Einleitung

»Volkslitteratur der Afrikaner!« wird mancher erstaunt ausrufen, wenn er dies Werkchen in die Hände bekommt. Scheint doch der Begriff Litteratur mit der landläufigen Vorstellung von den geistigen Fähigkeiten des Durchschnittsafrikaners vollständig unvereinbar zu sein, unvereinbar, selbst wenn man den Begriff auf die Volks-litteratur einschränkt. Ein wilder Afrikaner! Ein schwarzes Tier! Er sollte denken! Er sollte fühlen! Seine Phantasie sich als schöpferisch erweisen! Ja, mehr noch, er sollte Sinn und Verständnis haben für poetische Formen, für Rythmus und Reim! Es scheint ganz undenkbar, und doch ist es so.

Als man vor Jahrhunderten zuerst mit dem Neger in Berührung trat, sah man in ihm ein zähes, gegen harte Arbeit und mörderische Klimata widerstandsfähiges Arbeitstier, führte ihn ins Exil, beugte ihn unter ein schmähliches Sklavenjoch und behandelte ihn wie eine Bestie, für die man geneigt war, ihn zu halten. Kein Wunder, daß das Göttliche in ihm allmählich verkümmerte und vom Tierischen immer mehr überwuchert wurde. Was erst eine grausame, eigensüchtige Fiktion der Sklavenhalter[1] gewesen war, die Überzeugung von des Negers Menschenunähnlichkeit, das schien jetzt durch die Thatsachen immer mehr gerechtfertigt zu werden. So entstand das Charakterbild des Negers, wie es noch heute in weiten Kreisen durch jahrhundertelange Überlieferung eingewurzelt ist, ein Charakterbild, das kaum noch einen menschlichen Zug aufweist.

Und selbst in unserm Jahrhundert, als Europa endlich die Eroberung des dunkeln Erdteils für die christliche Kultur mit allen Kräften in Angriff nahm, wurde diese irrige Vorstellung ohne weiteres auch auf die Neger in ihrem Vaterlande übertragen.

Die Enttäuschung war um so schwieriger, als man die Sprachen der Eingeborenen nicht verstand und, von Vorurteilen verblendet, nicht daran dachte, durch Beobachtung des Geistes- und Seelenlebens des Negers der Wahrheit nachzuspüren.

Die jammervollen Zustände der amerikanischen Negersklaven gaben den ersten Anstoß zu einer gerechteren Würdigung der Schwarzen, die allerdings in ihren ersten Anläufen, wie jede derartige Bewegung, fast über das Ziel hinausschoß.


Fleecy locks and black complexion

Cannot forfeit nature's claim:

Skins may differ; but affection

Dwells in white and black the same.


So der Dichter jener Tage! Missionaren, die in langdauerndem, unmittelbarem, durch Kenntnis der Landessprachen verinnigtem Verkehr die beste Gelegenheit hatten, den Neger kennen zu lernen, gebührt das Verdienst, die[2] Überschwänglichkeiten der Sklavenbefreiungsperiode auf das rechte Maß zurückgeführt und zuerst ein zutreffenderes Bild von der natürlichen Begabung der Schwarzen entworfen zu haben. Philologen, mit der genauen Kenntnis der Landessprachen ausgerüstet, dem besten Schlüssel zu Kopf und Herz der Eingeborenen, halfen die erste Skizze zurechtrücken und malten die Einzelheiten weiter aus. Und alle sahen mit Erstaunen, daß der Neger denkt und fühlt, wie wir selbst denken und fühlen.1

