Die verlorene Kirche

[118] Den Ausflug zur Wurmlinger Kapelle hatten meine Eltern erlaubt – an einem Sonntage, gleich nach Mittag, hatte ich mich aufgemacht. Auf dem Schloßberg betrachtete ich die alte Burg von Westen. Hinter dem breiten und tiefen Graben, den man Bärengraben nennt, hebt sich trotzig die alte Feste. Bei näherer Betrachtung bemerkte ich im Graben Pflaumenbäume, Obstgesträuch, Gemüsebeete – in Staffeln klettert die Gartenanlage das Mauerwerk hinan, jedes Fleckchen Erde nutzend. Bäume, die auf der Bastei wachsen, gaben mir eine unbestimmte Vorstellung von »hängenden Gärten«, wie sie die Königin Semiramis angelegt haben soll. Im Durcheinander dieses Burgbildes unterschied ich Pfade und Treppen, angeklebte Kleinbauten, ragende Giebel und Schornsteine, wimmelnde Fenster, drohende Schießscharten. Eine Kanonenscharte des dicken Turms sah aus wie ein brüllendes Maul. Welch Tummelfeld für die Einbildungskraft eines Knaben, der gern von Ritterzeiten träumt.

Auch der Weg über den langgestreckten Grat des Schloßberges bescherte dem Auge genug des Bunten. Obstgärten gab es da, Gemüsebeete, Bohnen, die an Stangen rankten, Hopfenpflanzung und Rebengelände. Hinter einem Aussichtsplatz mit Bänken kam Buchenwald, dann Heidekraut, Kiefernschonung, Oedland mit schilfigen Halmen, Binsen und rostrote Tümpel.[119] Undeutlich wurde der Pfad. Kein Mensch, der mir hätte Bescheid geben können. Aber Wendelin hatte gesagt, man brauche nur auf der Höhe weiterzugehen – zur Kapelle führe da jedes Wegle.

Am Fuße des Kapellenberges, bei einer Bank, sollte ich zu bestimmter Zeit Wendelin und Pia treffen, die von Wurmlingen kommen wollten. Allmählich senkte sich der Bergrücken – verschnaufend blieb ich im kühlen Hochwalde stehen. Es troff mir von der Stirn – heiß war der Tag, hastig war ich gelaufen. Der Waldeinsamkeit bangsüßer Schauer wehte mich an – Glocken schienen fern zu läuten, ein verworrenes Raunen! Oh! dachte ich – die Kapelle wird das sein! Mein Zutrauen wurde gedämpft, als nur ein dunkles Summen sich erlauschen ließ. Das war entweder gar kein Geläut oder ein sehr entferntes.

Ich war fast ratlos – glaubte die Richtung verfehlt zu haben – Flammers zu versäumen, wäre mir recht leid gewesen. Immerhin empfand ich im Verirrtsein den Reiz des Abenteuerlichen. Wer den Glasberg sucht, dachte ich, sei auf Dinge gefaßt, die noch weit mühseliger und gefahrvoller sind als diese simple Verlegenheit. Indem ich aufs neue horchte, kamen mir Verse in den Sinn, die ich bei Uhland gelesen hatte:


»Man höret oft im tiefen Wald

Von oben her ein dumpfes Läuten;

Doch niemand weiß, von wo es schallt,

Und kaum die Sage kann es deuten.

Von der verlor'nen Kirche soll

Der Klang ertönen mit den Winden;

Einst war der Pfad von Wallern voll,

Nun weiß ihn keiner mehr zu finden.«


Was ich hörte, war also die verlorene Kirche! Hier wird's gewesen sein, wo Uhland ihr Summen erlauscht und sein Gedicht[120] gemacht hat. Welch ein wundervolles Abenteuer war mir da beschert! Bangfroh setzte ich meinen Weg fort. Wo der Hochwald eine Lücke zeigt, ging ich pfadlos – leisen Hoffens, das Märchenkirchlein zu entdecken. Vielleicht ist's ein Klösterlein, wie's Pia träumt. Dann hat sie recht, für fromme Einsamkeit zu schwärmen. Süß muß es sein, dort den Himmel durch Glockenläuten zu preisen, durch Sang zur Orgel und Gitarre.

An einer Geländesenkung war plötzlich der Weg zu Ende. Eine Halde ging's steil abwärts, dann stieg kegelförmig ein Hügel empor, und droben – wundervoll! – da schwebte die Kapelle, eine schimmernde Krone. Mir war zumute wie dem Kreuzfahrer, wenn vor ihm endlich das Ziel seiner Sehnsucht ragt: die Burg Zion – verklärt wie Goldgewölk.

