Siebentes Buch

[269] Einem Blutbade entgiengen sie, um in ein andres zu gerathen: bey dem ersten Schritte, den sie auf persischen Boden setzten, kamen ihnen schon blutige Ströme entgegen: je weiter sie ihr Weg führte, desto mehr häuften sich die Spuren des Mordes und der Grausamkeit, und zuletzt gelangten sie an einen gräßlichen Wahlplatz, wo Schaaren über einander gestürzter Leichname in gräßlichen Haufen, mit getödteten Kameelen und Maulthieren vermischt, lagen. Belphegor fuhr mit Entsetzen vor dem schrecklichen Anblicke zurück, und sein Gefährte zitterte eben so sehr vor Furcht und Grauen, und beyde standen lange in einem stummen Erstaunen.

Bald aber machte die Furcht der Neubegierde Platz: sie verlangten außerordentlich, die Ursache zu wissen, die Menschen zu einem so unmenschlichen Todtschlage berechtigt haben konnte: demungeachtet zog sie die Besorgniß, in die nämlichen unbarmherzigen Hände zu verfallen, bey jedem Tritte zurück. Sie faßten aber dennoch Muth, setzten ihre Wanderschaft fort und fanden hin und wieder halblebende Todte, aber nirgends einen völlig Lebendigen. – Was soll das? rief Belphegor. Sind das Anstalten, die menschliche Gattung in[269] diesen Gegenden auszurotten? Eine so ausgesuchte Begierde hat doch keiner der berühmtesten Tollköpfe noch gehabt. Wohlan, Freund! wir wollen weiter dringen! Werden wir unter dem allgemeinen Ruine begraben, was schadets? – Wir athmen die verpestete Luft dieses Erdkreises nicht mehr, deren kleinstes Theilchen durch den Hauch eines Unmenschen entweiht, durch die Lunge eines Barbaren gegangen ist. Gewinn ist ein solcher Verlust. –

Sie setzten ihren Weg noch einige Tage fort und trafen nichts mehr als die vorhergehenden Gegenstände an – Beweise der Unmenschlichkeit genug, aber keinen Menschen. Endlich wurden sie gewahr, daß die Einwohner aus den Dörfern nur geflüchtet waren und einzeln mit bedächtlicher Schüchternheit aus den Wäldern zu ihren Wohnungen zurückkamen. Sie forschten so lange bis sie erfuhren, daß vor einigen Tagen eine schöne Europäerinn in dem Harem des großen Königes von Persien geführt worden sey: eine Karavane von Reisenden war dem Zuge begegnet, und da sie unglückseliger Weise ihm nicht ausweichen konnte, so hatten sich die Evnuchen einen Weg mit dem Schwerdte durch sie gebahnt. Das nämliche Schicksal betraf alle, die die Unvorsichtigkeit oder das Unglück hatten, sich auf dem Wege finden zu lassen: der klügere Theil war aus den Wohnungen, die an der Straße lagen, geflüchtet, um nicht durch einen unbedachtsamen Blick auf eine verschleierte Schön heit das Leben zu verwirken.[270]

Belphegor hätte gern dem großen Sohne des Himmels für diese Barbarey den Kopf abgeschlagen, wenn er bey der Hand gewesen wäre, und machte verschiedene Anmerkungen in seinem Tone darüber, die bey andern, als sklavischen erstorbnen Gemüthern, einen förmlichen Aufruhr veranlaßt hätten. Wenn es aber gleich nicht diese Wirkung that, so fühlten doch seine Zuhörer einen gewissen Schwung in seiner Denkungsart und seiner Beredsamkeit, welcher sie dunkel überredete, daß er keiner vom gemeinen Haufen, sondern ein Weiser seyn müsse, weswegen sie ihm riethen, die Bekanntschaft eines gewissen Derwisches zu machen, der in einer völligen Einsamkeit lebte und ihnen unter dem Namen des Derwisches in den Bergen bekannt sey. Sie setzten hinzu, jedermann, der ihn gesprochen, sey voller Bewundrung und Ehrfurcht zurückgekommen und habe versichert, daß sein Mund von einem unerschöpflichen Strome von Weisheit und heilsamen Lehren überfließe.

Eine solche Nachricht war für Belphegors Begierde ein Sporn: kaum konnte er sie endigen lassen, als er um einen Wegweiser bat, der ihn zu dem glücklichen Orte führen sollte, wo er einen Menschen zu finden hoffte. Sein Gefährte, dessen Durst nach Weisheit nicht so heftig brannte, warnte ihn sehr eifrig, sein Leben und das wenige gerettete Geld nicht der Treulosigkeit dieser Bösewichter anzuvertrauen, die ihn in unwegsame Gebirge führen und in den ersten Abgrund stürzen würden. So sehr er ihm mit seiner arabischen Beredsamkeit zusetzte,[271] und so stark er seine Warnung mit Gründen unterstützte, so blieb doch Belphegor in seinem Vorsatze unbeweglich: eben so unbeweglich blieb auch der Araber in dem seinigen, und trennte sich von seinem Gefährten, um wieder in sein Vaterland zurückzukehren, wo man nach seiner Meinung viel edelmüthiger stiehlt und raubt als irgendwo.

Belphegor kletterte nebst seinem Wegweiser mit seinem gewöhnlichen Ungestüme über Felsenspitzen, steinichte unsichre Wege, schlüpfrige hervorragende Stücken Stein, wo ein einziger Fehltritt in unabsehbare Tiefen stürzte, wo den herabfallenden Millionen hervorstehende Spitzen erwarteten, um ihn zu zermalmen, durch stechendes Gesträuch von Wacholdern, die einen kleinen verschlungnen Wald bildeten, über Wasserfälle, über Schnee, Eis und fast durch die Wolken, um zu dem Derwische der Berge zu gelangen. Nachdem sie drey Tage mit dem höchstmühsamen Wege gekämpft hatten, so wurde er selbst ein wenig mißtrauisch gegen seinen Führer: doch drückte die Hitze seiner Erwartung und die Größe der gehofften Freuden bald jeden Argwohn nieder; er beruhigte sich damit, daß er dem Wegweiser alles bey sich habende Geld übergab und ihn versicherte, daß der ganze Schatz sein werden sollte, wenn er ihn durch Verkürzung des Weges nur etliche Stunden früher zu dem weisen Derwische zu bringen wüßte: der Andre nahm es mit Dankbarkeit an und versprach sein Verlangen so sehr als möglich zu erfüllen.[272] Auch fanden sie sich beym Anbruche des Tages auf einem Felsenrücken, von welchem sie eine schöne muntre lachende Ebne übersahen, die durch den Anblick schon ihnen die ausgestandnen Beschwerlichkeiten hinlänglich vergütete. Belphegors Herz schlug vor Entzücken, als er die Wohnung des Derwisches durch ein dünnes Palmwäldchen hervorschimmern sah: gern hätte er mit Einem Sprunge die heilige Schwelle betreten: jedes Lufttheilchen, das er einhauchte, schien ihm reiner und heiliger zu seyn.

Wenn die Musen gegen einen Prosaisten nicht etwas spröde wären, so rief ich sie mit lautem Schreyen um ihren Beystand bey der Schilderung eines der schönsten Thäler an; aber so muß ein armer Verfasser in ungebundner Rede die Sache allein bestreiten. Will indessen eine sich herablassen, meinen Pinsel zu führen, so greife sie zu! –

Die ganze Fläche des beynahe eyförmigen Thales war ringsum von Bergen umschlossen, die sich amphiteatermäßig in mannichfaltigen Absätzen erhuben: hier steilte sich eine schneeweiße Felsenspitze, wie ein Thurm, in die Höhe, hinter ihr dehnte ein brauner Berg den langen Rücken weg, und höher als beyde verlor sich eine Menge zackichter gräulicher Gebirge mit ungleichen Höhen am Horizonte: dort hiengen Felsenstücken in der Luft, die nur Einen Stoß zu brauchen schienen, um herabzustürzen, neben ihnen bedeckte ein düstres Strauchwerk den phantastisch gekrümmten Berg, der[273] sich mit einer Menge kahler Beugungen und Hölungen endigte, und die breitsten weitschimmernden Häupter entfernter Gebirge darüber emporsteigen ließ: bald stürzte sich ein kleiner Bach beynahe hängend an einer Felsenwand herab, verschwand, brach eine weite Strecke davon wie ein brausender schäumender Bach aus dem Felsen hervor, flog über ausgehölte schwebende Steine hinweg und wurde von einem Schlunde gierig verschlungen, um nie in dieser Gegend wieder zu erscheinen: bald stieg eine allmähliche schiefgedehnte berasete Anwand bequem in die Höhe und thürmte sich plötzlich in unzächliche Höhen, die sich gleichsam wetteifernd über einander erhuben, hier nackt, dort in einem Mantel von gelbgrünem Gesträuche, bald aus Pyramiden, bald als umgestürzte Kegel, hinter welchen eine weißgraue Kolonnade vom majestätischen Felsen den Gesichtskreis begränzten und weitgedehnt in ungleicher Größe allmählich verschwanden. Die Seite, von welcher sie in die Ebne hinabstiegen, war ein hoher platter Berg, der an sich schon die Aussicht beschloß, mit einem Cedernwalde bedeckt, durch welchen sie hindurchwandern mußten, und kaum waren sie heraus – siehe! so stund, wie hinter einem eröffneten Vorhange das ganze schöne Thal, in seine vielfältigen Wälle von Gebürgen und Felsenwänden, wie sie vorhin gemalt worden sind, eingezäunt, mit etlichen kleinen schmalen Wasserkanälen durchzogen, mit einzeln Bucketen von Obstbäumen, lichten und dunkelgrünen Büschchen, beynahe regelmäßigen[274] Pflanzungen, frischgearbeitetem Acker, blühenden kriechenden und aufgestengelten Gewächsen, Gruppen von Citronenbäumen mit goldnen blinkenden Früchten, zerstreuten kleinen Hüttchen gleichsam bestreut – kurz, das herrlichste lachendste Mosaik der Natur vor ihren Augen.

