[63] 19. Wie der Ziegenmelker entstand

Es war einmal ein Mann, der ging aus, um Landkrabben zu fangen. Er wartete auf Regen, denn nur wenn es regnet, kommen die Krabben aus ihren Löchern in den Sümpfen hervorgekrochen.

Als nun der Regen fiel, wurde sein Haar naß. Darum stülpte der Mann seine Kalabasse wie eine Mütze auf den Kopf, so daß nur wenig von seinem Haar ringsherum darunter hervorsah.

Da begegnete ihm ein Waldgeist, der rief aus: »Was für[63] einen schönen, glatten Kopf hast du! Was hast du getan, um so zu werden?« Der Mann sagte ihm, daß er ein Messer genommen habe und damit rund um seinen Kopf gefahren sei. Wenn er wünsche, würde er ihm gern dasselbe tun. Der Waldgeist war entzückt und ließ sich die Kopfhaut rund um den Kopf schneiden und den blutigen Schädel mit Pfeffer einreiben zum schnelleren Heilen. Hierbei stöhnte er vor Schmerzen, und der Jäger machte sich leise davon.

Viele Jahre später ging derselbe Mann in den Wald und kam in die Nähe des Ortes, wo sich diese Geschichte zugetragen hatte, und dort traf er denselben Waldgeist. Er erkannte ihn an dem Pfefferstrauch, der auf seinem Kopf als dichter Busch wuchs. Auch der Waldgeist erkannte ihn und rief ihm zu: »Du bist der Mann, der mir meinen Kopf häutete. Ich werde dich töten!« Aber der Mann antwortete: »Nein, du irrst dich. Derjenige, der das wirklich getan hat, ist lange tot. Komm mit mir, ich will dir seine Knochen zeigen!«

Er führte ihn zu einem Platz, wo ein Haufen Rehknochen lag. Diese nahm der Waldgeist auf und warf einen nach dem anderen in seine Tanzrassel. Dann sagte er zu dem Mann: »Laß uns tanzen und mit den Knochen rasseln!« Darauf begannen beide zu tanzen, und während sie tanzten, sangen sie. Der Gesang des Waldgeistes lautete: »Bassana! Bassana! Du warst es, der meinen Kopf häutete. Du warst es, der mich strafte. Wie gefällt es dir, deine eigenen Knochen rasseln zu hören? Wie gefällt dir diese Musik?«

Nach einer Weile sagte der Mann: »Dies ist kein guter Platz zum Tanzen. Komm dort hinüber! Dort sehe ich einen schönen, flachen Stein. Dort wird es besser gehen.«

Also wechselten sie ihren Standort, und der Waldgeist fing wieder an zu tanzen auf dem flachen Stein. »Beuge deinen Kopf tiefer,« sagte der Mann. »Du tanzst nicht richtig.« Da beugte der Waldgeist seinen Kopf tiefer. Aber sein Gefährte sagte: »Das ist noch nicht tief genug!« So versuchte er es noch einmal, und als er seinen Kopf ganz tief auf[64] den Stein herabgebeugt hatte, auf dem er tanzte, stieß ihn der Mann plötzlich mit aller Kraft darauf nieder. Das Gehirn des Waldgeistes spritzte heraus und aus jedem Stück wuchs ein Ziegenmelker. Daher fürchten, wir Indianer diese Vögel. Sie kommen von den Waldgeistern und warnen uns vor Unglück; sie zeigen uns irgendein Unheil an.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 63-65.
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