[396] Geradführung heißt die Bewegung eines Punktes, der vermittelt eines Mechanismus in geradliniger Bahn geführt wird.
Am einfachsten wird eine Geradführung dadurch erzeugt, daß ein Hohlprisma S sich auf einem festen Vollprisma Σ verschiebt (Fig. 1); denn dann bewegen sich alle Punkte von S in Geraden gegen Σ und umgekehrt, wenn S fest ist und Σ bewegt wird. Die Prismen können in mannigfaltigster Weise durch anders gestaltete Körper ersetzt werden. Zum Beispiel bei der Dampfmaschine ist S der Kreuzkopf, der zwischen Schienen geführt wird; ferner kann S ein Hohlzylinder sein mit einem Einschnitt in seiner Längsrichtung und Σ ein Vollzylinder, versehen mit einer Längsrippe, die in den Einschnitt paßt. Das bewegte Glied vollzieht auf dem als fest betrachteten Gliede, bei diesem aus zwei Gliedern bestehenden Mechanismus, der auch eine Richtpaarung genannt wird, eine geradlinige Parallelbewegung, eine Parallelgleitung. Ist die Bewegung eines Punktes, die durch einen nur Achsengelenke (s. Gelenk) enthaltenden Mechanismus erzeugt wird, eine genaue geradlinige, dann heißt diese Bewegung eine absolute Geradführung (s. S. 397). Wird dagegen der Punkt durch einen solchen Mechanismus auf einem Kurvenstück bewegt, das von einer Geradenstrecke sehr wenig abweicht, dann heißt diese Bewegung eine angenäherte Geradführung. Die angenäherte Geradführung wird meistens durch einen Mechanismus erzeugt, der aus vier durch parallele Gelenkachsen verbundenen Gliedern besteht. Um einen solchen Mechanismus zu konstruieren, nehmen wir an, es bewege sich in Fig. 2 eine starre Strecke D1 L1 mit ihren Endpunkten D1, L1 bezw. auf den Geraden d, l, die sich im Punkt Φ senkrecht schneiden. Der Mittelpunkt F1 der Strecke D1 L1 bewegt sich dann auf einem Kreise φ, dessen Mittelpunkt Φ ist; denn ein über D1 L1 als Durchmesser beschriebener Kreis geht in allen Lagen von D1 L1 durch den Punkt Φ. Wird nun ein Arm Φ F1, der sich um die feste Achse Φ dreht, in F1 mit einer Stange D1 L1 drehbar verbunden und ein Zapfen L1 der Stange D1 L1 in einem festen geradlinigen Schlitzgliede längs l geführt, so wird der Punkt D1 eine genaue Gerade d beschreiben. Da aber in der Praxis eine Führung durch Drehung oft leichter herstellbar ist als eine Führung in einem Schlitz, so wird die Führung eines Punktes L1 auf einer Geraden l angenähert durch die Führung auf einem Kreisbogen λ ersetzt. Um diesen Kreisbogen zu erhalten, halbieren wir in D2 die halbe Hubhöhe Φ D1 des schwingenden Punktes D1, zeichnen die beiden Lagen D1 L1 = D2 L2, bei denen D1, D2 auf der Geraden d und L1, L2 auf der Geraden l liegen, und beschreiben einen durch L1, L2 gehenden Kreisbogen λ, dessen Mittelpunkt Λ sich also in der Mittelsenkrechten der Strecke L1 L2 befindet. Wird nun der Punkt F1 auf dem Kreisbogen φ, der Punkt L1 auf dem Kreisbogen λ bewegt, dann beschreibt der Punkt D1 eine Kurve, von der ein Stück D1 D5 der Geraden d sehr angenähert ist; und je länger der Radius L1 Λ genommen wird, desto mehr nähert sich dieses Kurvenstück der Geraden d.
In den Punkten D1, D2, D3, D4, D5 die in gleichen Abständen voneinander auf der Geraden d angenommen sind, schneidet die Kurve δ diese Gerade d. Die Kurve δ hat also die Endpunkte D1 D5 der Hubhöhe und die drei Zwischenpunkte D2, D3, D4, von denen D3 mit Φ zusammenliegt, mit der Geraden d gemeinsam. Die Führung heißt demnach eine fünfpunktige angenäherte Geradführung; der Punkt D1 wird dadurch gezwungen, ein Kurvenstück zu beschreiben, das sich der Geraden d sehr nahe anschmiegt. Die auf diese Weise erzeugte Geradführung wird eine Evanssche Geradführung genannt [1]. Der Mechanismus, der diese Geradführung erzeugt, besteht aus dem festen Gliede Φ Λ, den beiden Armen Φ F1, Λ L1, die resp. um die festen Achsen Φ Λ schwingen, und dem Gliede F1, L1, das durch Gelenke in F1, L1 drehbar mit diesen Armen verbunden ist.