Belphegor war überrascht, betäubt, überwältigt, hingerissen, er staunte, er war seiner Sinnen nicht mächtig; er warf sich vor Begeisterung auf die Erde und küßte den Boden, als den Eingang zu einem Heiligthume. So bald seine Empfindungen weniger gewaltsam wurden, so besahe er die Gegend um sich mit unersättlicher Begierde, sahe und hatte nie genug gesehn. Sein Führer ermahnte ihn zur Eilfertigkeit, wenn er noch vor Abend bey dem Derwische anlangen wollte, weil seine Wohnung fast an dem andern Ende des Thales liege und noch viele Stunden erfodre, wenn sie gleich ihre Schritte verdoppeln wollten. Belphegor riß sich, wiewohl mit einigem Widerstande, von dem entzückenden Anblicke los, um einem noch entzückendern zuzueilen.

Kaum waren sie die langgedehnte Anhöhe hinuntergestiegen, als sie ein krummlaufender Gang einlud, durch einen kleinen dunkeln Hain zu wandeln, an dessen Ende sich zwo vierfache Reihen von Pomeranzenbäumen anschlossen, die dahinterliegende Saatfelder von Mais durch die Zwischenräume der Stämme durchschimmern ließen. Am Ende derselben fanden sie etliche Hütten von Baumzweigen, doch ohne Bewohner. Belphegorn[275] befremdete diese Entweichung, und er ward um so viel neugieriger, die Bewohner aufzusuchen. Sie giengen in der Folge über verschiedene kleine Kanäle, die mit Obstbäumen eingefaßt waren, durch kurze ganz natürliche Wildnisse von Ahornbäumen, durch Felder mit funkelnden Kürbissen, Melonen und andern lachenden Früchten. Schöner, als alles, war der Zugang zu der Wohnung des Weisen: Reihen Maulbeerbäume, um die sich die herrlichsten Weinreben mit halbreifen röthlichen lang herabhängenden Trauben schlangen; hinter ihnen Beete mit Gartenfrüchten, besonders Melonen; darauf Pfirschbäume mit rothschimmernden samtnen Früchten beladen, Abrikosenbäume mit Reichthume überschüttet; die ganze Scene schlossen vier erhabne Zypressen, die über dem lächelnden Kolorite der Fruchtbäume mit ihrem melancholischen Grün in vier Spitzen emporstiegen und unter ihre Zweige die Wohnung des Derwisches gleichsam wie unter Flügel nahmen. Der ehrwürdige Alte saß mit zwo Töchtern in persischer Kleidung auf einem Steine vor seiner Wohnung und schaute mit entblößtem Haupte nach der Sonne hin, die eben hinter dem gegenüber stehenden Berge versinken wollte.

Belphegor hatte ihn kaum in der Ferne erblickt, als er mit seiner Hastigkeit auf ihn zuflog, sich ihm zu Füßen warf und mit der feurigsten Inbrunst seine Kniee umfaßte. Der Alte hub ihn lächelnd auf und nöthigte ihn durch ein freundliches Zeichen, sich neben ihm niederzusetzen.[276] Das Gefühl einer gegenwärtigen Gottheit könnte kaum feuriger und mehr überwältigend seyn, als Belphegors Empfindungen: er war sich seines Daseyns nicht bewußt, ein Schwarm ununterschiedner Vorstellungen und glänzender Bildern schwebten um seine betäubte Seele, und eben so viele verwickelte Gefühle fuhren durch sein Herz. Lange saß er, so außer sich gesetzt, neben dem Alten, der den innerlichen Tumult in seiner Mine las und darum ihn gerührt bey der Hand faßte, ohne sein Stillschweigen zu unterbrechen. Endlich machte sein Gast den Anfang: er schüttete ihm in einem Strome von persischen Worten sein Herz aus, die aber meistens halberstickt und abgerissen hervorkamen, weil er der Sprache zu wenig mächtig war, als daß seine Empfindungen und Gedanken die Geläufigkeit der Zunge nicht übereilen sollten. Der Derwisch bat ihn, von seinem Wege auszuruhn und alsdenn ein kleines Mahl mit ihm im Mondscheine einzunehmen. Belphegorn überlief ein süßer Schauer, als er dieses hörte, und er begab sich hinweg.

Die älteste von den beyden Töchtern führte ihn in ein Kabinet, wo sie ihm ein reinliches Lager von Blättern mit einer Decke von einem orientalischen Halbtuche zu seiner Ruhe anbot und zu ihrem Vater zurückkehrte. So ermattet er war, so hatten doch die vorhergehenden heftigen Empfindungen seine Nerven zu sehr angespannt, als daß der Schlaf sie hätte überwältigen sollen. Er lag voller Gedanken in einem oft unterbrochnen[277] Schlummer, und konnte endlich seinem Verlangen nach dem Gespräche des Derwisches nicht mehr widerstehen: er sprang auf und gieng zu ihm.

Während der Mahlzeit entwickelte es sich bald, daß der vermeinte Derwisch ein Europäer war. – Ein Europäer! rief Belphegor voll Freuden: und aus welchem Lande? Aus Frankreich, antwortete jener und seufzte. Aus Frankreich, das mich mit vielen seiner Söhne undankbar ausstieß. Ich bin der Bruder der unglücklichen Markisinn von E. – Der Markisinn von E.! unterbrach ihn Belphegor. Der unglücklichen Markisinn, die die gräulichen Türken in vier Stücken spalteten, daß sie großmüthig den Prinzen Amurat bey sich aufgenommen hatte! – Ein Zug ihres Charakters! die gute Schwester! sagte der Alte. Freund! erzähle mir die Geschichte, daß ich höre und in meinen weißen Bart dazu weine.

Belphegor gehorchte ihm; und sein Zuhörer hörte ihre widrigen Schicksale mit gerührter Aufmerksamkeit, erhub bey dem Ende der Erzählung seine Augen gen Himmel, indessen ihm etliche Thränen die Wangen heruntertröpfelten: diese, sprach er, weih ich dir!

Aber, fieng Belphegor nach einer kleinen Pause an, wie konnte dich, ehrwürdiger Vater, deine Flucht in diese himmlische Einsiedeley, so weit von deinem Vaterlande führen? Du flohest Frankreich. –

Um einer Ursache willen, unterbrach ihn der Alte lebhaft, die die Menschheit mit ewigen Flecken brandmalt[278] – Flecken, die keine Thränen auswaschen können. Wir wurden Opfer der Ruhmsucht eines stolzen Monarchen,13 des eingewurzelten Vorurtheils, politischer Ränke und des Privathasses; und wurden, nach dem öffentlichen Vorwande, der Religion, der Rechtgläubigkeit geopfert. Ich floh nach Deutschland mit einigen meiner vertriebnen Mitbrüder, um es zu bereichern und poliren zu helfen. Ich floh, aber mein Herz blieb in Frankreich, oder es irrte vielmehr mit meiner S * * herum: denn unmöglich konnte ihre Liebe sie in einem Lande zurückbleiben lassen, das ihren zärtlichen Freund verstossen hatte. Ich lebte indessen nur zur Hälfte: ich bin von jeher ein Geschöpf gewesen, das mehr in der Imagination als in der Wirklichkeit lebte, glücklich und unglücklich war. Meine verlaßne Liebe erzeugte bald mit Hülfe meiner Einbildungskraft eine Melancholie in mir, die mich von aller Gesellschaft entfernte: ich lebte, dachte und fühlte in der tiefsinnigsten Einsamkeit, und ich dachte nichts, als meine S * *, und fühlte nichts als meine Liebe. Geschäfte und andre Verbindungen zwangen mich häufig, meine Einsiedeley zu verlassen: ich that es mit Widerwillen, mit dem größten Widerwillen, weil keine andre S * * in der ganzen schimmernden Gesellschaft, in welcher ich, wie ein Gespenst, täglich herumwanderte, anzutreffen war: keine, auch nicht die schönste, auch nicht die bewundertste bewegte den Perpendickel meines Herzens nur um eine Sekunde[279] schneller: alles waren mir steife unnatürliche Kreaturen, die den Mangel des natürlichen Reizes durch Kunst und Anstand ersetzen wollten, aber ihn für mein Gefühl unendlich wenig ersetzten, durch den falschen Anstrich nur desto mehr vermissen ließen; mein Herz fand nirgends anziehende Kraft und allenthalben Widrigkeiten. Je weniger mein Gefühl gleichsam ausgefüllt wurde, desto mehr verstärkte es sich! und zuletzt war gar nichts mehr übrig, das nicht, so zu sagen, wie ein leichter Span auf einem Weltmeere, darauf geschwommen hätte: gar nichts drückte sich ihm ein. Geschwind zerriß ich alle Banden, die mich an die Menschen fesselten, und floh eine Gesellschaft, wo ich allzeit Gelegenheit zum Misvergnügen fand, weil kein Vergnügen meinen Foderungen gleich kam.