Nahe der Bank streckte ich mich an den Waldrand, das liebliche Bild zu betrachten. Die vom spitzen Berg himmelan getragene Kapelle hob sich sonnig von einer dunklen Wolkenwand ab; ein Schweben war sie, ein lächelndes Schimmern. Schmal gereckt das Dachtürmlein; und wenn auch das Glöcklein schwieg, kam mir's vor, als ob es leise singe wie ein Engelchen.

Der Hang des Kapellenberges war Schafweide, und ich meinte, der Hirtenknabe, den das Lied erwähnt, müßte bei seiner Herde zu entdecken sein. Obstbäume, Klee- und Welschkornfeld, Hopfengärten und Weinterrassen. Zur Seite des Berges offen das Tal –, Wiesen und Aecker grün und gelb gemischt. Das Bild schimmerte, als sei's mit Hauchen gemalt; am tiefblauen Himmel schwammen Haufenwolken, ähnlich zackigen Schneegebirgen. Während mir die Augenlider schwer wurden, sah ich droben weißgekleidete Gestalten, lange Flügel an den Schultern. Und selber schwebte ich zu diesen seligen Inseln des Aethers empor. In einer Flut von Harmonie. Es läutete die Waldkirche,[121] Hainlins Flöte schluchzte, zur Gitarre sang Pia, und – auf einmal helles Lachen ... Ich schlage die Augen auf – da stehen Wendelin und Pia.

»Jesses, Maria und Joseph! Da liegt er! Ond hört net, daß es scho donnert! Und wie ihm die Sonne 's Gsichtle verbrennt hat! Wirscht wacker Durscht habe, gelt du? Da eß Kirsche!« Und ein Handkörbchen mit dunkelroten, saftigen Kugeln stellt mir Pia hin, während Wendelin, auf den Rasen gestreckt, schmunzelnd zusieht, wie mir das Labsal mundet.

»Lange muß ich geschlafen haben!« gestand ich – »inzwischen ist diese dunkle Wolke am Himmel hochgezogen – ein richtiger Gewitterkopf!« – »Es zieht vorbei!« meinte Wendelin, während Pia vorschlug, lieber nach Wurmlingen zu eilen. »Und wenn wirklich ein Schauer kommt, mr hänt ja Onterschlupf in dr Kapelle.« Also gut! ich schmauste weiter. Und berichtete nun mein Abenteuer. Als ich das geheimnisvolle Läuten schilderte, horchten Wendelin und Pia auf, ich mußte ihnen Uhlands Verse sagen. Sinnend nickte Wendelin: »Einscht war der Pfad von Wallern voll – nun weiß ihn keiner mähr zu finden.«

»Waas mag dr Uhland meinen mit der verlorenen Kirche?« fragte Pia – nach etlichem Sinnen fügte sie hinzu: »Den Glauben meint er!« – »Welchen Glauben?« fragte Wendelin. Stutzig sah ihn Pia an: »Welchen? Den rechten Glauben, unsern Glauben!« – Mit leisem Spotte Wendelin: »Ischt denn dei Glaube ein verlorener?« – »Verlorener? Wer hat dees gsagt?« – »Du! Wenn der Uhland mit der verlorenen Kirche deinen Glauben meint, na wär dein Glaube ein verlorener.«

Pia suchte dieser Folgerung auszuweichen: »Du mit deiner Spitzfindikkeit! I will bloß sage, der rechte Glaube hat heuer net mähr die Geltung wie in der guete alte Zeit ... Einscht war der Weg von Wallern voll.« – Wendelin wiegte den Kopf:[122]

»An Wallfahrern und Betern fehlt's auch heuer net – aber von denen findet keiner 's Pfädle zur Waldkapelle. I glaub, an du net, Piale?« – Pia schmollte: »Dees willscht mr abspreche?«

Sinnend blickte Wendelin zum Walde, durch den ich gekommen war: »Ha no! Vom Waldkirchle rede mer, wie's der Uhland meint. Heimlich tut dees läute ... Selten, daß es ebber vernimmt. Ond wenn – so hat er noch lang net 's Waldkirchle. Zu dem führt e schmals Pfädle, überwachse, verstohle. Zeig mir's Pfädle, Piale!« – »I brauch kei Pfädle! Mei guete Straß han i.« – »Dei Straß, die führt net zum Waldkirchle.«