Allerdings ist seine Denkfähigkeit im Durchschnitt auf einer verhältnismäßig niedrigen Stufe der Entwicklung stehen geblieben. Der Geist des Negers klammert sich noch mehr an das Besondere, Zufällige der Erscheinungen und übersieht dabei oft das Gemeinsame, Wesentliche. Freilich zeigen sich auch Ansätze zu höherem Geistesflug. Am deutlichsten tritt dies in den Sprachen der Neger zu Tage, deren es viele Hunderte giebt. Werfen wir beispielsweise einen Blick auf das Suaheli, die Sprache der Wasuaheli an der Küste von Deutsch-Ostafrika. Das Suaheli hat kein eigenes Wort, das generisch »Fisch« bedeutet, obwohl für jede Fischart, ja für jede Varietät eine besondere Bezeichnung vorhanden ist. Darin liegt offenbar der geistige Mangel, daß das Wesentliche einer Sache zu Gunsten des Zufälligen übersehen wird. Diese niedrigste Stufe der geistigen Potenz hat der Suaheli allerdings heute bereits überwunden. Er hat gelernt, den Kern einer Sache zu erfassen, wie sich das auch in seinem[3] Sprichwort zeigt: Ivushavyo ni mbovu, der Fährkahn ist morsch, d.h. mag er auch morsch sein, es ist doch ein Kahn, mit dem man über den Strom setzen kann, und das ist das Wesentliche. Die Sprache hat daher längst begonnen zu generalisieren, Bezeichnungen für Gattungsbegriffe zu bilden, indem entweder die häufigste Form der den Inhalt des Begriffs bildenden Varietäten den Namen für die Gattung hergeben muß oder fremde Sprachen, gewöhnlich das Arabische, in Kontribution gesetzt werden. So ist z.B. samaki, der Fisch, aus dem Arabischen importiert, um dem oben berührten Mangel abzuhelfen. Der Suaheli zeigt sich hier also auf dem Wege eines gesunden geistigen Fortschritts, und viele andere sprachliche Erscheinungen stützen diese Ansicht. Durchgängig hat im Suaheli die nähere Bestimmung hinter dem zu Bestimmenden zu stehen. Das Wesentliche wird also zuerst gedacht und ausgesprochen, und der Suaheli hat im logischen Denken einen Vorsprung vor uns, wenn er sagt: mtu mwema (1. Mann 2. guter) statt: 1. guter 2. Mann; mtu huyu (1. Mann 2. dieser) statt: 1. dieser 2. Mann; kisu changu (1. Messer 2. mein) statt: 1. mein 2. Messer. Der Suaheli setzt das Verbum vor das Objekt, andere Afrikaner setzen es dahinter. Er hat ferner ein besonderes Tempus für die Nebenhandlung ausgebildet. Alles das zeigt eine kräftige, natürlich unbewußte Logik. Auch das Maß geistiger Anstrengung, das dem Suaheli die korrekte Handhabung seiner Sprache in grammatischer Beziehung auferlegt, ist nicht unbedeutend und überschreitet zum Teil selbst die Anforderungen, die in dieser Beziehung die bei den Ausländern wegen ihrer[4] Schwierigkeit verrufene deutsche Sprache stellt. Wir teilen unsere Hauptwörter in männliche, weibliche und sächliche, der Suaheli sondert sie nach ihrer Bedeutung in acht Klassen, deren jede ihre besonderen Artikel (Klassenpräfixe), ihre besondere Plural- und zum Teil auch Kasusbildung (Genitiv) hat, und nach denen die Form der bestimmenden Adjektive und der zugehörigen Verben variiert. Jeder Klasse entsprechen ferner besondere Fürwörter. »Mein« kann z.B. je nach der Klasse des Hauptwortes wangu, changu, yangu, langu, kwangu, pangu, mwangu heißen. In einzelnen Negersprachen geht dieser Reichtum noch weiter. So existieren im Herero, der Sprache der viehzuchttreibenden Ovaherero in Deutsch-Südwestafrika nicht weniger als 96 scharf unterschiedene Formen für das besitzanzeigende Fürwort »sein«, deren Handhabung dem Europäer recht bedeutende Schwierigkeiten zu machen pflegen. Eben diese Formenfülle beweist aber auch andrerseits wieder die geistige Neigung des Herero-Mannes, überflüssig viele Besonderheiten in seiner Sprache zum Ausdruck zu bringen, statt sich über das Chaos der Einzelheiten zu erheben und auf das Wesentliche zu beschränken. Und so läßt sich diese Neigung noch auf mancherlei andern Gebieten verfolgen.