Nicht lange nach dieser Entfernung von den Menschen that ich einstmals eine kurze Ausflucht in die Gesellschaft: ich fand ein Mädchen, das gleich bey dem ersten Anblicke eine mehr als magnetische Kraft für alle meine Sinne hatte. Mein Gefühl, das in meiner einsamen Periode mit der Einbildungskraft in genauere Vertraulichkeit gerathen war, erhob sich plözlich zu einer solchen Stärke, daß ich mir selbst sagte: ich habe sie gefunden! – Ein Mädchen voll der süßesten Naifetät, mit der aufrichtigsten Mine, die mit der Zunge und dem Herze in Einer vollkommnen Harmonie stund, ohne Zwang, ohne studierte Höflichkeit, ohne galante Grimassen, voll Natur, voll der unschuldigsten Natur,[280] ohne glänzenden Wiz, aber mit einem feinen Verstande und den gesundesten Grundsätzen geziert – alle diese Züge leuchteten mir auf einmal mit vereinigter Kraft in die Augen. Mein Herz wankte, alle meine Kräfte bis zu den innersten wurden erschüttert, meine Empfindungen vom Grunde aufgewiegelt, mein Kopf schwindelte, die Augen wurden trübe, ich schwärmte, ich schwatzte wie im Phantasieren des hitzigen Fiebers, ich taumelte und sank – durch eine geheime Veranstaltung des Schicksals – an ihren Busen, an den Busen des Mädchens, das jenen Tumult in mir erregte. – O edler Freund! mein altes Herz schlägt noch itzt hurtiger, wenn ich an das Erwachen gedenke, das auf jenen Fall erfolgte. – Das unschuldige Mädchen entsagte aus natürlichem Mitleide allen Foderungen des Wohlstandes und ließ mich an ihrem Busen liegen, trieb alle zurück, die mich von ihr reißen wollten. Er ruhet hier sanft, sprach sie mit dem naifsten Tone der Gutherzigkeit: er liege, bis er wieder erwacht. – Alles sagte sie, ohne zu wissen, daß sie das brennbarste Herz an das ihrige drückte und ein Feuer einfangen ließ, das nie die Vernunft wieder löschen würde. Ich lag an sie gelehnt; und an sie gelehnt, erwachte ich. Himmel! welche Empfindung, als ich um mich blickte! als ich bey meiner ersten Bewegung mit ihrem Blicke zusammentraf! Ich war nicht mehr mein: sie verstund meine Verwirrung, wollte sie mindern und vermehrte sie. Endlich ermannte ich mich; ich sprang auf und gieng hinweg.[281]

Das gute Mädchen merkte genau, daß sie die Ursache meiner Unruhe und meiner Entfernung war: aber unglücklich, daß diese Bemerkung sie selbst in die schrecklichste Unruhe stürzen mußte! Sie war schon verlobt: das ist mit Einem Worte alles gesagt. Meine natürliche Melancholie wuchs zu der höchsten Stärke an, ohne daß ich das Hinderniß meiner Liebe wußte: alles war mir schwarz: ich quälte mich mit selbstgeschaffnen Schwierigkeiten; ich marterte mich mit Kummer, daß ich zu dem Besitze meiner Geliebten nicht gelangen konnte, ohne mich im mindesten erkundigt zu haben, ob ihr Besitz unmöglich oder schwer zu erlangen sey. Sie war arm, und eine kleine Ueberlegung wäre zureichend gewesen, meine traurigen eingebildeten Schwierigkeiten zu zerstreuen; allein mein schwermüthiges Gefühl ergötzte mich: die Vernunft würde mir meine Glückseligkeit geraubt haben, wenn sie es wegräsonnirt hätte. Oft genug unterbrachen es meine Geschäfte, auf die ich zürnte, und die ich doch gut abwarten mußte, wenn ich nicht an meinem Einkommen leiden wollte. – Gott! dachte ich oft in meinen einsamen Stunden, warum ordnetest du deine Welt so an, daß tausend geschmacklose Geschäfte, Millionen mit der Empfindung nicht zusammenhängende Dinge den Menschen im Wirbel herumdrehen, daß elende Berufsarbeiten die Zahl der Stunden verringern müssen, die er in dem süßesten Schlummer des Gefühls und der Einbildung verträumen könnte? – Freund! hast Du nie einen Mangel in Deinem[282] Leben empfunden, der jede fühlende Seele unvermeidlich treffen muß? – Die Natur hat eine unendliche Menge Anlässe zur Empfindung in die Welt ausgestreut, aber zu einzeln ausgestreut, jeder Mensch trift auf seinem Wege nur selten einen an: der große Haufe, dessen Gefühl vom Sorgen und Geschäften zusammen gepreßt ist, vermißt nichts; er läßt sogar die aufstoßenden Veranlaßungen vorübergehn, ohne daß eine sich an seinem Herze einhängt, und es auf sich zieht: aber der Mann, bey dem Gefühl alle seine übrigen Kräfte überwiegt, bey dem sich, so zu sagen, alles in Empfindung auflöst, was soll der thun, wenn er allenthalben Sättigung sucht, wenn er seine Glückseligkeit gern haufenweise verschlingen möchte, und sie ihm doch nur gleichsam in einzelnen Bissen zugezählt wird: muß ein solcher nicht bey der gegenwärtigen Einrichtung der Welt einbüßen? Konnte die Natur unsern Planeten und seinen Bewohner nicht so anlegen, daß er, mit wenigem, mit dem Nothdürftigen zufrieden, seine Bedürfnisse niemals erweiterte, niemals in die tolle Geschäftigkeit sich hineinwarf, zu welcher ihn itzt unzählige, unvermeidliche Nothwendigkeiten hinreißen? Wäre die Welt gleich weniger thätig, weniger lebhaft geworden, wäre sie nicht dafür glücklicher? Was nützt es, daß itzt jedermann eilfertig nach seinem Vortheile läuft, rennt und andre wegstößt? Nimmt man diese unglückliche Geschäftigkeit der Welt, diese Mutter so unzählbarer Uebel hinweg, müssen nicht alsdann alle die unseligen Leidenschaften[283] wegfallen, die itzt Menschen von Menschen trennen und selbst den empfindenden Zuschauer dieses allgemeinen Kampfjagens der Welt das Leben verbittern? Die Menschheit ist gewiß nichts dadurch gebessert, daß sie sich zu den gegenwärtigen Bequemlichkeiten und dem Ueberflusse der Europäer emporarbeitete, daß man nicht mehr Eicheln, sondern die mannichfaltigen Schmierereyen der Mundköche genießt, daß man nicht mehr auf Stroh, sondern Matratzen oder Federbetten schläft, daß man statt des klaren Bachs in einen französischen oder venetianischen Spiegel sieht: gewiß im Grunde nichts gebessert, nichts glücklicher! Alles hierinne bestimmt die Gewohnheit: diese machte es, daß vormals englische Lords auf einem Schneeballen so sanft ruhten, als itzt ein englischer Zärtling auf dem seidnen Kopfküssen. Nach meinem Wunsche und meiner Einbildung sollte der Mensch mitten auf seinem Wege zur Verfeinerung stehen bleiben, wenn er auch gleich nicht auf der ganz untersten ewig seyn wollte: die Materialien der Geschäftigkeit und der Begierden, die ihn itzt herumtreiben, sollte vor ihm verborgen und er ein ruhiger sanfter Hirte, höchstens ein Ackersmann bleiben: die Erde wäre nicht zu enge für die Beybehaltung dieser Lebensart gewesen, wenn nur die Menschen nicht die tollen Begierden besessen hätte, über und neben einander her zu kriechen: und Freund! bey jener geringen mittelmäßigen Geschäftigkeit sein Leben unter dem Schatten der Empfindung ohne Politik, ohne Oekonomie,[284] Jurisprudenz, Handel und andre Vervollkommungen, die den Menschen zum kalten fühllosen Geschöpfe, leer von Imagination und Empfindung machen, ordentlich und ruhig hinwandeln, welch ein Glück! Welch eine Herrlichkeit, wenn ich damals für mich und meine LUCIE die Erde so hätte umschaffen können! Wahr ist es, ich hätte geträumt: aber süßer Traum ist doch besser als bittres Wachen. Meine Geschäfte verbitterten mir wirklich mein Leben außerordentlich: sie störten meine Melancholie und wurden von meiner Melancholie gestört; und am Ende meines Härmens erfuhr ich, daß Lucie verlobt und gar verheirathet war, daß sie an einen der verächtlichsten Männer des Landes verheirathet war. Welch ein Donnerschlag für einen trübsinnigen Liebhaber! Ich empfieng täglich die schrecklichsten Nachrichten von seinem Betragen gegen sie. Der Unmensch, das unsinnigste Geschöpf des Erdbodens, das gar nicht aus der Hand Gottes gegangen seyn kann, quälte sie aus Eifersucht und zuletzt aus bloßem tyrannischen Muthwillen: er merkte, daß auf dem Boden ihres Herzens eine Zuneigung lag, die durch die aufgezwungene eheliche Pflicht nur niedergedrückt, aber nicht getödtet war: er merkte dies blos, weil seine angeborne Eifersucht; oder vielleicht das Bewußtseyn seines Mangels am Verdienst ihn voraussetzen hieß, daß sie ihn nicht ganz und jeden andern mehr lieben müßte. Ohne die mindeste Veranlassung zu diesem Argwohne behandelte er sie, als wenn er völlig bewiesen wäre. Er[285] foderte eine Bedienung von ihr, die er kaum der niedrigsten Magd zumuthen konnte: sie mußte ihn auf seinen Befehl die Speisen auftragen, auf seinen Befehl fasten oder essen, ihn ankleiden und ausziehn, und die schlechtesten Dienste verrichten, indessen daß die Aufwärterinn, die im Müßiggange zusah, von ihm geliebkost wurde und die Rechte der Frau genoß. Der Barbar wollte sich an seiner unschuldigen Ehefrau auf diese Art, gleichsam wie durch Repressalien, rächen; und da sie ohnmächtig, empfindlich, zärtlich und schwach zum Wiederstande war, so verdoppelte der Unbarmherzige seine Martern, jemehr er wahrnahm, daß sie dadurch niedergeschlagen und gekränkt wurde. Sie kam in die Wochen, sie wurde gefährlich krank; und während, daß sie nach Troste und Wartung schmachtete, hetzte der Bösewicht Dachse mit seinen Hunden im Hause, ließ seine Pferde im Hofe unter ihren Fenstern herumführen und dazu trommeln, des Nachts, oder wenn sie sonst schlummerte, plözlich Töpfe oder Flaschen vor ihrem Zimmer entzweyschlagen, oder ein andres heftiges Geräusch erregen, das sie aufwecken mußte – kurz, er marterte sie auf alle ersinnliche Weise und studierte darauf, sie nicht allein zu quälen, sondern jede Qual noch mit einer Bitterkeit zu begleiten, die stärker als die Qual selbst schmerzte. Er nahm ihr das Kind und übergab es fremden Händen, wo sie es ohne die ängstlichste Besorgniß nicht wissen konnte, da es unter den ihrigen die beste Erziehung, den nützlichsten Unterricht[286] hätte genießen können. Sie bat, sie flehte auf den Knieen: der Tyrann lachte. Sie fiel ihm um den Hals, sie badete sein Gesicht mit Thränen, sie beschwor ihn bey der Wohlfahrt seines Kindes, bey seiner eignen Glückseligkeit, sie nicht von ihrem eignen Herze zu trennen, das allzeit mit ihrem Kinde an Einem Platze wohnte. Der tückische Bösewicht verbarg die Empfindung, die ihm eine solche Bitte wider seinen Willen aufdrang: er verließ sie, gab zwar Befehl, ihr das Kind zu überliefern, wiederrief ihn aber gleich, ehe es noch gebracht wurde. Seine Launen waren gewiß die einzigen unter dem Himmel: er war ihr beständiges Spiel und wurde von ihnen von einer Entschließung zur andern herumgeworfen; ehe er eine ausführte, riß ihn eine andere hin, so eine dritte, und nach einem weiten Zirkel kam er wieder auf den ersten Fleck. So gieng es ihm hier: seine Tochter blieb in den Händen, denen er sie zu ihrer Verwahrlosung anvertraut hatte, und ihre Mutter eine betrübte, ungetröstete Mutter.