»Mei breite Straß führt sicher.« – »Ja, zum Dom aus Stein. Wenn du keinen andern suche tuscht ...« – »Waas für einen tuscht denn du suche?« – »Den Waldesdom, den lebendigen Dom! Kalt ischt dei Tempel aus Stein, ja, kalt und tot.«

Betroffen schwieg Pia – dann warf sie's Näsle hoch: »Und dei Waldesdom? Wühscht ischt der! In der Wildnis hat's net emal eine Orgel.« – »Wühscht kann's au im steinerne Dom hergehe!«

Da Pia verstimmt war, suchte ich abzulenken: »Wild kann der Waldesdom allerdings sein – und manchmal ist man zufrieden, wenn man aus dem Irrsal rausgefunden hat. Mir ist es vorhin fast unheimlich geworden. Drum seh' ich in der lieblichen Kapelle drüben mein verlorenes, schließlich gefundenes Kirchlein.«

Freundlich nickte Pia. Wendelin betrachtete mich: »Mit so Märle, scheint's, hascht gern zu tun, gelt? Hat net dr Kandidat Hainlin von eme Glaasberg gsproche? Der sei dein Geheimnis. Waas für Bewandtnis hat's denn mit dem Glaasberg?« Als[123] ich zögerte, meinte Pia ein wenig spitzig: »Darf i's net höre? Na gang i!« Da mußte ich schon mit der Sprache heraus: »O freilich dürfen Sie's hören! Es ist ja gar kein eigentliches Geheimnis. Bloß ein Märchen. Den Glasberg denke ich mir steil und spitz – ganz aus Glas, hart und glatt – und kein Pfad führt hinauf. Wer es wagt, hinanzuklettern, rutscht ab – Hals und Beine bricht er.«

Pia hatte sich hingekauert: »Ha, warum will er denn naufklettre? Wenn's so gfährlich ischt!« – Nicht ohne Verlegenheit erwiderte ich: »Wegen der Prinzessin! Die soll oben hausen. Herr Hainlin nennt sie eine Walküre.« – »Walküre? Ischt dees net eine Oper?« – »Walküre ist eine starke Jungfrau, die im Himmel wohnt. Den tapferen Krieger beschützt sie. Wenn er im Kampfe fällt, nimmt sie ihn auf ihr fliegendes Roß und trägt ihn zur Walhalla. Das ist der himmlische Freudensaal. Solch eine Walküre ist die Prinzessin auf dem Glasberg. Herr Hainlin sagt, jeder Mensch, dem ein Traum von Glück vorschwebt, meint die Prinzessin auf dem Glasberg – und wagt den Versuch, hinauf zu klettern.« – »Ond verunglückt dabei,« bemerkte Pia ein wenig spöttisch – »dees hat na dr Held von seiner Schwärmerei!«

Geringschätzig bemerkte Wendelin: »Was verstehscht denn du von Helde!« – Pia gereizt: »Oh, warum soll i nicks dervo verstehe? Es gab au Glaubenshelde! Denk' an den heiligen Franz! Für sein Ideal hat der die Welt drahngebe.« – »Also,« erwiderte Wendelin – »seine Walküre war die Jungfrau Maria!« Schwärmerisch hob Pia den Blick zur Kapelle: »Dees Marienkirchle ischt mei Glaasberg.«

Wendelin und ich sprangen auf, munter ging's den Berg hinan. Hinter der Mauer, die den Gipfel umzingelt, waren Gräber mit Holzkreuzen, dran hingen Kränze aus blauweißen Perlen. Stiefmütterchen[124] und Nelken blühten. Auf dem Holze las man den Namen des Ruhenden, seinen Geburts- und Sterbetag. Pia zeigte mir ein Grab: »Da ruht unser Großvatterle!« Die Inschrift nannte ihn den Storchenwirt zu Wurmlingen. »Ein schöner Platz zum Schlafen, gelt?« fuhr sie zärtlich fort. »Hier obe möcht i au begrabe sein. Wenn's in mei'm Kloschterle net sein dürft ...«