Das natürliche Fühlen des Negers beruht auf denselben Regungen der Seele, die auch im Europäer Liebe und Haß erwecken. Der Spinozistische Conatus sui ipsius conservandi, der Selbsterhaltungstrieb, ist der Ausgangspunkt aller Seelenbewegungen. Was diesen fördert, liebt der Afrikaner; er haßt, was denselben hindert. Und in diesem dreifachen Grunde wurzelt[5] die ganze Schar der Affekte, die auch des Europäers Brust durchstürmen. Nur daß sie der Afrikaner nicht in die strenge Zucht genommen hat, die die christliche Erziehung dem Europäer auferlegt. Kaum daß bei den heidnischen Völkerstämmen gewisse durch die Gewohnheit geheiligte Rechtsnormen die natürlichen Instinkte bändigen. Bei den Mohammedanern kommt der geringe sittliche Halt hinzu, den sie etwa aus den halbverstandenen und ihrer Eigenart angepaßten Lehren des Islams gewonnen haben. Ihre eigenen religiösen Vorstellungen sind verworren, kleben am Sinnlichen und leisten für die Sittlichung ihrer Anhänger so gut wie nichts.2

So sind die Neger von der Natur zwar mit denselben Anlagen ausgerüstet wie wir, aber sie sind in der Entwicklung derselben zurückgeblieben. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:3

1. Soweit unsere Kenntnis reicht, hat keine Rasse oder Nation jemals eine bedeutende Civilisation aus sich selbst heraus entwickelt, sondern hat den Anstoß dazu durch das Eindringen fremder Elemente empfangen. Nun ist Afrika seit den ältesten Zeiten niemals in direkter und dauernder Verbindung mit einer belebenden Civilisation gewesen. Das liegt zum großen Teil an der Abgeschlossenheit des ungegliederten Kontinents. Die Sahara hinderte die Berührung mit der Mittelmeer-Kultur. Durch Jahrhunderte hindurch ist zwar die[6] Westküste von Angehörigen christlicher Nationen besucht worden, die aber nicht Kulturträger, sondern Sklavenhändler waren. Sonderbar ist allerdings, daß die Kultur der alten Ägypter und der Punas nicht größere Spuren hinterlassen hat. Wo islamitische Völker ihren Einfluß geltend gemacht haben, wie z.B. an der Ostküste Centralafrikas, da ist ein gewisser Fortschritt nicht zu verkennen.

2. Die Üppigkeit der afrikanischen Natur versieht den Neger ohne besondere Anstrengung seinerseits mit des Lebens Nahrung und Notdurft. Der Anreiz zur Thätigkeit und zur Anspannung der Geisteskräfte ist daher sehr gering.

3. Das Bestehen der Sklaverei bildet ein drittes großes Hindernis der Entwicklung. Alle Arbeit ist Sache der Sklaven und eines freien Mannes daher unwürdig.

4. Die große Masse der afrikanischen Völker hat weder eigene Schriftzeichen erfunden, noch ein fremdes Alphabet adoptiert. Hieraus folgt der Mangel einer geschriebenen Litteratur, die bei anderen Völkern ein so mächtiger Faktor für die Entwicklung der Civilisation gewesen ist. Daß eine eigene Schrift sich nicht entwickeln konnte, liegt sicherlich an dem allgemein verbreiteten Unwesen der Zauberei.

5. Der Einfluß der Fetischmänner, Medizinmänner, oder wie sie sonst heißen, steht endlich jedem Fortschritt im Wege. Jede Offenbarung von Genie, jede Erfindung wird dem Einfluß von Geistern zugeschrieben. Das blöde Volk wird gegen den Armen, der mehr wissen[7] will als andere, aufgehetzt, und mit dem Leben bezahlt er seine Kühnheit.

6. Das Bestehen der Polygamie und des Frauenkaufs in ganz Afrika untergräbt die Sittlichkeit und schwächt den Zusammenhang der Familie.