Von allen diesen Drangseligkeiten empfieng ich Nachricht, so wie sie geschahen; und was denkst Du, das ich thun sollte, Freund? –

Dem Henker den Kopf zerbrechen! rief Belphegor und stampfte, ihn erwürgen, und mit dem unglücklichen Schlachtopfer auf dem Arme davon fliehn! –

Nein, Freund meines Herzens, so hastig war ich nicht: ich nahm allen empfindlichsten Antheil an ihrem Unstern und grämte mich in Stillen für sie, da ich weiter[287] nichts vermochte. Mein Kummer wollte mich tödten: die Liebe spornte mich an, die Unglückliche zu erlösen, aber Muthlosigkeit schränkte meine Ueberlegung und meine Kräfte ein: ich Feiger erlöste sie nicht.

Himmel! konntest du mich nicht rufen? fuhr Belphegor hastig, wie aus einem Traume, empor.

Der Derwisch sah ihn lächelnd an. – Edler Mann! wo sollte ich dich suchen? fragte er mit gefälliger Freundlichkeit.

Belphegor besann sich und merkte, daß ihm die Schwärmerey seiner Einbildungskraft den Streich gespielt hatte, ihn einen solchen Anachronismus begehen zu lassen. – Nun, so fahre fort! sprach er erröthend. –

Bester Freund, sagte der Derwisch nach einer Pause, dieser einzige Zug macht dich mir theuer. – O hätte ich dich damals gekannt, hättest du damals mit deinem Feuer meinen erloschnen Muth wieder anzünden können, wie glücklich wäre ich gewesen! ich wäre nicht die Speise eines heimlichen Grams geworden! – Doch das Schicksal half schnell: der Tyrann spannte seine Folter so stark an, daß alle Erduldung und Gelassenheit zerreissen mußte. Da alle seine Erfindungskraft im Quälen erschöpft schien, so gab ihm eine wollüstige Laune den tollen Gedanken ein, sie nackt sehen zu wollen. Er gebot ihr, sich auszukleiden, und vor seinem und etlicher Freunde Angesicht – wie er es nannte – à la grecque zu tanzen. Sie wiedersetzte sich, sie stritt, sie focht: umsonst! sie wurde überwältigt: man riß ihr die Kleider[288] ab, man entblößte sie, und sie, die leidende Unschuldige, stand, wie die Bildsäule der Geduld auf einem Monumente, mit bethräntem Gesichte und versteinertem Blicke da, um den Höhnereyen der Unsinnigen zum Ziele zu dienen. Sie gieng verwildert hinweg und gerieth in eine Verrückung, von welcher sie, bis an ihren Tod, zuweilen Rückfälle spürte. Zween Tage lang irrte sie zerstreut und ohne Besonnenheit im Hause herum, seufzte und sprach kein Wort; endlich warf sie in einem Anfalle von Raserey in der Nacht verzweiflungsvoll alle Bande der Mutterliebe von sich, vergaß sich selbst und entfloh, ohne bemerkt zu werden. Doch bey aller Verwirrung führte ihr das Gedächtniß mein Andenken zurück: sie fühlte in sich selbst, daß sie ehmals für mich empfunden: ihre verunglückte Liebe suchte in der meinigen Trost, und sie floh zu mir. In dem entsetzlichsten Zustande der Verwilderung, mit herumhängenden Haaren, rothen aufgeschwollnen Augenliedern, in offner flatternder Kleidung, mit bloßen Füßen kam sie in dem fürchterlichsten Regenwetter eines Abends auf meine Stube, als ich tiefsinnig über Mittel, sie zu retten, nachdachte. Sie fiel auf die Kniee, sie flehte mich um meinen Beystand an: ich erkannte sie nicht, so sehr war sie entstellt, und so wenig ließ mich die Betäubung des Schreckens meine Sinne gebrauchen. Sie stürmte, wie unsinnig, auf mich los; und noch kannte ich sie nicht, bis sie ihren Namen nennte, bis sie an meine Liebe mich erinnerte – da erwachte ich, aber nur wenige Augenblicke,[289] um desto länger mit allen meinen Kräften niederzusinken. Ihr Bild erschütterte mich bis in das Mark; in einer todtenähnlichen Fühllosigkeit saß ich da: ich glaube, wir wären zu Monumenten unsers eignen Kummers versteinert, wenn uns nicht mein Nachbar, der neben meiner Stube wohnte und über die Stille, die so plötzlich das lauteste Wehklagen unterbrach, erstaunt war, durch seine Dazwischenkunft getrennt hätte. Er hatte Kaltblütigkeit genug, unsrer Sinnlosigkeit durch gesunde Ueberlegung zu Hülfe zu kommen: er schlug der unglücklichen Entlaufnen einen Zufluchtsort vor, wo sie weder Mann noch Gesetze wiederfinden sollten.

Es geschah; und ich beschloß, mich von meinen lästigen Geschäften loszureißen, mein Vermögen heimlich aus dem Lande zu bringen und mich in einer hinlänglich sichern Entfernung mit ihr niederzulassen: ich wäre nicht stark genug gewesen, ein solches Projekt zu bewerkstelligen, aber mein Freund unterstützte mich. In einiger Zeit war alles vorbereitet, der Tag bestimmt, und ich eilte, meinen Anschlag ins Werk zu setzen. Ich komme in das Haus, wo ich sie abholen sollte, und wohin ich, seit ihrem Eintritte darein, nicht gehen durfte; ich finde sie voller Erwartung und Zittern in den Armen eines Frauenzimmers, die vor Verwundrung oder Schrecken zusammenfuhr, als ich hineintrat. Meine Aufmerksamkeit war auf mein Vorhaben zu sehr geheftet, um sie mehr als flüchtig zu übersehn: ich bot meiner Lucie schon die Hand, um mit ihr fortzugehn, als mir[290] ihre bisherige Beschützerinn die andre ergriff, und in der Sprache meines Vaterlandes mir die Geschichte meines Lebens und meiner Liebe bis zu meiner Flucht aus Frankreich erzählte, und zuletzt mich fragte, ob ich mich dazu bekennen wollte. Ich erstaunte, daß sie alles dies wissen konnte, und noch mehr, als ich in ihr – meine S * * fand. Gütiger Gott! welche Begebenheit! Zu einer Zeit sie wieder zu finden, wo mein Herz schon ganz an ein andres geknüpft war! Die Liebe zu ihr war zwar durch die Länge der Zeit verdunkelt, aber ihr Andenken kehrte doch stark genug in mich zurück, um mich in einen Streit mit mir selbst zu versetzen. Ohne Anstand sprach sie mich, da sie meine Verlegenheit gewahr wurde, von meiner ersten Verbindung frey und kam mit mir überein, meine Liebe in Freundschaft zu verwandeln, die Alter und Zeit bey ihr von der ehemaligen Wärme zu einer kältern Gesetztheit herbeygebracht hätten. Sie begleitete uns eine kleine Strecke; in kurzem war ich mit meiner Lucie an Ort und Stelle und gleich darauf ihr Mann.

Ich hatte die Verwegenheit, in mein Vaterland nach einiger Zeit zurückzugehn, mich um Gelder zu bewerben, die ich dort zurückgelassen und in den Händen meiner Anverwandten glaubte: doch wie betrog ich mich! Der Sturm der Verfolgung hatte aufgehört zu wüten, aber sie wütete noch durch die Gesetze. Allenthalben fand ich noch Spuren der Unmenschlichkeit, allenthalben hörte ich die vergangnen Gräuel noch erzählen,[291] bald im triumphirenden, bald im klagenden Tone. Meine Mitbrüder, die sich noch heimlich dort aufhielten, zogen mich mit aller Mühe von dem Ansuchen um mein Rückgelaßnes ab; aber sie konnten mich nicht zurückhalten. Ich erlangte nichts und brachte mich durch meine Zudringlichkeit ins Gefängniß. Meine Frau und meine beyden Töchter, die mir itzt das Alter und die Einsamkeit versüßen, befanden sich in der kläglichsten Lage: sie mußten sich im Verborgnen bey einem meiner gutherzigen Anverwandten aufhalten, der mit der Grimasse ein Katholik und im Herzen der aufrichtigste Hugenott war, und mich der Willkühr einer blinden zelotischen Justiz überlassen, oder sich entdecken und mit mir zugleich dem Aberglauben aufopfern wollte. Gütiger Gott! wie wir litten! wie ich in meinem Kerker seufzte! Ich war schon beynahe von meinem Schmerze aufgezehrt und tröstete mich mit meinem nahen Ende, ich war schon gegen alle Vorstellungen von den künftigen Unglückseligkeiten meiner Familie abgehärtet, als ich plötzlich die entsetzlichste Nachricht erhielt, daß meine Frau und Kinder in dem Gefängnisse neben mir schmachteten. Auf einmal stürzten alle meine schlafenden Empfindungen, wie ein Donnerwetter, über mich her und warfen Besonnenheit, Leben und alle Kräfte darnieder: ohnmächtig lag ich da, und mein Wärter hielt mich für todt.

