[201] Ebbe und Flut (Gezeiten). In den Gezeiten haben wir die einzige uns verfügbare Energiequelle auf der Erde, die nicht, wenigstens nicht in erster Linie, ihren Ursprung in der Sonne hat.
Ebbe und Flut werden in erster Linie durch die Anziehung des Mondes, in zweiter Linie erst durch die der Sonne bewirkt. Wäre der Mond allein vorhanden und wäre die ganze Erde mit einer Wasserschicht von gleichmäßiger Dicke bedeckt, so würde durch die Anziehung des Mondes ihre Oberfläche die Gestalt eines Rotationsellipsoides annehmen, dessen große Achse in jedem Augenblicke nach dem Mittelpunkte des Mondes gerichtet wäre, während eines Tages also einen vollen Umlauf um die Erde machen würde; allerdings würde diese Periode durch die Eigenbewegung des Mondes um etwa 50 Minuten verlängert werden. Die Entstehung des Ellipsoides haben wir uns so zu denken, daß der dem Monde nächste Punkt der Erdoberfläche stärker als der Erdmittelpunkt, dieser aber wieder stärker als der vom Monde entfernteste Punkt der Erdoberfläche angezogen wird; beide Punkte, in denen die durch den Erd- und den Mondmittelpunkt gezogene Gerade die Erdoberfläche schneidet, entfernen sich also vom Erdmittelpunkte. In Zwischenräumen von etwa 6 Stunden würden also in jedem Punkte der Erdoberfläche höchster und tiefster Wasserstand wechseln. Für die Sonne gilt dasselbe, aber ihr Einfluß ist schwächer. Zur Zeit des Vollmondes und des Neumondes wirken beide Einflüsse in demselben Sinne und summieren sich, während sie zur Zeit des ersten und letzten Viertels einander entgegenwirken und nur ihre Differenz in Betracht kommt. Ferner sind zur Zeit der Aequinoktien die Fluten stärker als zur Zeit der Solstitien, weil dann die Sonne in der Nähe der Ebene des Aequators steht, von der sich auch der Mond nicht sehr weit entfernen kann. Die Einflüsse des Mondes und der Sonne sind hier nicht etwa direkt nach dem Newtonschen Gravitationsgesetze zu berechnen, denn dann würde sich ja der Einfluß der Sonne ungeheuer viel stärker als der des Mondes ergeben. Es handelt sich hier vielmehr, wie aus dem Gesagten folgt, um die Differenz der Anziehungen des Mondes oder der Sonne auf zwei gegenüberliegende irdische Punkte, um eine Art von Störung im Sinne der Astronomie. Diese Differenz aber ist der dritten Potenz der Entfernungen umgekehrt proportional. Man hat also für Mond und Sonne den Quotienten aus der Masse und der dritten Potenz der Entfernung zu bilden und diese Quotienten zu vergleichen. Für die Mittelwerte der Entfernungen ergibt sich der Einfluß des Mondes auf diesem Wege 2,214 mal so stark wie der der Sonne. Infolge der Unterbrechung der Wassermassen[201] durch die Kontinente und Inseln, auch infolge der sehr verschiedenen Tiefen der Meere wird nun das Gezeitenphänomen sehr verwickelt. So treten beispielsweise in der Nordsee zwei verschiedene Flutwellen auf und kollidieren miteinander; die eine geht durch den Aermelkanal, die andre um die Nordspitze Schottlands herum. In Meeren, die, wie die Ostsee und das Mittelmeer, nur durch eine schmale Wasserstraße mit dem Weltmeere in Verbindung stehen, machen sich die Gezeiten kaum bemerkbar; bevor nämlich das mit der Flut eindringende Wasser sich über die ganze Fläche des Binnenmeeres verteilen kann, tritt schon wieder Ebbe ein, und die Rückströmung beginnt.