Hieraus geht gleichzeitig hervor, wo die Hebel anzusetzen sind, um die Afrikaner auf den Weg der Entwicklung zurückzubringen, den nicht mangelnde geistige Anlagen, sondern die natürlichen Verhältnisse des afrikanischen Kontinents und einige unglückliche soziale Institutionen ihnen verlegt haben.

Nach allem Gesagten wird es weniger auffällig erscheinen, wenn von der Volkslitteratur der Afrikaner die Rede ist und hinzugefügt wird, daß ihre Erzeugnisse sich denen anderer Völker dreist an die Seite stellen lassen. Die Litteraturgattungen, die der Afrikaner besonders ausgebildet hat, sind das Märchen (mit Riesen, Zwergen, Geistern, Hexen, allerhand Zaubereien wie bei uns), die Fabel (meist Tierfabel), die Erzählung oder besser Anekdote (meist mit didaktischer Tendenz), die religiöse Tradition (über den Ursprung der Welt, die Erschaffung des Menschen, Entstehung des Todes etc.), historische Erzählungen (aus der Stammesgeschichte), Rätsel und Sprichwörter.4 Hierzu kommen noch Poesien jeglicher Gattung, Liebeslieder, Spottlieder, Kriegslieder, Epen, Trauergesänge, religiöse Lieder, Lehrgedichte u.s.w. Alle Poesie wird stets mit Gesang begleitet,[8] und bei den unten folgenden Proben sind an einigen Stellen die Musiknoten hinzugefügt. Das Metrum ist accentuierend. Die größeren Gedichte sind meist in Strophen geteilt. Gereimt sind fast alle und oft sehr kunstreich, wie aus dem bei einigen Gedichten der folgenden Sammlung angegebenen Originaltext ersichtlich ist. Die Sprache in den poetischen Stücken ist oft archaisch, häufig sehr gedrängt und dunkel und der Kürze wegen schwer in gebundener Form in andere Sprachen zu übertragen. Ich habe daher mehrere Gedichte in prosaischer Übertragung geben müssen und muß einem in rebus poeticis erfahreneren Nachfolger die poetische Umformung überlassen.

Die einzelnen Stücke der Sammlung sprechen, was den Inhalt anlangt, im allgemeinen für sich selbst. Wo es nötig schien, habe ich eine nähere Erklärung in Fußnoten gegeben. Hinsichtlich der Tierfabeln mag indessen hier allgemein bemerkt werden,5 daß der Elefant im allgemeinen der Typus der Stärke und Weisheit ist. Der Löwe repräsentiert zwar auch die Stärke, aber meist den Adel der Gesinnung, wie in unsern Fabeln. Die Hyäne vereinigt brutale Gewalt mit Dummheit, der Leopard Macht mit Beschränktheit. Der Fuchs oder Schakal ist das Urbild der Schlauheit, der Affe das der Verschmitztheit und Gewandtheit. Der Hase oder das Kaninchen gilt als klug und behend und vertritt meist die Stelle des Fuchses in unsern Fabeln. Der Hund personifiziert alles Niedrige, Knechtische und Verächtliche; die Turteltaube[9] ist das Sinnbild der Reinheit, Keuschheit und Weisheit u.s.w.

Größere Sammlungen von Litteraturstücken einzelner Völkerschaften sind im Laufe der letzten Jahrzehnte bereits mehrfach veröffentlicht worden, aber da sie meist linguistischen Zwecken zu dienen hatten, für ein größeres Publikum so gut wie unzugänglich, zumal da sie zum Teil ohne Übersetzung sind. Als die bedeutendsten seien hier genannt die Sammlung von Heli Chatelain über die Ambundu, Büttner, Taylor, Steere über die Suaheli, Schön über die Haussa, Schlencker über die Temne, Christaller über die Tshwi, Callaway über die Sulu, McAll Theal über die Kaffern, Koelle über die Bornu, Bleek über die Hottentotten etc. Kleinere Mitteilungen finden sich noch hier und da in Wörterbüchern, Grammatiken und Zeitschriften versteckt. Im ganzen ist es noch sehr wenig, was gesammelt worden ist; viel unveröffentlichtes Material habe ich selbst noch in der Hand. Aus all diesem habe ich das Charakteristischste und Interessanteste ausgewählt und in diesem Werkchen vereinigt.