Als ich wieder zu mir zurückkam, verlangte ich nichts so angelegentlich, als meine Familie ein einziges Mal[292] zu umarmen und dann zu sterben: diese Güte war zu groß, um sie mir nicht zu verweigern: meine grausamen Richter schlugen sie nicht allein ab, sondern setzten sogar die grausame Bedingung hinzu, daß ich, um sie nur zu sehn, um nicht sie und mich auf ewig den Ketten zu überliefern, in vier und zwanzig Stunden das Bekenntniß meiner Väter abschwören und in den Schoos der Kirche, dieser verfolgenden Kirche, als in den Schoos einer Mutter zurückgehn müßte. Alles setzte mir zu, eine Heucheley zu begehn, um einer Grausamkeit auszuweichen. Ich überlegte und überlegte, kämpfte und stritt mit mir selbst. – Gütiger Gott! rief ich endlich und sank auf meine Kniee, konntest du den Menschen so schaffen, daß nothwendig einer mit dem andern nicht gleichförmig denken mußte, und daß doch gleichwohl jeder sich für den einzigen Besitzer der Wahrheit hielt, konntest du zulassen, daß einer den andern zu seiner Meynung zwingen wollte; warum solltest du es mir als ein Verbrechen anrechnen, wenn ich den Gesetzen deiner Einrichtung folge, wenn ich, der Schwächre, dem Stärkern mich unterwerfe und in die Anordnung füge, die von Ewigkeit her in deiner Welt geherrscht hat – daß der Schwächre Unrecht behielt, thun und selbst glauben mußte, was der Stärkre zu glauben gebot. Glauben kann ich nicht: aber um drey Menschen aus einem martervollen Leben zu erlösen, um sie nicht ewig in Banden seufzen zu lassen, um sie der Glückseligkeit fähiger zu machen, wozu du doch jedes Geschöpf auf[293] diese Erde, nach unsrer aller Gefühle, gesetzt haben willst – kann ich nicht um solcher edlen Endzwecke willen, die dein eigner Wille seyn und deine Billigung haben müssen, den Stärkern ohne Sünde betriegen, thun als wenn ich das Joch seiner Meynung annähme, und bleiben, was ich meiner Einsicht nach seyn muß? Nach den nämlichen Gesetzen der Natur, die meine Seele befolgt, wenn sie meine Meynung für wahr erkennt, handelt auch die seinige, wenn sie der ihrigen anhängt: du hast uns einmal so angelegt, daß unser Glaube von erlernten Vorurtheilen, Leidenschaften, unmerkbaren Neigungen und Trieben, wie eine Marionette, regiert werden soll, was kann ICH dafür, daß mich die meinigen zur Linken ziehn, und meine Feinde zur Rechten? Noch mehr! was kann ICH dafür, daß meine Gegner die Stärke haben, mich nach ihrer Richtung hinzureissen oder zu würgen? – Ich schwöre: wer von uns beyden Recht hat, weißt DU nur, du Richter der Welt: du willst es nicht unmittelbar entscheiden; ich bleibe also bey der Wahrheit, die mir die Nothwendigkeit des Schicksals als Wahrheit aufgedrungen hat, und entsage ihr mit dem Munde, weil ebendieselbe Nothwendigkeit der Stärkern mich dazu zwingen läßt. Wohl! mein Meineid muß das edelste Werk seyn; denn es rettet drey zur Glückseligkeit bestimmte Geschöpfe vom Elende.

– Und du schwurst? fragte Belphegor. –

Ja, ich that es! und mein Gewissen hat mir noch nie einen Vorwurf darüber gemacht: ich glaube, ich that[294] die nützlichste, die beste That. Sie machte mich und meine Familie frey, sie brachte uns der Möglichkeit, nicht unglücklich zu seyn, näher: was konnte ich mehr? – daß meine Absicht nicht erreicht wurde, daß wir einem Unglücke entgiengen, um in ein andres zu fallen, war das meine Schuld?

Und, guter Mann, noch kamst du nicht zur Ruhe? unterbrach ihn Belphegor. –

Nein, ich wurde herumgetrieben. Der Glaube der Europäer war damals in einer allgemeinen Gährung: niemand glaubte als was er mußte, und wenige glaubten, was sie bekannten. Nirgends konnte man neutral seyn: allenthalben wurde man in den Krieg verwickelt. Meine Melancholie erneuerte sich: die düstre Vorstellung, daß ich, ein Geschöpf, das sich dem Engel gleich dünkte, nicht die Glückseligkeit des niedrigsten Insekts genießen sollte, daß meine Brüder um mich herum sich zerfleischten, erwürgten, elend machten, daß sie, wie Raubthiere, einander aufrieben, eins der entschloßne Feind des andern war und nur Gelegenheiten, untriftige Gelegenheiten ablauerte, um die Feindschaft in Thätlichkeit ausbrechen zu lassen – die noch schwärzere Vorstellung, daß dies der ewige Lauf der Menschheit gewesen war, womit sich tausend andre Ideen vergesellschafteten, die mir dieses Leben und unsern ganzen Planeten wild, öde, düster, neblicht abmalten – ein Gemälde, das nicht bloß in meiner Einbildungskraft wohnte, sondern das ich in der Wirklichkeit um mich,[295] hinter und vor mir erblickte, so bald ich nur Einen Blick aus mir selbst that! – alle diese melancholischen Gedanken machten meine längstgefaßte Neigung zur Einsamkeit wirksam: ich beschloß, außer der Welt zu seyn, bloß in meiner Einbildungskraft zu existiren, für mich und meine Familie zu leben. Ich unternahm mit einem Kaufmanne, der Geschäfte in Persien hatte, die Reise, suchte den abgelegensten Winkel und suchte so lange, bis ich diesen Plaz fand, wo mein Haupt grau geworden und meine Schläfen eingesunken sind. Mein Gefährte war unglücklich in seinen Geschäften, wurde geplündert, entfloh mit Mühe den Händen der Barbaren, die ihn zerstücken wollten, fluchte der Welt und begab sich mit zween seiner Gefährten zu meiner Gesellschaft. WIR haben diesen Platz angebauet, bepflanzt, wir haben uns in kleine Gesellschaften getheilt; wir haben glücklich, ruhig und im Frieden zusammen gelebt, weil wir klein an Anzahl und unsre Nahrung hinreichend war: aber fürchterliche Aussicht, wenn dieser kleine Trupp zu einer Größe anwachsen sollte, die den Eigennutz anfachen und die schöne Ruhe dieses Winkels in eine kriegerische Scene verwandeln würde! Aber vielleicht sehe ich noch selbst den Tod diesen ganzen Schauplatz leer machen, und dann möge ein andrer tugendhafter Trupp ihn finden und bewohnen, aber nie zu einem Volke werden! – Freund! ich habe es dahin gebracht, wohin ich wünschte: ich habe mir in meinem Kopfe den Menschen zu den Vollkommenheiten eines höhern Geistes erhoben,[296] ich ließ ihn in dieser glücklichen Illusion mit den Geschöpfen der höchsten Ordnung wetteifern, ich liebte diese Idee, ward stolz darauf und war – glück lich. Um in dieser Welt sich zu freuen, daß man ein Mensch ist, um sich und seinem Geschlechte Würde zu geben, um auf seine Natur stolz zu seyn, muß man sich illudiren:

man muß die Augen verschließen, keinen Blick außer sich thun, und dann in süßen Schwärmereyen dahinträumen. Itzt, da meine ganze Seele von ihrer Höhe und anschauenden Kraft heruntergesunken ist, itzt will sie nicht mehr träumen: aber wohl mir! ich werde bald zu einem andern Traume hinüberschlummern. –

O edler Mann! unterbrach ihn Belphegor; ich habe ebenfalls in deinem Traume gelegen, aber das Schicksal und Akante verscheuchten ihn; und seitdem habe ich gesehen! gesehen und gelitten! Ich mischte mich in das Gedränge und –

»Und du bekamst Wunden und Beulen an Ehre, Vermögen und gutem Namen!«

Noch mehr! kein Fleck ist an meinem Körper, den nicht eine Narbe brandmarkt! und wenn ich aus dem Getümmel zur Stille kam, so verwundeten die gräßlichsten Vorstellungen meine Seele: die Welt sollte mir eine friedliche Wohnung glücklicher Kreaturen seyn, und die Erfahrung stellte sie mir als eine Höle auflauernder Räuber vor: in dem Menschen wollte ich einen guten freundlichen Bruder finden, und ich fand einen eigennützigen habsüchtigen Wolf. –[297]

