[2] 2. Korobona

[2] Im Lande der Warrau gab es einen klaren, ruhigen See, in dessen Wasser man nicht baden durfte. Eines Tages kamen zwei junge Warraumädchen singend von den Hügeln herunter und wagten sich in die Nähe des verbotenen Wassers, obgleich ihre Brüder ihnen gesagt hatten: »Nehmt euch in acht, der See ist gefährlich, badet dort nicht!«

Die ältere der beiden Schwestern, die schöne Korobona, sagte: »Warum sollen wir uns durch eine leere Drohung von diesem klaren Wasser zurückhalten lassen? Komm, meine Schwester, bade mit mir. Was soll uns geschehen? Wir Mädchen sind allein. Die Männer, alte wie junge, gehorchen abergläubisch dem Verbot. Es wird uns keiner stören.«

Schnell sprangen sie hinein und begannen in dem reinen, klaren Wasser fröhlich zu tauchen und zu schwimmen. Die ältere schwamm furchtlos voran, die andere folgte ihr.

Plötzlich sah Korobona einen Holzpfahl aus dem Wasser ragen. Übermütig schüttelte sie ihn. Da erhob sich eine Männergestalt, ergriff Korobona und hielt sie mit starkem Arm.

Es war ein Wassergeist, der dort unten verzaubert gelegen hatte, bis jemand, der in den See hinausschwamm, es wagen würde, an dem Holzpfahl zu rütteln. »Warraumädchen,« sagte er, »deine Schwester mag gehen! Aber dich halte ich, du schönes Weib. Du mußt mit mir hinunter in mein Heim!«

Die arme Korobona weinte zu Hause an ihrer Schwester Brust. Ihr einziger Trost war, daß ihre vier Brüder nicht wußten, warum sie so betrübt war.

Die Zeit verging. Sie wurde Mutter. Und ihre Brüder schwuren, das Kind zu töten.

»Tötet nicht meine Tochter!« schrie Korobona. »Erschlagt mich, weil ich leichtsinnig war! Meine Tochter wird ein[3] sanftes Mädchen werden und wird euch liebreich dienen. Verschont das hilflose Kind!«

Die Brüder wurden gerührt durch ihre Bitte und überließen das Kind ihrer Sorgfalt, denn sie liebten sie, wenn sie ihnen auch Kummer gemacht hatte.

Inzwischen suchte der Wassergeist seinen Zeitvertreib am Ufer des Sees. Als riesige Schlange sah man ihn von Baum zu Baum gleiten. Oder er stand in menschlicher Gestalt unter den grünen Zweigen, dort, wo sanftes Wellengeriesel den Sand kräuselte. Manchmal war er oben ein Mann und unten eine Schlange. Und die Leute sagten: »Wessen Hand kann dieses schrecklichen Unholds Macht widerstehen? Wer kann seine Natur erkennen?«

Korobona hörte die Erzählungen von ihm, der ihren Sinn erfüllte. Sie hörte nicht auf die Bitten ihrer Schwester. Sie stahl sich zum See, entschlossen, die Wahrheit herauszufinden.

Lange wartete sie unter den Bäumen voll Furcht und seltsamer Hoffnung, während er, der ihre Gegenwart erspähte, sich ihren Blicken in Schlangengestalt entzog und sich ihr dennoch nahte. Sein Kopf sah aus wie ein schwimmender Samen, den der Wind auf das Wasser geblasen hat. Der Schwanz glich häutigem Schaum. Nichts anderes war von ihm zu sehen.

Korobona beugte sich herab, diesen schwimmenden Samen zu betrachten. Da schrie er triumphierend: »Du gehörst mir! Ergib dich in dein Schicksal!« und ergriff sie aufs neue.

Die unglückliche Korobona lebte nun einsam im Walde und verbarg dort ihr zweites Kind. Sie wußte, es mußte Blut fließen, wenn ihre Brüder ihre Schuld erfahren würden. Sie weinte viel, denn sie sah Unheil voraus, und ihr größter Kummer war der schöne Knabe, der zum Teil seines Vaters Gestalt hatte. Am Tage seiner Geburt versuchte sie zuerst zu fliehen. Aber sie kehrte bald wieder zurück zu der versteckten Lichtung, wo das hilflose Kind lag, das sie durch sein schwaches Schreien zurückrief. Ihre Schwester, die treu mit ihr weinte, bewahrte ihr Geheimnis.[4]

Eines Tages hörte jemand, der vorüberging, das Kind schreien und entdeckte sie. Er sagte es ihren Brüdern, die in der Nähe jagten. Bald sah sie die vier erscheinen, wild vor Scham und Rache.