Denken wir uns an diesen Mechanismus in Fig. 3 das Gelenk D1 L' Λ angefügt, so daß durch D1 L' Λ L1 ein Parallelogramm gebildet wird, und die Strecke F1 L'' parallel L1 Λ oder [396] D1 L' eingelegt, dann wird durch die Gerade D1 Λ diese Strecke F1 L'' in D'' halbiert und die Kurve δ'', die der Punkt D'' beschreibt, ist der Kurve δ im Verhältnis 1 : 2 ähnlich und ähnlich gelegen bezüglich des Punktes Λ. Die Kurve δ'' wird also auch vermittelst des Gelenkvierecks Φ F1 L'' Λ, bei dem Φ, Λ feste Drehpunkte sind, durch den Punkt D'' beschrieben. Zu diesem Gelenkviereck zeichnen wir das doppelt so große, ähnliche und ähnlich liegende Gelenkviereck Ω O' L' Λ, indem wir L' D1 um die eigne Länge bis O' verlängern; ferner Λ Φ um die eigne Länge bis Ω verlängern und die Strecke Ω O' ziehen, die zu Φ F1 parallel ist. Vermittelst dieses Gelenkviereckes Ω O' L' Λ, bei dem Ω, Λ feste Drehpunkte sind und Λ L' = Ω O' ist, beschreibt der Mittelpunkt D1 der Seite O' L' dieselbe Kurve δ, die bei der Evansschen Geradführung der Geraden d sehr angenähert ist. Betrachten wir nun das Gelenkviereck Ω O' L' Λ in Fig. 4 als einen viergliedrigen Mechanismus, bei dem Ω Λ das feste Glied ist und die um die Achsen Ω, Λ schwingenden Arme Ω O', Λ L' durch das Glied O' L' drehbar verbunden sind, so erhalten wir eine durch den Mittelpunkt D1 des Gliedes O' L' erzeugte Geradführung, welche die Wattsche Geradführung genannt wird [2]. Bei der Wattschen Geradführung und bei der Evansschen Geradführung wird also, wenn die Glieder jene betreffende Länge besitzen, von dem Punkte D1 dieselbe Kurve δ erzeugt. Diese Wattsche Geradführung ist demnach wie die Evanssche Geradführung eine fünfpunktige. In den Lehrbüchern wird noch immer die Konstruktion der dreipunktigen Geradführung gelehrt, die aber bei gleichen Längenverhältnissen der Glieder weniger lieh einer Geraden annähert als die fünfpunktige. Diese beiden Geradführungen werden bei der Indikatorgeradführung angewendet.
Ist in Fig. 5 der betrachteten Geradführung Ω O' der um die feste Achse Ω schwingende Balancier einer Wattschen Dampfmaschine und Λ L' der Gegenlenker, so wird der in der Mitte auf O' L' liegende Punkt D' angenähert geradegeführt. An diesen Punkt D' ist die vertikale Kolbenstange D' s' der Pumpe gehängt. Ziehen wir nun die Gerade Ω D' und fügen wir ein Gelenk B D C an, so daß O' B D C ein Parallelogramm bilden, dessen Ecke D auf der Geraden Ω D' liegt, dann beschreibt auch der Punkt D eine angenäherte Geradführung; denn die vom Punkte D beschriebene Kurve ist ähnlich und bezüglich des Punktes Ω ähnlich gelegen zu der von Punkt D' beschriebenen Kurve. An den Punkt D ist die vertikale Kolbenstange D s des Dampfzylinders angehängt. Jeder der beiden Punkte D', D vollzieht eine fünfpunktige Geradführung [3]. Dieses Parallelogramm O' B D C wird das Wattsche Parallelogramm genannt.
Literatur: [1] Abhandl. d. Kgl. techn. Deputation f. Gewerbe, Berlin 1826, 1. Teil, S. 225. [2] Watt, J., Spezifikation Nr. 1432, 28. April 1784. [3] Ausführlich ist die angenäherte Geradführung behandelt in Burmester, Lehrb. d. Kinematik, Bd. 1, 9. Abschn., Leipzig 1888.
Burmester.
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