»Lieber Fremdling! wenn du mit dem bloßen innern Geistesauge die Erde übersiehst, so findest du ein gewisses Leere, ein gewisses Geistliche darinne, das dir ekelt, daß du sie ein fades Werk nennen mußt; gleichwohl ist es dein Beruf auf ihr zu leben. Um das zu können, finde ich nur zween Wege: entweder stürze dich in das Gewirre, das Getümmel der Freuden, der Geschäfte, des allgemeinen Streites des Eigennutzes, ficht, siege oder stirb! Laß dich in dem Wirbel des Taumels herumdrehen, ohne zu denken, ohne anders als über die Oberfläche der Dinge zu reflektiren: zum ruhigen stillen Anschauen der Sachen, zum Eindringen in sie laß es nie kommen! Lebe, wie die meisten Einwohner der Welt leben, das heißt, komme nie zu dem Grade des Nachdenkens, wo du mehr als einen kleinen Zirkel der Welt überschaust, siehe nicht über dich und deinen Nutzen hinweg! Sey ein menschliches Thier, kein menschlicher Geist! – Oder wähle den andern Weg: reisse dich von allen Banden loß, die dich an die Menschen fesseln, existire nur in deiner Seele, vergrabe dich in ruhige einsame Stille! und dann alle Fittige deiner Einbildungskraft und Empfindung angespannt! laß sie fliegen so hoch sie die Luft trägt, bis zum Aether! überlaß dich ganz den süßesten Illusionen,14 die die Menschheit ersinnen[298] mag, dem Glauben an Vorsicht, Unsterblichkeit und Erhabenheit der Seele: setze deine Natur und also auch dich selbst auf die höchste Staffel der Wesen, rücke sie der Gottheit nahe: weide dich an diesen Schauspielen der Imagination und der Empfindung: sey mehr Geist als Thier, lebe mehr in der Idee als in der Wirklichkeit und kenne nichts auf der Erde außer dir! – Einer von beyden Wegen muß dich zur Glückseligkeit führen: du mußt entweder mit der Welt rasen, oder dich von ihr trennen! Der denkende Mann, mit starkempfindendem Herze, der nur zuweilen sich in ihr Spiel mischt und nur selten eine Karte zugiebt, der verliert allzeit an seiner Ruhe, besonders wenn er jedesmal den Fuß zurückzieht[299] und nachdenkt und vergleicht und erwägt. – Ich betrat den zweyten Pfad: dich stieß das Schicksal auf den ersten, aber du verließest ihn, wie ich merke, du irrtest von einem zum andern, du wolltest rasen und auch vernünftig seyn; und siehe! die Stunden der Vernunft, des Nachdenkens wurden für dich Stunden der Angst, der Beunruhigung.« –

Weiser, ehrwürdiger Mann! rief Belphegor entflammt, führe mich auf den Weg meiner ersten Jugend zurück, in die Gefilde der Einbildung, in welchen du bisher gewandelt hast! Ich bleibe bey dir: ich baue statt deiner das Feld und erarbeite meine und deine Nahrung: wenn der Abend mir den Schweis abkühlt, dann sitze ich mit dir unter dem Schatten dieser Zypressen und schwärme mit dir in bilderreichem Nachdenken und süßen Grillen herum; wir träumen wachend über unser Selbst, du lehrst mich deine alte Erfahrung, wir leben in uns, mit uns, und denken nicht Eine Minute daran, ob Kreaturen, die sich mit uns zu Einer Art rechnen, außer unsern Bergen einander zerfleischen, würgen, braten, rösten, essen. Wehe euch, ihr Freunde, daß ihr noch auf der ofnen See der Welt herumgeworfen werdet, noch nicht wenigstens eine kleine Bucht gefunden habt, die euch vor den Gefahren sicherte, wenn ihr gleich das tolle Spiel der Welt mit ansehn müßtet. – O wüßtet ihr, welchen Hafen ich hier entdeckt habe, der mich vor Stürmen, selbst vor dem Anblicke der Stürme verbirgt, wie würdet ihr über mein Glück frohlocken und[300] eilen, es mit zu genießen! Kommt, kommt! Meine Arme sind offen, weit ausgebreitet, euch zu empfangen! Hier wollen wir in seliger Entzückung, wie gekrönte Streiter, die Wunden zählen, die wir erfochten haben. –

Die Freude riß ihn so heftig hin, daß er den Alten umarmte, küßte und nicht aus seinen Armen lassen wollte. Mitten unter diesen Freudensbezeugungen hub sich der Alte empor und sprach mit ernster Mine: Freund, noch eine Pflicht ist mir übrig – eine traurige aber doch süße Pflicht: begleite mich! Du kanst empfinden; Du wirst also kein überflüßiger, kein müßiger Zeuge davon seyn. –

Belphegor staunte voller Erwartung, als die beiden Töchter den Alten unter die Arme faßten und ihn seitwärts durch einen gekrümmten Weg in ein dunkles Zypressenwäldchen führten, das jedem, der hineintrat, einen heiligen Schauer entgegen sandte: durch die Spitzen der Bäume fiel düstrer Mondschein auf den Weg und auf einzelne Plätze zwischen den Bäumen, wo ihn eine zufällige Oeffnung durchließ: Stille herrschte überall und weit sahe das Auge in eine langgedehnte Dü-sternheit hinab, die aber der Blick mehr vermuthen als sehen ließ. Der Greis gieng stillschweigend fort bis zu einem Steine, wo er sich seufzend niedersetzte und mit einem Tone, der Thränen vermuthen ließ, zu Belphegorn sprach: Itzt, Freund, will ich Dir ihre Geschichte erzählen, dann tröpfle ein Paar Thränen auf diesen Stein! und wir gehn. – Eines Morgens kurz nach unsrer[301] Ankunft in diesem Thale, als die frischeste Heiterkeit die ganze Natur belebte, saß ich, meine Lucie im Arme, auf diesem Stein und freute mich mit ihr über die Ruhe, die wir genossen, und die Drangsale, denen wir entgangen waren, und waren so zufrieden und liebten uns in der glücklichsten Trunkenheit und Vergessenheit unsrer selbst; wir dachten auf den Plan, wie wir unser kleines Feld bepflanzen, und diesem freygebigen Boden unsre nothdürftige Nahrung abgewinnen wollten. – Siehe! rief sie und wies auf ein blühendes Gewächs, das zwischen den Bäumen stund, auch dieses müssen wir pflanzen; es lacht so lieblich; wer weis, welche heilsame Kräfte es in sich verbirgt? Laß uns versuchen! So sprach sie und langte darnach. Nein, sagte ich und hielt sie zurück, laß mich lieber zuerst sehn; wäre es Gift, es könnte dich tödten. Wie könnte, erwiederte sie, unter einem so einladenden Blicke tödtendes Gift verborgen seyn? ich pflanze es um unser Haus, wäre es auch nur um seiner reizenden Blüthe willen. – Sie pflückte einen Zweig ab, kostete die Frucht der herabhängenden Schote und fand ihren Geschmack weniger schön als die Mine, aber doch nicht übel. Sie kostete noch einmal, und dann wieder, gab mir davon, ich konnte aber nichts genießen. Ich bat nochmals, die Frucht wegzuwerfen; allein sie fand den Geschmack süßer und angenehmer, je mehr sie genoß. Wir beschlossen, die Pflanze zu versetzen, sprachen und ergötzten uns an künftigen Einrichtungen noch lange Zeit. Plözlich verstummte sie,[302] entsank sich windend meinem Arme, ich faßte sie auf, rief; umsonst! alle Glieder zitterten mit konvulsivischer Bewegung, die Muskeln des Gesichts verzerrten sich in schreckliche Minen, sie schluchzte noch einige unvernehmliche Worte, starrte dahin und – starb.

Er verstummte, und die Geschichte selbst lehre den Leser seine Empfindung. –

Mitten in der Nacht als die ganze kleine Kolonie in dem tiefsten sorgenlosesten Schlafe lag – denn vor welchem Eigennutze sollten sie in der abgesondersten Einsamkeit sich fürchten? – weckte Belphegorn plözlich ein Getöse, das immer mehr sich verstärckte, und näher rückte: er hob sich empor und wurde von einem Widerscheine erhellet, der die schrecklichste Feuersbrunst ankündigte. Er sprang auf, schaute herum und erblickte Wohnungen und Bäume vom Feuer ergriffen, und zahlreiche Truppe mit lodernden Harzfackeln über die Ebnen hinstreichen, um die Verwüstung noch weiter auszubreiten. Er erschrak, wollte seinen Freund retten, wurde inne, daß seine Hütte beinahe schon niedergebrannt war, vermuthete, daß er das Opfer der Flammen geworden sey, dachte an sich und floh.