Zwei von ihnen zerrten ihre Schwester nach Hause, zwei wandten sich, um das Kind zu erschlagen, das hilflos vor ihnen lag. Sie durchschossen es mit einem Pfeil und ließen es liegen, wo es lag.

»Das Kind ist tot,« sagten sie, »kümmert euch nicht um die wahnsinnige Mutter!« Sie ließen sie gehen, sein Grab zu bereiten. Sie ahnten nicht, daß die Sorgfalt, die sie anwandte, den unglücklichen Knaben wieder zum Leben erweckte.

Er wuchs geistig und körperlich viel schneller als andere Kinder. In einem hohlen Baum verbarg er sich vor allen Blicken, bis er die Gestalt seiner Mutter kommen sah. Sie ging täglich in den Wald und brachte ihm Nahrung und plauderte mit ihrem Kind und vergaß darüber ihre Sorgen.

Aber sie bedachte nicht, daß ihre Fußspuren ihren Weg verraten könnten. So erfuhren die Brüder ihr Geheimnis und machten Pfeile und Bogen bereit.

»Wozu macht ihr diese Pfeile?« fragte sie. »Was wollt ihr mit diesen Waffen?« Die Brüder gaben ihr kurze Antwort. Da floh sie in den Wald, und die Brüder eilten, sie zu verfolgen.

»Verberge mich, Mutter, vor ihren Augen!« schrie das unglückliche Opfer. »Warum gabst du mir das Leben? Ich habe keinen Platz auf Erden und soll nun bald sterben!«

Die Mutter klammerte sich an ihren Sohn und schirmte ihn mit ihrem Leib vor seinen Feinden. Sie hatten nur wenig Platz zum Zielen, aber von den unfehlbaren Bogen traf jeder Pfeil. Sie schnitten ihn in kleine Stücke. Korobona verfluchte ihre Grausamkeit: »Ihr gemeinen Mörder dieses unschuldigen Kindes! Das Unglück, das ihr fürchtet, wird jetzt über euch kommen, aber durch euch, nicht durch mich! Seht hier Korobona liegen! Dieser Fleck soll ihr Grab werden,[5] dieser Fleck, der bedeckt ist von dem armen Blut! Denkt daran, wenn Unglück über euch kommt und die Warrau ihrem Schicksal verfallen!«

Korobona blieb im Walde zurück und bewachte ihren Toten. Sie häufte breite grüne Blätter und rote Blüten über den zerstückelten Leichnam. Und lieblich und duftend blieb der blutgetränkte Erdenfleck. Aasgeier und wilde Tiere blieben ihm fern. Das Schlangenkind verweste nicht.

Nach einiger Zeit begann der mit Blumen bedeckte Hügel sich zu heben. Sie vernahm die Worte: »Dein Sohn wird jetzt den Mord rächen, der an ihm geschehen ist. Meine Mutter, höre auf zu klagen!«

Erst erhoben sich ein Haupt und Schultern, langsam aus dem Hügel hervorwachsend, dann sah sie die ganze mächtige Gestalt erscheinen mit vollständigen und gesunden Gliedern, wohl bewaffnet, um alle Feinde mit Schrecken zu erfüllen. Mit schwerer Keule stand der Krieger da, mit Bogen und Pfeilen. Weiße Daunenfedern schmückten sein kurzes, schwarzes Haar. Seine Haut leuchtete wie Kupfer, heller als die der Warrau. Seine Wangen und Brauen waren rot bemalt wie mit Blut. So erhob sich finster der erste Karaibe, ein starker Krieger, seine Feinde zu schlagen, ein Schrecken für jeden Warrau. Die vier Brüder erbleichten, als sie ihn sahen, und riefen ihre Krieger zusammen. Aber wenige wagten, es mit seiner Keule aufzunehmen, und die es wagten, erschlug er. Die übrigen flohen. Kein Warrau konnte ihm widerstehen; ihre Pfeile trafen ihn nicht. Die Krieger flohen, um ihr Leben zu retten. Ihre Weiber nahm er zu Frauen, und all ihr Gut wurde seine Beute.

Seine Kinder vermehrten sich und nahmen den Platz der Warrau ein.

Sie sind unbesiegbar, da sie übernatürlichen Ursprungs sind, obgleich sie durch ihre Mutter zu dem von ihnen verachteten Stamme der Warrau gehören.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 2-6.
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