Auch für die Kosmogonie ist neuerdings die Gezeitentheorie höchst bedeutungsvoll geworden. Durch die Gezeitenreibung hat G.H. Darwin [1] die Uebereinstimmung der Umdrehungs- und Umlaufszeit des Mondes, infolge deren der Mond der Erde immer dieselbe Seite zuwendet, zu erklären versucht. Er nimmt an, daß sich der Mond in unermeßlich weit zurückliegenden Zeiten in feurigflüssigem Zustande befunden, und daß er damals eine mit der Achsendrehung der Erde gleichsinnige Achsendrehung besessen habe. Genau so, wie noch jetzt der Mond auf den Ozeanen der Erde eine Flutwelle erzeugt, muß damals die Erde auf dem Monde eine Flutwelle erzeugt haben, die in dem seiner Achsendrehung entgegen gesetzten Sinne ihn umlief und durch ihre hemmende, bremsende Wirkung seine Umdrehungsgeschwindigkeit so lange verringerte, bis sie der Umlaufszeit gleich geworden war. In diesem Zustande trat dann schließlich die Erstarrung ein. Die Flutwelle, deren beide Scheitelpunkte in die Richtung der Verbindungslinie der Mittelpunkte beider Körper fielen, erstarrte mit, so daß der Mond, wenn auch für uns unerkennbar, die Gestalt eines Ellipsoids hat, dessen größte Achse nach dem Erdmittelpunkte gerichtet ist. Die Umdrehungsachse selbst müßte infolge der Zentrifugalkraft etwas verkürzt, der Mond also ein dreiachsiges Ellipsoid sein und uns einen elliptischen Umriß zeigen, jedoch haben die schärfsten Messungen eine Abweichung des Mondumrisses von der Kreisgestalt nicht erkennen lassen. Auch die durch die Theorie der Gezeitenreibung geforderte allmähliche Abnahme der Umdrehungszeit der Erde und die daraus folgende Zunahme der Tageslänge infolge der Gezeiten der Ozeane hat sich bisher nicht nachweisen lassen. Den Gedanken, daß eine derartige Einwirkung der Gezeiten auf die Tageslänge vorhanden sein müsse, hat übrigens schon Kant [2] ausgesprochen. Daß auch die von Schiaparelli behauptete Uebereinstimmung der Umdrehungs- und der Umlaufszeit bei Merkur und Venus, wenn sie sich bestätigt, auf die durch die Sonne verursachte Gezeitenreibung zurückgeführt werden könnte, liegt auf der Hand. Auch die auffallende Tatsache, daß die Umlaufszeit des inneren Marstrabanten »Phobos« kürzer ist als die Umdrehungszeit des Hauptplaneten; hat Darwin durch die Annahme zu erklären versucht, daß die Gezeitenreibung eine Verlangsamung der Umdrehung des noch flüssigen Planeten bewirkt habe. Für den Erdmond kommt Darwin, indem er die durch die Gezeitenreibung hervorgerufenen Veränderungen der Mondbewegung und der Erdrotation rückwärts verfolgt, zu dem Ergebnisse, daß der Mond einst der Erde so nahe gewesen sein müsse, daß er sie beinahe berührte und beide Körper einander in 35 Stunden umkreisten. Erst nach und nach habe sich dann die Entfernung bis auf den heutigen Betrag vergrößert.
Die Gezeitentheorie hat auch unsre Ansichten von der Beschaffenheit des Erdinnern ganz wesentlich beeinflußt. G.H. Darwin tritt für ein festes Erdinneres ein und führt aus, daß wenn das Innere eine weiche Masse wäre, es infolge der Anziehungen des Mondes und der Sonne Ebbe- und Fluterscheinungen zeigen müßte. Die ganze feste Erdrinde müßte an dieser Bewegung teilnehmen, und wir würden daher von der Ebbe und Flut der Ozeane nichts bemerken. Darwin kommt zu dem Schlusse, daß die Erde, als Ganzes genommen, starrer als Glas, etwa so starr wie Stahl ist. Zu demselben Ergebnisse kam schon William Thomson (Lord Kelvin). Er zeigte, daß wenn die Erde so starr wie Stahl wäre, sie den Anziehungen des Mondes und der Sonne so weit nachgeben würde, daß die Gezeiten des Meeres um ein Drittel kleiner als auf einer vollständig starren Erde ausfallen müßten. Demnach wird also durch diese Anziehungen zunächst der Erdkörper als Ganzes, dann aber die Wasserbedeckung in weit höherem Grade in ellipsoidischem Sinne deformiert. Tatsächlich haben Darwin und Schweydar eine Verkleinerung der Gezeiten der Ozeane im Verhältnisse 2 : 3 festgestellt. Auch die neuere Erdbebenforschung zeigt, daß sich die Erde wie ein fester Körper von der Starrheit des Stahls verhält.
Literatur: [1] G.H. Darwin, Ebbe sind Flut, Leipzig 1902. [2] E. Adickes, Kants Ansichten über Geschichte und Bau der Erde, Tübingen 1911.
F. Meisel.
Brockhaus-1911: Ebbe und Flut · Taube Flut · Flut
Lueger-1904: Ebbe und Flut [1] · Flut
Meyers-1905: Ebbe und Flut · Atmosphärische Ebbe und Flut · Wilde Flut · Taube Flut · Flut