Der Ueberfall geschah von einem Truppe Einwohner, die jenseits der Berge zunächst angränzten. Die Ruchlosen vermutheten, daß Niemand einen so beschwerlichen Weg, wie Belphegor, unternehmen könne, wenn ihn nicht wichtige Reichthümer lockten: da ihnen der Mann etwas ausländisch vorkam, so war der nächste[303] Einfall, ihn für einen Zauberer zu erklären, der durch geheime Wissenschaften in den Bergen verschloßne Schätze in der Ferne gespürt habe und itzt gekommen sey, sie abzuholen. Aus dieser Ursache versammelten sie sich sogleich als der vermeynte Schatzgräber seinen Weg in das Gebürge antrat, folgten ihm heimlich nach und beschlossen, seine Rückkunft mit den Schätzen zu erwarten: da ihnen aber einfiel, daß der Mann, als ein Zauberer, wohl seine Rückreise auf geflügelten Drachen oder mit einer andern Art von Hexentransporte veranstalten könnte, so änderten sie weislich den Plan und faßten den Schluß, ihn noch die nämliche Nacht mit Feuer, als den sichern Waffen wider alle Zauberey anzugreifen, wiewohl sie auch noch die menschenfreundliche Nebenabsicht hatten, ihn vermittelst desselben aus seiner Wohnung hervorzuscheuchen, sich die Schätze zeigen zu lassen, und ihm alsdann zur Belohnung die verdammten Zaubergebeine zu Asche zu verbrennen. Noch mehr wurden sie in ihrer Meynung bestärkt, da der zurückkommende Wegweiser ihnen das empfangne Geld zeigte und, um seine Erzählung interessanter zu machen, hinzusetzte, daß ihm dieses der Mann durch einen Schlag mit seinem Stabe aus der Erde habe hervorspringen lassen. Jedermann brannte vor Verlangen auf diese Nachricht und sahe schon aus jedem Flecke, worauf er trat, Silber und Edelgesteine hervormarschiren, besichtigte jedes besondere Steinchen und vermuthete unter jedem abgefallnen Blatte eine verdeckte[304] Kostbarkeit. Sie warteten in einem Hinterhalte, bis der Zauberer schlafen würde, wo seine Kräfte nicht wirken könnten, und führten ihr schreckliches Stratagem aus. Sie zündeten die Hütten des Derwisches an, der wegen langer Sicherheit ungewohnt worden war, Feindseligkeiten von Menschen zu besorgen, und mit seinen Töchtern verbrannte, ehe sie ihr trauriges Schicksal wahrnahmen. Belphegor erwachte, ehe das Feuer seine Wohnung verheerte und entrann in den nahen Wald, indessen daß die Feinde an der brennenden Hütte des Derwisches und den übrigen lauerten, um den herauskommenden Zauberer zu erhaschen: sie lauerten, bis alles niedergebrannt war, sie lauerten bis zum Morgen: der Zauberer erschien nicht, weswegen sie vermutheten, daß er durch die Lüfte entwischt sey, und da sie sich nicht getrauten, ihm auf diesem Wege nachzusetzen, so verfluchten sie ihn, giengen unwillig fort, machten eine Eintheilung von den Schätzen, die sie hätten bekommen können, und prügelten sich tapfer herum, wenn einer zu habsüchtige Ansprüche machte: so nahm die Komödie doch wenigstens ein würdiges Ende. –

So sind meine schönen Hoffnungen abermals zerstäubt? rief Belphegor, als er sich ein wenig gesammelt hatte. Ich wollte erst anfangen zu träumen, und habe schon ausgeträumt! daß doch jede Glückseligkeit auf diesem elenden Planeten vorüberfliegender Traum ist, und nur die Leiden nicht! – So will ich wenigstens die Umstände brauchen, wie sie sind: kann ich in diesem[305] Winkel nicht mit meinem ehrwürdigen Freunde glücklich leben, so will ichs ohne ihn thun. Hier in diesen Bergen will ich wohnen, die Früchte der verscheuchten und getödteten Bewohner genießen, und dann Tod! dann in deiner Umarmung glücklich werden! –

So beschlossen, so gethan. Er schlich schüchtern zu den Wohnplätzen zurück, fand alles verheert, verwüstet, verbrannt und keine lebendige Seele. Die wenigen Früchte, die er antraf, reichten auf einige Tage hin, und so eifrig er die Hülfe des Todes vorhin wünschte, so bekümmert war er itzt, da ihr Termin so nahe herbeyrückte. Er machte schon verschiedene Anschläge, wie er sich mit dem vorhandnen Vorrathe beladen und aus den Gebürgen hinausbringen sollte. – Allein, sprach er endlich unmuthsvoll, ob mich der Hunger oder die Menschen tödten! Sollte ich ihrer Grausamkeit gar den Gefallen erzeigen und mich von ihnen umbringen lassen? Nein, hier sterbe ich! Hier, Tod, erwarte ich deinen hülfreichen Schlag! –

Mit dieser Entschließung setzte er sich unter einen Baum und wartete voller Verlangen auf den Tod. Mitten unter seinen Erwartungen hörte er das Geräusche eines Fußtrittes, hielt es für einen Feind, und weil er schlechterdings nicht von Menschenhänden umgebracht seyn wollte, so sprang er auf und floh. Der andre sezte ihm nach und erhaschte ihn: in der ersten Hitze, ehe sie einander erkannten, thaten sie sich ein Paar Feindseligkeiten an, und wurden endlich zu ihrem Leidwesen[306] gewahr, daß sie sich unnöthige Wunden gemacht hatten. Es war einer von der Kolonie des Derwisches, der Belphegor bey diesem gesehn hatte und also wohl schließen konnte, daß ihn Eine Ursache mit ihm in die Flucht getrieben habe. Sie verständigten sich hierüber, und Belphegors erste Frage war alsdann, wo der Derwisch hingekommen sey.

Er ist nebst seinen beiden Töchtern zu Pulver verbrannt, war die Antwort. Ich habe in den Ruinen seiner Wohnung ihre Gebeine gefunden, gesammelt und dort unter jenem frischen Erdhügel verscharrt. –

So verscharre mich neben ihm! unterbrach ihn Belphegor; denn ich will sterben, hier auf diesem Flecke sterben. –

Der andere that etliche unmaßgebliche Vorschläge, wie sie wohl mit Ehren beide noch länger leben könnten, und ermahnte in dieser Rücksicht Belphegorn, mit ihm sich durch das Gebürge durchzuarbeiten, französische Kaufleute aufzusuchen und dann nach Frankreich zurückzukehren.

Nein, ich will sterben! rief Belphegor. In Frankreich sind Menschen; wo die sind, ist man unglücklich: ich will sterben. –

Sein Freund sezte ihm mit seiner ganzen Beredsamkeit zu, weil ihm daran lag, einen Gefährten zu seiner Reise zu haben, und brachte es endlich so weit, daß er wenigstens seine Vorschläge in Erwägung zog. – Wir wollen als Gaukler, als Leute, die Merkwürdigkeiten[307] zeigen, herumziehn, bis wir in eine Stadt kommen, wo uns die Zuflucht zu einem Konsul meiner Nation offen steht: – das war sein Vorschlag. – Belphegor weigerte sich, wollte sterben, willigte drein und blieb leben.

Sie versorgten sich mit allem, was sie tragen konnten, traten den Weg an und Belphegor sandte einen schwermüthigen Seufzer in das verwüstete Thal zurück, als sie in den Wald hineintraten, um es nie wieder zu erblicken.

Sie sannen nunmehr auf Projekte, wie sie die Neugierde der Perser reizen und ihnen für eine kleine Belustigung den Unterhalt abgewinnen könnten. Nachdem vieles Nachdenken verschwendet war, so brachte Belphegorn ein Einfall darauf, die Geschichte Alexanders des Großen nach seinem Tode zu malen, und sie als ein den Persern höchst interressantes Schauspiel für Geld zu zeigen: – versteht sich, daß die Vorstellung nicht zum Vortheile des Macedoniers ausfallen sollte.

Belphegor war nun einmal geschworner Feind der Eroberer und aller, die jemals zum Würgen und Morden Anlaß gegeben hatten: weil er beständig wider sie zürnte, so wollte er schon vor vielen Jahren in einer unwilligen Laune, sie insgesammt der öffentlichen Verachtung aussetzen, doch glücklicher Weise hatte er die Idee aufgehoben, um izt sein Brod damit zu verdienen.

Die Komposition des Gemäldes war erfunden, und man schritt zur Ausführung; aber zur größten Bestürzung wurde man gewahr, daß man zum Malen Leinwand[308] und Farbe brauche und doch kein Geld bey der Hand habe, um diese Materialien anzukaufen. Belphegors Gefährte wußte Rath zu schaffen: er schlich des Abends in ein kleines Dorf, kam zurück und überbrachte seinem Gefährten, so viel er für nöthig erachtete, was er aller Wahrscheinlichkeit gemäß gestohlen haben mußte: es wurden Farben aus Wurzeln gepreßt, aus Erden zubereitet, die Leinwand aufgespannt, das Palet ergriffen und das Ganze meisterlich ausgeführt. Belphegor konnte etwas zeichnen und sein Gefährte hatte es ehemals gekonnt: dieser wenigen Talente ungeachtet, brachten sie doch ein Werk zu Stande, dem man wenigstens mit Hülfe einer deutlichen Erklärung ansehn konnte, was der Künstler auszudrücken gemeynt gewesen war. Dies Meisterstück der Kunst wurde auf Stangen zusammengerollt getragen und jedem neugierigen Auge zur Ansicht geöfnet, sobald dafür etwas bezahlt war.

Ein neues Hinderniß! Beide waren nicht stark genug in der Landessprache, um ihr Gemälde mit der gehörigen Flüchtigkeit der Zunge redend zu machen: und gleichwohl war eine wörtliche Erklärung mehr als Licht und Schatten in ihrem Werke. Sie machten indessen einen Versuch. Belphegor erzählte in dem nächsten Dorfe den erstaunenden Zuhörern mit lauter Stimme von dem Wütrich, dem bekannten Alexander, der ganz Persien bezwungen, und versprach ihnen zu zeigen, wie dieser Erzfeind des persischen Namens nach seinem Tode zur verdienten Strafe gezogen, wie sein Körper zerstückt[309] und in die niedrigsten Gestalten verwandelt worden, und wie er zulezt mit seinem übermüthigen Stolze sey gebraucht worden, um ein Mauslöchlein zuzustopfen u.s.f.

Niemand wußte etwas von diesem Bluthunde, dem Alexander: den Ali kennen wir wohl, sagten die Anwesenden, welcher hochgelobt und gepreist sey. Andre glaubten, daß er den Ali lästern und von ihm so schändliche Aergerlichkeiten erzählen wolle. Diese machten dem Schauspiele ein plözliches Ende, huben Steine auf und bombardirten auf Gemälde und Künstler los, daß beide nicht ohne Löcher davon kamen: sie ergriffen die Flucht und besserten, als sie sich in Sicherheit sahen, Tapete und Malerey wieder aus.

Die Leute sind hier zu devot, sagte Belphegor. Freylich muß man Plätze suchen, wo schon ein gewisser Luxus herrscht, und wo die Menschen nicht mit ihren Bedürfnissen zu sehr beschäftigt sind, um am Vergnügen Geschmack zu finden. Dummheit und Devotion müssen Leute, die für den Geschmack und die Philosophie arbeiten, wie das Feuer vermeiden.