Ich schwieg – über das Kloster zu sprechen glaubte ich nicht befugt zu sein. Sie kam mir wie eine Heilige vor. Und weiter schwärmte sie, mit einem weichen Frohsinn: »Es muß schön sein, so ganz still zu liege – und gar kei Unruh mehr zu habe! Wenn dann mei Tant mei Hügele bsucht, bricht sie e Zweigle Immergrün, ond na heißt's: Da schlaft unser Piale.« Sie mochte wohl merken, daß ich ein ernstes Gesicht machte, und nun war auf einmal ihr Ton verändert – schelmisch ahmte sie die Redeweise geschwätziger Rührseligkeit nach: »Ach ja, 's Piale! War dees e bravs Mädle! Ond e fleißiks, e sparsams Mädle!« – »Ach nicht doch!« bat ich. Doch sie gefiel sich in der Rolle: »Ond klugs Mädle! Ha, warom dees net au? Zu Lebzeiten freili hört mr's anders – da heißt's immer bloß: Pia, sei net so domm! Pia, ohgschickts, leichtfertiks Mädle! Ha ja, erscht wenn mr tot ischt, tun sich die Leut bsinne – ond da machen sie's gnädik. Schon aus Neugier möcht i verstorbe sei – bloß daß i höre möcht, waas alls die Leut vom Piale schwätze. Wie Weihrauch soll mir die Lobhudelei oms Näsle wehe. Ui jele!« Lachend brach jetzt der Uebermut hervor: »Aber aufspringe möcht i uf oimal ond die Leut auslache: Gelt ihr? Verstorbe muß mer sein – na gilt mer ebbes – eher net! Verstorbe oder wenikschtens krank, gelt? Wenn mr krank ischt, hört mr gleichfalls viel Schmeichelhafts. Da heißt's: Werd mer bloß wieder gsund, mei Herzblättle ... O Herrschaft!«[125]

»Jetzt aber, ihr zwei, kommet da her!« rief Wendelin, über die Mauer schauend, die den kleinen Kirchhof umfriedet. Wir gingen hin – ich ward von der Aussicht ergriffen.

Unter den Weingärten des steilen Berghanges wimmelnde Dächer – rechts ein zweites Dorf – weiter hinten eine Stadt – in heller Beleuchtung hoben sich Türme und Dächer vom dunklen Waldgebirge. »Das ist Rottenburg mit dem Rammertwald!« sagte Wendelin – »der Turm auf dem Berge die Weilerburg ... Grad unter uns liegt Hirschau – rechts Wurmlingen – weiter hinte Wendelsheim – die Seebronner Warte.« – »Geht mich nichts an!« erwiderte ich. »All die Namen kann ich nicht mal fassen.« – Im Eifer fuhr er fort, quer über den Friedhof deutend: »Pfäffinge!«

»Sag lieber Monsalwatsch!« – »Waas?« – »Monsalwatsch! Märchennamen sind mir lieber! Geographie versetzt uns übermorgen der Naso – heute mag ich keine. Was geht es mich an, wie die Stadt da heißt und das Dorf! Vielleicht hat Herr Kuttler da Hopfengeschäfte gemacht, und der Braten, den meine Mutter heute aufgetischt hat, stammt von einem Kalbe aus dem Dorfe drüben. Will davon nichts hören. Lieber bin ich im Wunderlande.« Und ich starrte zur Gebirgskette, die hinter breitem Tale, das der Fluß durchquert, über dunklen Waldbergen blaute. Die Höhen wie lange Schanzen geformt, – vorn ein kuppelförmig gewölbter Berg – ganz fern ein spitzer Kegel. »So ungefähr sieht der Glasberg aus!« sagte ich.

Jetzt war die Stadt Rottenburg nebst ihren Waldhöhen vom Dunst der Wetterwolke verhüllt – man sah, wie der Regen in schrägem Fall über die Landschaft zog. Während hier graublaue Düsterkeit lag, strahlte weißlich die Sonne über den westlichen Teilen des Neckar- und des Ammertals. Hügel[126] wallten – grüngolden flirrten Felder – hell und braunrot die Dörflein –, dann kamen dunkelgrüne Wälder – bis der Schwarzwald die blaue Grenze bildete. Da wir's donnern hörten, suchten wir am Zuge des Gewölks zu erkennen, ob uns Regen beschieden sei. Und zur Kapelle wandten wir uns. Ein weißgetünchter Steinbau vom Umfang einer kleinen Dorfkirche. Zwei gotische Pforten, vier hohe Fenster. An der Außenwand Grabsteine bevorzugter Gräber.