Vergleicht man alles, was von der afrikanischen Volkslitteratur bisher bekannt geworden ist, untereinander und mit den Erzeugnissen der Volkslitteratur anderer Völker, so gelangt man zu folgenden Schlüssen, die ich nicht besser formulieren kann, als Heli Chatelain in seinem vorzüglichen Werke: Folk-Tales of Angola, es gethan hat:

1. Viele Mythen, beliebte Typen oder Charaktere und besondere Vorfälle, die man universal genannt hat, weil sie unter so vielen Völkern vorkommen, finden sich auch in Afrika vom atlantischen bis zum indischen Ocean.[10] Die afrikanische Volkslitteratur ist nicht ein Baum für sich, sondern ein Zweig eines Weltbaumes.

2. Die afrikanische Volkslitteratur ist besonders reich an Tierfabeln.

3. Für sich betrachtet, erscheint die Litteratur der Bantu-Völker (siehe unten) auffallend homogen und eng zusammenhängend, die entferntesten Stämme zeigen oft mehr Übereinstimmung oder Ähnlichkeit in Einzelheiten als benachbarte.

4. Nach Ausmerzung der mit dem Islam verknüpften Elemente erscheint auch die Volkslitteratur der Sudanneger als wesentlich der der Bantu gleichartig.

5. Die mythologischen und abergläubischen Vorstellungen der verschiedenen Stämme lassen sich leicht auf einen gemeinsamen Urtypus zurückführen, der den entsprechenden Vorstellungen der Arier und anderer größerer Völkerfamilien sehr nahe zu stehen scheint.

Aus diesen wenigen Sätzen geht schon hervor, wie wichtig das Studium der afrikanischen Volkslitteratur für die Aufhellung des ursprünglichen Verhältnisses der verschiedenen großen Völkerrassen zu einander zu werden vermag. Ich kann das hier nicht weiter ausführen.

Dagegen wird es nötig sein, noch einen Blick auf die Gruppierung der verschiedenen afrikanischen Völkerschaften zu werfen, von denen im folgenden die Rede sein soll, sowie auf die verschiedenen Sprachen, in welche die afrikanische Volkslitteratur gefaßt ist.

Die Bevölkerung des afrikanischen Kontinents ist durchaus nicht durchweg gleichförmig weder im körperlichen Habitus, noch in den sprachlichen Verhältnissen.[11] Ich sehe dabei von vornherein von den in historischer Zeit eingewanderten Semiten ab, hauptsächlich Arabern, die ganz Nordafrika überzogen und den Islam und die arabische Sprache als Spuren ihres Eindringens zurückließen. Auch in anderen Teilen Afrikas haben die Araber großen Einfluß ausgeübt, an der deutschen Ostküste beispielsweise eine Mischrasse, die Suaheli, hervorgerufen und den Handel durch ganz Centralafrika lange Zeit hindurch monopolisiert. Selbst in so weit im Innern und nach Westen gelegenen Sprachen wie dem Haussa und dem Kanuri (Sprache der Bornu-Neger) findet man zahlreiche arabische Fremdwörter eingebürgert.

Andere semitische Völkerschaften, die schon vor den Arabern eingewandert zu sein scheinen, wohnen in Abessynien, wo heute mehrere semitische Sprachen gesprochen werden. Das alte Gées, das früher in Abessynien gesprochen wurde, gehört heute zu den toten Sprachen; die heutigen abessynischen Sprachen, wie das Tigre, das Amharische, das Harari u.s.w. sind Töchtersprachen des Gées.

Den semitischen Völkerschaften scheinen die sogenannten hamitischen Völker Afrikas verwandt zu sein. Manche Zeichen deuten darauf hin, daß diese Völkerschaften gleichfalls aus Asien, lange vor den Semiten eingewandert sind. Die jüngsten Einwanderer scheinen die alten Ägypter gewesen zu sein. Die hamitischen Völker haben den ganzen Nordosten Afrikas in Beschlag genommen, doch sind einige Stämme auch in westlichere Gegenden vorgedrungen, wie die bekannten Tuārek. Nach ihrem körperlichen Habitus bieten sie im Durchschnitt das folgende[12] Bild dar: lichtbraune Haut, schmale Gesichter, schmale, lange Nasen, längliche Kopfbildung, geringer Prognathismus und leicht gewelltes schlichtes Kopfhaar. Ihre Sprachen gehören unter sich eng zusammen und zeigen mehr Berührungspunkte mit den Semiten als mit andern afrikanischen Völkerschaften. Manche Hamiten haben indessen heute andere, nichthamitische Sprachen angenommen. Es ist nämlich durchaus nicht anzunehmen, daß sich somatische und sprachliche Zugehörigkeit stets und unter allen Umständen decken müßten. Wenn dies auch meist der Fall ist, so gehören doch Ausnahmen nicht zu den Seltenheiten. Eine solche Ausnahme sind z.B. die Massai, die in den nördlichen Teilen unseres deutsch-ostafrikanischen Schutzgebietes wohnen und ihren körperlichen Eigenschaften nach ganz entschieden zu den Hamiten gezählt werden müssen, während sie eine Sprache haben, die vielmehr gewissen Mischnegersprachen (s.u.) verwandt zu sein scheint. Weder die Ethnographie noch die Linguistik haben bisher vermocht, die verwandtschaftlichen Beziehungen der verschiedenen afrikanischen Völkerschaften auf ihren Gebieten in jedem einzelnen Falle festzustellen. Beide Wissenschaften haben kaum erst gewisse große Grundlinien festgelegt. Da es sich in diesem Buche um litterarische, d.h. in Sprache gefaßte Erzeugnisse des Menschengeistes handelt, so will ich bei der folgenden Übersicht auch die bisher gewonnene sprachliche Einteilung zu Grunde legen.

Danach gehören zu den hamitischen Völkern

I. Die Ägypter. Die altägyptische Sprache ist ausgestorben.[13]

II. Die Libyer. Hierher gehören einige Völkerschaften:

a) in der Oase Siwa (einst des Jupiter Ammon) und der Oase Djalo (Audjila); an einigen Stellen in Tripoli und Tunis.

b) in Algier, von Nachkommen der alten Numidier, gewöhnlich Berber (Fremdsprachige), auch Mauren genannt. Von ihren zwei Millionen sprechen etwa 3/4 Millionen Kabāil (dieser Name ist übrigens nur die Mehrheitsform des arabischen Kabīleh, d.h. Stamm, die Franzosen aber brauchen Kabyle als Volksbezeichnung) die übrigen 5/4 Millionen sprechen daneben oder ausschließlich arabisch, wie außer ihnen 1/2 Millionen Einwohner arabischer Abkunft. Von Kabail werden acht Mundarten genannt, darunter Suāwe, zwischen Algier und Constantine am Meer. Reste vom Lateinischen und Vandalischen finden sich in Mundarten der Bergbewohner, auch Spuren ihres einstigen Christenglaubens.

c) In Marokko, dem alten Mauretania, woher der Name »Maure« und »Mohr« eigentlich stammt, wird Schilha gesprochen am Mittelmeer (z.B. von den Rif-Piraten oder seeräuberischen Uferbewohnern, Rif = ripa, Ufer), ferner im Inlande und in dem Küstenstreifen von Mogador bis zum Wendekreis.

d) In einem südlichen Streifen inland vom Wendekreis bis zum mittleren Senegal, auch dem unteren Senegal entlang bis zum Meer wird das Senaga (Zénaga) gesprochen.

e) In dem weiten Wüstengebiete im S. von Algier und Tunis bis über den mittleren Niger und in die[14] Nähe des Tsadsees wird gesprochen das Tamāshek der Imōshagh (Einzahl: Amashigh), denen die Araber den Namen Tuārek geben. Besondere Mundarten sind die von Ghadames und Ghat, den westlichsten Punkten von Tripoli und Fesān.6

III. Die Kuschiten. Diese Völker zerfallen nach ihren Sprachen in zwei große Gruppen.

A. Völker mit niederkuschitischen Sprachen und zwar

a) die Bedja oder Bischari (Mohammedaner), zwischen dem Nil und dem roten Meer von Keneh und Kosseir an bis etwa zum 15.° nördl. Breite. (Dialekte: Ababde, Hadendoa, Beni Amir, Hallenga.)

b) die Saho und Afar (Danākil) zwischen dem abessynischen Gebirgslande und dem roten Meere.

c) die Sómal (Einzahl: Somaāli) und die Galla (auch Oroma), die ersten am Golf von Aden und von da an der afrikanischen Küste nach Süden bis zum Äquator, die letzteren westlich davon im Hinterlande lebend. Die Somal sind Mohammedaner, die Galla meist Heiden.

B. Völker mit hochkuschitischen Sprachen.

a) die Kunáma und Baréa (Heiden), die Bilin oder Bogos (Mohammedaner) im W. und N. der abessynischen Provinz Tigre.

b) die Agau und Fálascha (teils Heiden, teils Juden und Christen) zwischen Tigre und Amhara und im W. von Amhara.

[15] c) die Kasa u.a. im S. von Abessynien.

Ob die Hottentotten und die Buschmänner (in Südwestafrika) gleichfalls zu den Hamiten zu rechnen sind, steht nicht fest; trotz mancher verwandten Züge, zeigen sie doch auch sehr viel Divergierendes, den andern Afrikanern stehen sie allerdings noch ferner; ich führe sie daher auch hier mit auf.

Im Gegensatz zur hamitischen Gruppe stehen die eigentlichen Neger, die sogenannten Bantu-Völker, welche den ganzen Kontinent südlich vom Äquator einnehmen. Auch sie werden durch gemeinsame, von den Hamiten abweichende Körperbildung und nahverwandte Sprachen zusammengeschlossen.

Die Bantuneger zerfallen in viele Hunderte verschiedener Stämme, deren Sprachen untereinander bei aller Verwandtschaft größere Unterschiede zeigen, als beispielsweise Deutsch und Englisch. Die genealogischen Verhältnisse dieser Stämme zu einander sind noch so wenig aufgeklärt, daß für ihre Einteilung geographische Gesichtspunkte in Betracht kommen müssen. Nur einige Hauptstämme können hier aufgeführt werden, wobei besonders diejenigen berücksichtigt sind, von deren Litteratur unten Proben mitgeteilt werden:


I. Westliche Bantu-Völker.

a) die Herero in Deutsch-Südwestafrika.

b) die Mbundu in Angola.

c) die Dualla in Deutsch-Kamerun.

II. Östliche Bantu-Völker:

a) die Pokomo am unteren Tana in Britisch-Ostafrika.

[16] b) die Schambāla und Bondeï in der Nordostecke des deutsch-ostafrikanischen Schutzgebietes.

c) die Ganda nördlich vom Viktoriasee in Uganda.

d) die Suaheli an der deutsch-ostafrikanischen Küste.

e) die Nyamwezi in Unyamwezi, einer großen Landschaft südlich vom Viktoriasee.

f) die Nyassa-Leute am Nyassasee.

g) die Kāfir (Kaffern) mit den beiden Unterstämmen der Xosa und der Sulu.

h) die Tschuana mit den Unterstämmen der Soto und der Rolong.


Zwischen den Hamiten und der nordafrikanischen Wüste im Norden und den Bantu-Völkern im Süden sitzt eine dritte große Völkerfamilie mit vielen Hunderten verschiedener Völker und Sprachen, über deren ethnologische und linguistische Zugehörigkeit das abschließende Wort noch nicht gesprochen ist. Vielleicht sind sie ein Produkt jahrhundertelanger gegenseitiger Beeinflussungen der beiden vorerwähnten großen Völker-Familien. Darauf deuten sowohl ethnographische wie linguistische Momente hin. Ich will sie daher Mischneger nennen. In ihrem körperlichen Habitus zeigen diese Völker trotz vielfacher Abweichungen bei einzelnen Individuen und Annäherungen an den hamitischen Typ viel Verwandtes mit den Bantu-Negern, so daß man beide Gruppen unter folgendem typischen Bilde zusammenfassen kann: Lange Kopfform, vorstehender Unterkiefer, weit auseinanderstehende Augenhöhlen, daher geringe Entwicklung oder Flachlegung des Nasenbeines, breite, stumpfe Nase, wulstige Lippen, kurzwolliges, krauses Kopfhaar, geringer Bartwuchs, magere[17] Extremitäten, dunkle Hautfarbe, vom glänzenden Schwarz nüancierend durch alle Schattierungen von Grau und Braun etc.

Die verwandtschaftlichen Verhältnisse zwischen den einzelnen hierher gehörigen Stämmen sind noch sehr wenig erforscht. Ich ordne die wenigen Stämme, die ich hier aus ihrer großen Menge aufführen kann, lediglich nach ihrer geographischen Situation:


I. Westliche Mischneger-Völker:

a) Efik, Ibo, Yoruba (westlich vom unteren Niger), Nupe (am mittleren Niger).

b) Ephe, Gã7 (Akra), Tschwi, Adeli (an der Gold- und Sklavenküste).

c) Temne, Bullom bei Sierra Leone.

d) Kru, Mande (Bei) an der Liberia-Küste.

e) Wolof am Senegal.

II. Mittlere Mischneger-Völker.

a) Pūl (Fula, Fulbe).

b) Sonrai, Tedā (Tubu, Tibbo im N. und NO. vom Tsadsee), Logonē, Wandalā am mittleren Niger.

c) Kanuri in Bornu am Tsadsee.

d) Bagrima in Bagirmi am Tsadsee.

e) Maba in Wadāi.

f) Kondschāra in Dār-Fūr.

g) Umāle (Tumāle).

h) Haussa.[18]

III. Östliche Mischneger-Völker.

a) Dinka, Schilluk, Bongu, Bari am oberen weißen Nil.

b) Oigob (Massai), Kwafi westlich und südwestlich vom Kilimandscharo.

c) Nubier.


Außer diesen größeren Völkergruppen finden sich noch kleinere Splitter von Zwergvölkern hier und da eingesprengt, welche Überreste verdrängter Ureinwohner zu sein scheinen. Hierher gehören die Akka oder Tiketike westlich vom Albertsee, die Abongo oder Akoa südlich vom Ogowe, die Bakebake an der Loangoküste, die Batwa südwestlich von den Stanleyfällen des Kongo und am Albert-Edwardsee und die Voko im südlichen Abessynien. Sie handhaben meist die Sprache ihrer Nachbarn neben der ihrigen, von der bisher nur wenig bekannt geworden ist.

1

Vergl. meinen Aufsatz: Zur Charakteristik des ostafrikanischen Negers in Meineckes »Kolonialem Jahrbuch« 1892.

2

Vergl. Schneider: Die Religion der Naturvölker.

3

Vergl. H. Chatelain: Some causes of the Retardation of African Progress. Journ. of Americ. Folklore. 1895.

4

Wie zahlreich diese letztere Gattung entwickelt ist, geht beispielsweise daraus hervor, daß J.G. Christaller unter den Tshwi-Negern deren 8000 sammelte.

5

Vergl. H. Chatelain, Folktales of Angola p. 22.

6

Vergl. Christaller, Mitteilungen der Geogr. Ges. zu Jena. XIII. Bd.

7

sprich: Gan mit nasalem n.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Geschichten und Lieder der Afrikaner. Berlin: Verein der Bücherfreunde, Schall & Grund, 1896, S. 1-19.
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