Sie giengen in eine kleine Stadt, aber auch hier wußte niemand etwas von dem großen Alexander, doch sah man, um das Bedürfniß der Langeweile zu befriedigen, die wunderbaren Schicksale des todten Halbgottes auf der Leinwand an. Sie schauten also erstlich: wie dem seynwollenden Halbgott Alexander und großen Menschenwürger die Würmer aufm Leib herummarschiren[310] und jedes sein Portionlein abzwackt. – Ferner schauten sie: wie von dem großen Alexander und Erzfeind der Perser ein Theil in den Magen eines Schweins übergeht. – Die Idee, sieht man wohl, war sehr moralisch, und Belphegor bedeutete sein Auditorium dabey, daß die Theilchen Materie, die ehemals den Alexander ausmachten, als er Persien schändlicher Weise bekriegte, nach seinem Tode zerflogen und verschiedenen Menschen, Pflanzen und Thieren zu Theil geworden wären. Er ließ daher seinen Helden unter einer Eiche begraben liegen, seine Bestandtheile in den Baum aufsteigen und zu Eicheln werden, dann unter dieser Gestalt in den Magen einer Sau hinuntersteigen, von dieser seinen Ausgang nehmen, einen Fleck düngen, zu Flachse aufwachsen und in dieser Form von einem alten babylonischen Weibe gebraucht werden, um ein Mäuseloch zu verstopfen. Auf ähnliche Weise mußte ein andrer Trupp von seinen Bestandtheilen eine Reise thun, so ein dritter und noch mehrere, und jede Reise endigte sich mit einer höchstunangenehmen Herberge. – So viel sinnreiches und wahres die Erfindung auch enthielt, so konnten die Einwohner doch nicht viel Belustigung daran finden, weil sie nichts davon begriffen; besonders wollten sie nichts mit dem Alexander zu thun haben, der nie einem unter ihnen den Kopf entzwey geschlagen hatte, und ihnen also auch nicht bekannt war: der Gewinnst war ungemein geringe.

Sie machten einen dritten Versuch in einer größern[311] Stadt: abermals Unwissenheit! keine Seele wußte nur Eine Sylbe vom Alexander; man konnte ihn nicht einmal aussprechen. Sie stellten sich auf einen Marktplatz, wo das Volk sich um einen Gaukler aufmerksam versammelt hatte, den es aber sogleich haufenweise um der Neuheit willen verließ, als die beyden Europäer ihre Stangen hoch in die Luft aufrichteten. Man wurde durch den Anblick der Gemälde nicht sonderlich ergötzt, man gähnte: indessen hatte der Gaukler es doch einmal übel genommen, daß er durch die Ankunft dieser Leute einen Verlust an Zuschauern erlitte; er hörte also kaum die erste Sylbe von dem Namen des Alexanders, als er, um sich zu rächen, unter die Menge das Gerüchte ausstreute, daß diese Ruchlosen den großen Propheten Ali verspotten und lächerlich machen wollten: das Volk, das ohnehin wegen seiner betrognen Erwartung wider die Europäer eingenommen war, fieng bald Feuer, gab eine Salve Steine und Knittel auf die Gemälde, stürmte darauf loß, eroberte und vernichtete es unter dem lautesten Jubel. Ein Glück war es, daß der Pöbel Gelegenheit fand, seine Wuth an der fühllosen Leinwand zu sättigen: denn während dieser Raserey erwischten die beyden Europäer eine Oeffnung in dem Gedränge, durch welche sie wohlbedächtig hindurchkrochen und mit leidlich heilen Gliedmaßen zum ersten Thore hinausliefen.

O Wohnung des Neides und des Unglücks! rief Belphegor; häßliche Erde! Auch in dem niedrigsten Gewerbe ist Krieg! findet sich Gelegenheit für Menschen,[312] einander mißgünstig zu verfolgen! O Erde, du Wohnung des Neides! – Freund! was sollen wir nun thun? –

Betteln! sagte der Gefährte seines Unglücks.

Betteln! schrie Belphegor und seufzte. –

Nicht anders! Weg mit dem Stolze! Unverschämtheit her! das ist itzt unsre nothwendigste Brustwehr.

Belphegor stieß einen Valetseufzer an den Stolz aus, ließ sich von seinem Freunde die Haare abschneiden und wanderte mit ihm auf gutes Glück hin.

Die Lebensart war nicht wenig einträglich für sie: doch für Belphegorn weniger als seinen Gefährten, weil dieser die Kunst der Unverschämtheit besser inne hatte. Belphegor tröstete sich damit, daß er sein schlechteres Fortkommen einer höhern natürlichen Würde zuschrieb, und sein gesicherter Stolz hielt den Neid zurück. Plötzlich wandte sich durch einen Zufall das Glück. Der zurückgesetzte Belphegor gerieth auf den Einfall, das Frauenzimmer zu seiner Goldmine zu machen, und bediente sich dabey der bekannten Wünschelruthe – der Schmeicheley: jeder, die er ansichtig wurde, sagte er eine Süßigkeit – je häßlicher sie war, je stärker gab er die Dosis – und er lebte im Ueberflusse. Sein Gefährte war schon zu sehr gewohnt, einen Vorzug vor ihm zu haben, als daß er sich itzt so ruhig von ihm überholen lassen sollte: es kam ihm als ein Eingriff in seine Rechte vor, sein Neid wurde rege, und da er ihm nichts entgegenzusetzen hatte, so wuchs er täglich im Stillen, bis er mit Sturm ausbrach. Er suchte Ursache[313] zum Zwiste, und wie leicht kann jedem in dieser Welt damit gedient werden! Er fand sie, Belphegor gab nach, bis er endlich durch den Ungestüm des Andern gleichfalls erhitzt wurde; es wurde offner Krieg, worinne Belphegor den Kürzern zog: sein Gefährte plünderte ihn, und versetzte ihn in einen Zustand, daß er ihm nicht sogleich nachfolgen konnte, entfloh und trennte sich von ihm auf ewig.

Belphegor lag mit blutendem Gesichte und halbgelähmten Lenden an einem kleinen Flusse, wo er abermals über Welt und Menschen sein Klagelied sang und von den Beschwerlichkeiten des vorigen Treffens ausruhte. Endlich da er weiter nichts vor sich sah, als seinen Weg und sein Bettlergewerbe fortzusetzen, stund er unwillig auf und hinkte längst des Flusses hin.

Nach einer kleinen Strecke stieß er an ein Frauenzimmer, das an einem Scheidewege auf einem Steine saß und ihn schon in der Ferne mit den wollüstigen Geberden bewillkommte: er merkte also leicht, daß es eine von den orientalischen Schönheiten war, die ihre Reize auf den öffentlichen Straßen selbst verhandeln. Sein Muth war zu sehr gesunken, um an ihren Einladungen Theil zu nehmen: er gieng also ungerührt vorüber und würdigte sie kaum eines Seitenblickes. Sie folgte ihm und beunruhigte ihn mit den Bemühungen, sein Felsenherz zu erweichen, so lange bis er unwillig sie zurückwies: sie verfolgte ihn unaufhörlich. Um wenigstens die Qual ihrer Zudringlichkeit zu mindern, bat er sie,[314] ihm den Weg zur nächsten Hauptstadt zu zeigen, welches sie gern that, weil der nämliche Platz für ihre Geschäfte der vortheilhafteste war, und unterwegs, da sie durch seine Offenheit gleichfalls offen geworden war, unterhielt sie ihn mit ihrer Geschichte, den Beschwerlichkeiten ihres Handwerks und ihrem Ekel dafür. Sie bewies besonders bey dem letzten Punkte eine Empfindsamkeit, die sie ihrem Begleiter merkwürdig machte, und versicherte, daß sie nichts als die äußerste Noth in eine der schändlichsten erniedrigendsten Lebensarten gestürzt habe, die sie haßte und verfluchte, und nur, um nicht zu verhungern, emsig betreiben müßte. – O, setzte sie hinzu, Schicksal! du bist der Schöpfer unsrer Vergehungen![315]

13

Ludwig des 14.

14

Unter Illusion versteht der gute Alte wahrscheinlicher Weise die Meynungen, die nicht mit einer solchen Strenge bewiesen werden können, daß gar kein Zweifel mehr übrig bleibt, sondern wo im Grunde allemal der ausschlagende Grad Ueberzeugung angenommen, und nicht durch die Beweise allein gewirkt wird; und in diesem Falle wäre im Grunde die ganze Philosophie Illusion. Alle Meynungen, die jemals von Philosophen erdacht sind, oder künftig erdacht werden, sind nichts als verschiedene Vorstellungsarten von den Dingen: die Dinge selbst kennt niemand; z.B. den Lauf der Welt stellen sich einige als die Wirkung eines blinden Zufalls, andre als die Folge einer festgeketteten Nothwendigkeit, eines Fatums, andre als die abgezweckte Anordnung einer nach Plan und Absicht handelnden Vorsicht vor: jede unter diesen Vorstellungsarten hat Gründe für sich, aber keine so viele, daß sie die Beweise der übrigen und alle Zweifel ganz vernichtete: es sind Vorstellungen von dem Laufe der Welt, aus verschiedenen Gesichtspunkten genommen: wer nun unter diesen eine für die einzige wahre hält, der setzt dem Gewichte ihrer Gründe etwas wissentlich oder unwissentlich hinzu – welches meistentheils unsre Leidenschaften und Ideen ohne unser Bewußtseyn thun – und illudirt sich, in so fern dieses zur Ueberzeugung ausschlagende Etwas nicht die reine Wirkung ist. Glauben kann man in dieser Welt nie ohne Illusion.

Quelle:
Johann Karl Wezel: Belphegor, Frankfurt a.M. 1979, S. 269-317.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon