[164] 58. Schildkröte und Jaguar

Die Schildkröte schrie: »Meine Verwandten, meine Verwandten! Kommt herbei!«

Der Jaguar hörte sie, eilte herbei und fragte: »Warum schreist du so, Schildkröte?«

Die Schildkröte antwortete: »Ich rufe meine Verwandten, damit sie mit mir meine große Jagdbeute, einen Tapir, verzehren!«

»Einen Tapir!« sagte der Jaguar. »Willst du, daß ich ihn dir zerlege?«

»Ich will es wohl,« sagte die Schildkröte. »Schneide ihn in zwei Hälften, eine für dich und eine für mich!«

»Dann geh und suche Brennholz!«

Die Schildkröte entfernte sich; da ergriff der Jaguar ihr Wildbret und machte sich davon.

Als die Schildkröte zurückkam, fand sie nur noch die Exkremente. Sie schalt auf den Jaguar und sagte: »Warte nur! Ich werde dir eines Tages schon begegnen!«

Die kleine Schildkröte ging und ging und ging. Nach zwei Tagen traf sie einen Affen, der auf eine Inaja-Palme geklettert war, um Früchte zu essen. Sie sagte zu ihm: »Affe, wirf mir einige Früchte herunter!«

Der Affe antwortete: »Steige herauf! Bist du kein Mann?«

Die Schildkröte antwortete: »Ich bin gewiß ein Mann, aber ich will nicht hinaufsteigen, weil ich ermüdet bin.«

»Alles, was ich für dich tun kann, das ist, daß ich dich hierher hole,« sagte der Affe.[164]

»So komm und hole mich!« antwortete die Schildkröte.

Der Affe stieg herab, trug die Schildkröte auf den Baum und verließ sie. Die Schildkröte blieb dort zwei Tage, da sie nicht wußte, wie sie wieder herunterkommen sollte.

Da kam ein Jaguar an den Platz, sah die arme Schildkröte auf dem Baume sitzen und sprach zu ihr: »Oh! Schildkröte, wie bist du denn da hinaufgeklettert?«

»An diesem Baumstamm,« erwiderte die Schildkröte.

Der Jaguar, welcher Hunger hatte, forderte sie auf herabzusteigen.


58. Schildkröte und Jaguar

Die Schildkröte antwortete: »Ich werde nicht herabsteigen, bevor ich alle diese Früchte verzehrt habe. Wenn du davon haben willst, schließe die Augen! Ich will dir ein paar hinunterwerfen.« Der Jaguar schloß die Augen. Da sprang ihm die Schildkröte auf den Kopf und tötete ihn.

Sie wartete, bis er verwest war, zog einen Knochen heraus und machte sich eine Flöte davon. Dann ging sie weg, auf der Flöte blasend und singend: »Der Knochen des Jaguars ist meine Flöte, fri-fri-fri!«

Dies hörte ein anderer Jaguar. Er kam herbei und fragte die Schildkröte: »Was spielst du da auf deiner Flöte?«

Die Schildkröte antwortete: »Ich sang: ›Der Knochen des Hirsches ist meine Flöte, i-i!‹«

Der Jaguar erwiderte: »Das war es durchaus nicht, was ich dich flöten hörte.«

»Ziehe dich ein wenig zurück,« sagte die Schildkröte, »und du wirst es besser hören!«

Die Schildkröte suchte ein Loch, stellte sich an den Eingang und spielte auf ihrer Flöte: »Der Knochen des Jaguars ist meine Flöte, i-i!«

Als der Jaguar sie so spielen hörte, stürzte er auf sie zu, um sie zu fassen. Die Schildkröte schlüpfte in das Loch. Der Jaguar griff hinein und faßte die Schildkröte am Bein.[165]

Die Schildkröte fing an zu lachen und sagte: »Er glaubt mein Bein zu halten und hält nur eine Wurzel!«

»Das ist gut,« erwiderte der Jaguar und ließ das Bein der Schildkröte fahren.

Da lachte die Schildkröte von neuem und sprach: »Es war doch mein Bein, das du hieltest!«

Der dumme Jaguar wartete am Rande des Loches. Da kam eine Kröte. Er rief sie an: »Oh, Kröte!« Diese antwortete: »Hier bin ich!«

Der Jaguar sagte: »Die Schildkröte hat sich in diesem Loche versteckt, und ich will sie greifen. Bleib hier und bewache sie! Ich will eine Hacke holen, um sie auszugraben!«


58. Schildkröte und Jaguar

Der Jaguar ging weg.

Die Schildkröte erschien nun am Eingang des Loches, erblickte die Kröte und rief ihr zu: »Oh, Kröte, was machst du da?« »Ich bin hier, um dich zu bewachen,« sagte die Kröte.

»Dann öffne deine Augen!« sagte die Schildkröte.

Die Kröte riß ihre Augen weit auf, und die Schildkröte warf ihr eine Handvoll Sand hinein. Während jene sich die Augen rieb, verließ die Schildkröte das Loch und machte sich davon.

Bald darauf erschien der Jaguar mit seiner Hacke und fragte die Kröte: »Wo ist die Schildkröte?«

»Sie ist im Loch,« antwortete die Kröte.

Der Jaguar begann zu graben, zu graben, zu graben. Das Loch war sehr tief. Ganz ermüdet, ließ er endlich die Hacke sinken und fragte wütend die Kröte: »Wo ist denn die Schildkröte?« Die Kröte antwortete: »Ich weiß es nicht.« Da sagte der Jaguar: »Du weißt es wohl! Du hast sie entwischen lassen! Jetzt sollst du mir es büßen!« Mit diesen Worten stürzte er sich auf die Kröte und verschlang sie.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 164-166.
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