Beim Eintreten in den Kirchenraum tunkte Pia den Finger ins Weihwasserbecken und bekreuzigte sich. Da ihr Bruder dazu keine Anstalt machte, betupfte sie ihm Stirn, Schulter und Brust, was er sich stumm gefallen ließ. Dann trat Pia zum Altar und neigte sich demütig. Ich war noch nie in einer katholischen Kirche gewesen; die beflitterten Figuren am Altar und an den Wänden, die starken Sinnfälligkeiten, die für manchen etwas Bestrickendes haben, verfehlten auf mich ihre Wirkung nicht, obwohl ich das bäurisch Grelle nicht mochte. Die Mutter Jesu spielte hier die erste Rolle. In dreifacher Gestalt, bunt bemalt und blinkend, zierte sie die Hauptwand: links als Mutter des Kindleins; rechts als Schmerzenreiche, das Herz von Schwertern durchbohrt; in der Mitte als Himmelskönigin mit goldener Krone.

Der Regen war nun doch gekommen, durch die offene Pforte hörte man 's tröpfeln, dann brach ums Gemäuer rauschendes Gießen los. »Mer werde doch net eiregne?« raunte Pia schüchtern. »I mein bloß ... weil der Uli halt gsagt hat, er woll nach Wurmlinge komme.« – »Ha freili, der Uli!« nickte Wendelin. Gleich darauf gab's einen krachenden Blitzschlag, – Pia bekreuzigte sich.

Aber schon wirbelte das Wetter seitwärts, und in den abziehenden Regen lugte die Sonne. Ermuntert traten wir aus[127] der Kapelle in erfrischte Luft und bejubelten den Regenbogen der sich vor der Dunstwand wölbte.

»Ganget mer!« sagte Pia, – und als wir den Kirchhof verlassen hatten, hüpfte sie wie ein Reh den steilen Hang hinab, wo schimmernde Tropfen an Halm und Blume hingen. Ihr sinniger Ernst kehrte zurück, als sie mir die Bildnisse erklärte, die längs des Abstieges in gemessenen Abständen angebracht waren; Stationen seien das, die den Martergang Christi schildern, da bete der Wallfahrer. Aufs neue zur Ausgelassenheit gestimmt, schlug Pia einen Wettlauf vor, und wir rannten bergab. So waren wir bald im Dorf. Bei der Kirche hatten sich geputzte Landleute versammelt, wohl zu einer Kindtaufe.

Da war nun das Gasthaus zum Storchen. Herr Müller, der Onkel Flammers, bediente Gäste und nickte uns zu. Im Saal neben der Schankstube war ein Klavier. Pia schlug Akkorde an und sang ein wehmütiges Lied:


»Ich armes Klosterfräulein!

O Mutter, was hast du gemacht!

Lenz ging am Gitter vorüber,

Hat mir kein Blümlein gebracht.


Ach wie weit, weit dort unten

Zwei Schäflein gehen im Tal!

Viel Glück, ihr Schäflein! ihr sahet

Den Frühling zum erstenmal.


Ach wie weit, weit dort oben

Zwei Vöglein fliegen in Ruh!

Viel Glück, ihr Vöglein! ihr flieget

Der besseren Heimat zu ...«


Auf einmal fühlte sie sich bei den Schultern ergriffen – sie wandte sich um – Uli war's. Strahlend in Jugendfrische,[128] begrüßte er Pia, nahm die dunkle Rose aus seinem Knopfloch und überreichte sie dem errötenden Mädchen. »Aufgespielt, Wendelin!« kommandierte er jubelnd.

Und wie ein Walzer erscholl, wirbelte das Paar durch den Saal. Ich dachte an Schmetterlinge, die einander umgaukeln. Mit Verwunderung sah ich Pias Art auf einmal verwandelt. War denn hier noch das Klosterfräulein, das von der Gottesmutter geschwärmt hatte? Nach dem Tänzchen setzte sich Uli an das Klavier, trommelte auf den Tasten einen Militärmarsch und ging in die Volksweise über: »Wie kommt's, daß du so traurig bist und auch nicht einmal lachst?« Die Antwort summte sein wohlklingender Baß:


»Und wer 'nen stein'gen Acker hat

Und einen brochnen Pflug,

Und wem sein Schätzel untreu wird,

Der hat wohl Leid genug.«


»Ha, dees kommt davon!« scherzte Pia, – »warom hat er e Schätzel!« – »Es geht noch weiter,« sagte Uli und sang:


»Hab all mein Tag kein gut getan,

Kommt mir auch net in Sinn.

Die ganze Freundschaft weiß es ja,

Daß ich ein Unkraut bin.«


Quelle:
Bruno Wille: Glasberg. Berlin [o. J.], S. 118-129.
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