieng

in schmach zu vnsern ehren,

Für vnser schuldt die straff empfieng,

rieff er zu got dem herren:

»Mein Got, mein Got, wie hastu mich

so gentzlich vbergeben!

Ich ruff vnd schrei, kein hülff nit sich,

es geht mir an dz leben!

rüff tag vnd nacht,

doch wirt meins schreiens nit gedacht!


2.

Du aber wonst im heiligthumb

vnd Israel dich preiset,

Du bist gewest der vätter rhum,

den du stedts gnad beweisest

In aller not die sie anfacht

reychtstu jn deine hande,

Auß jrem leyd vnd trübniß bracht,

sie wurden nit zuschanden,

all jr geschrei

erhörtestu vnd machtst sie frei.


3.

Ich aber bin ein wurm veracht

vnd keinem menschen gleiche,

Verspeit, von iederman belacht,

mich hönt beyd arm vnd reiche,

All die mich sehen spotten mein,

gegn mir jr maul auffsperren,

Sprechen ›Wie bsteht er nun so sein!

wie rüfft er nit zum HERREN,

daß Er ietz käm

vnd hülff jm, hat Er lust zu jm?‹


4.

Dennoch bistu mein Got vnd hort

auß meiner mutter leibe,

Ich bin dein Son vnd ewig Wort,

Mensch geborn von einem weibe.

Auff dich mich stedts verlassen hab

von meiner mutter brüsten,

Drumb laß in diser angst nit ab,

mich auß der not zu fristen!

sunst ist niemand,

der mir ietz reycht der hülffen hand.


5.

Groß Ochsen vnd vil feyster Stier

mich gwaltiglich vmbringen,

Sperrn auff jrn rachen gegen mir,

wie Löwen mich verschlingen,

Bin wie ein wasser auß gestürzt,

mein hertz wie wachs zerflossen,

Mein safft vertrucknet vnd verkürtzt,

gantz trostloß vnd verlassen,

mein zung anklebt

vnd ist nichts mehr an mir das lebt.


6.

Es rotten sich vil böser hund,

mich gar vmbgeben haben,

Han mir mein hend vnd süß verwundt,

mit negeln gar durchgraben,

Gantz außgereckt hang ich hie bloß,

all mein gebein möcht zelen,

Vmb mein kleydt werffen sie das loß

vnd meinen rock verspielen,

mein schmach vnd pein

lassens jrs hertzen freude sein.


7.

Doch wirstu mich auß diesem leyd,

vom todt vnd Hellschem schrecken

Bringen zu grosser herligkeyt,

am dritten tag erwecken,

Daß ich deins Namens ehr vnd rhum

meinn Brüdern mög verkünden,

Daß man durch Gnad allein wirdt fromb,

erlöst von Todt vnd Sünden,

von pein der Hell,

des frewt sich Jacob vnd Israel!


8.

Dann du, HERR Got, hast nit verschmeht

den elenden vnd armen.

Dein gnad vbr all gar reichlich geht,

läßst dich der welt erbarmen.[654]

Vom Auffgang biß zum Nidergang

mit deinem wort sie speisest!

Des sagen dir die frommen danck

den du solch gnad beweisest,

vnd frewen sich,

daß sie solln leben Ewiglich!


9.

Dann wirdt dein nam gepredigt recht,

wann mich die Heyden ehren,

Für mir dubetten all geschlecht

vnd sich zu mir bekeren,

König vnd Fürsten alle die

beyd armen vnd geringen

Für mir solln biegen jre knie,

zu meinem Reich eindringen,

daß sich dein ehr

biß an das end der welt vermehr.«


10.

Dein Sam bleibt in der Christenheyt,

deinn Namen zu verkünden

Von gschlecht zu gschlecht wirdt außgebreyt,

von kind zu kindes kinden,

Daß wir von Sünd gewaschen reyn

auffs new werden geboren:

Das thustu, HERR vnd Got, allein

an den die du erkoren

durch Jesum Christ,

der vnser Got vnd heyland ist.


11.

Dein Nam, Vatter im himelreich,

müß hie geheilget werden,

Vnd widerfar dein gnad alln gleich,

dein will gescheh auff erden

Der maß wie dort im himel hoch,

den leib wöllst vns erneren,

Laß vns die schuldt gnediglich nach,

wöllst vnser feind bekeren,

auß allem leydt

hilff vns zur Ewign seligkeyt!


Quelle:
Philipp Wackernagel: Das deutsche Kirchenlied von der ältesten Zeit bis zu Anfang des XVII. Jahrhunderts, Band 3, Leipzig 1874, S. 654-655.
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