[173] 61. Das Haus der Jungfrauen

Man sagt, daß es in früheren Zeiten am Anaua, am Caiary Jungfrauen gab, die die heiligen Geräte hüteten.

Man sagt, daß einmal eine dieser Jungfrauen geflohen sei, um sich einen Mann zu verschaffen. Als sie in den Wald gekommen war, und die Nacht anbrach, ging sie schlafen. Gegen Morgen weinte sie. Da hörte sie Männer sprechen. Einer von ihnen sagte:

»Ich werde mich nicht verheiraten; vielleicht aber begegne ich einem schönen Mädchen, dann werde ich sie heiraten.«

Darauf trafen sie die Jungfrau. Er sah sie und fand sie schön, und auch sie fand Gefallen an ihm.

Der Mann sagte zu ihr:

»Willst du mich heiraten?«

Das Mädchen antwortete: »Ich will es.«

Darauf nahm er sie mit in sein Land.

Jener Mann gehörte dem Volke der Agamis an.

Die Eltern verheirateten ihn, und nach der Hochzeit gingen sie im Flüßchen baden. Dort fanden sie das Kraut des Agami. Mit diesem rieben sie den Körper ein und wuschen sich. Man sagt, daß sie sich alsdann beide in Agamis (Trompetervögel)[173] verwandelten.


61. Das Haus der Jungfrauen

Darauf fühlte sie, daß sie Eier hatte, und ihr Leib schwoll an, so daß sie nicht mehr gehen konnte. Man erzählt, daß die Frau sagte:

»Das sind keine Eier, das sind vielleicht Kinder.«

Einige Monate später brachte sie zwei Kinder zur Welt, ein Mädchen und einen Knaben.

Die Kinder wuchsen heran. Der Knabe war kräftig, und man sagt, daß er es liebte, mit dem Pfeil zu schießen, so daß seine Mutter zu ihm sagte:

»Mein Sohn, in einiger Zeit wirst du Agamis schießen.«

Die Mutter sah die Kinder niemals, wenn sie schliefen. Eines Nachts jedoch sah sie sie. Sie blickte auf ihre Kinder und erschrak. Die Kleine, sagt man, hatte sieben Sterne auf der Stirn, und der Knabe trug andere Sterne, wie eine Schlange gewunden, auf dem Körper.

Die Mutter blieb erschrocken und rief ihren Gatten, daß er die Kinder sähe. Der Vater kam und erschrak ebenfalls. Er sprach:

»Ich bin doch ein Vogel; wie kommt es, daß ich Kinder habe?«[174]

Darauf, so erzählt man, ging er zu den Zauberärzten und sprach zu ihnen:

»Wer will mir dies erklären: ich bin ein Vogel, und mein Weib hat Kinder?«

Die Zauberärzte antworteten:

»Das sind ebenso deine Kinder. Als du mit deinem Weibe zusammenwarst, schaute sie auf die Sterne, und daher fielen die Sterne auf die Kinder.«

Während der Vater mit den Zauberärzten sprach, und auch die Mutter ausgegangen war, ergriff der Knabe seine Pfeile und seinen Bogen und ging auf die Jagd. Er traf Agamis und tötete alle. Nachdem sie alle tot waren, kamen andere, und er tötete auch diese. Dann ging er heim. Darauf kam die Mutter. Er sagte zu seiner Mutter:

»Mutter, ich habe alle Agamis getötet. Willst du sie sehen?«

»Vorwärts!«

Als sie hinkamen, sah sie, daß der Kleine seinen Vater und alle Zauberärzte getötet hatte.

Da sagte die Mutter zu ihm:

»Mein Sohn, du hast deinen Vater und die Zauberärzte getötet. Jetzt gibt uns niemand den Unterhalt. Du hast uns sehr geschädigt.«

Darauf, so erzählt man, antwortete der Knabe:

»Mache dein Herz nicht traurig, Mutter! Dafür bin ich da, daß ich dir geben werde, was dir fehlt.«

Darauf machten sie sich auf nach dem Lande der Großeltern. Auf dem Weg sagte sie zu ihrem Sohn:

»Mein Sohn, wie werden wir in das Land deines Großvaters kommen? Als ich damals von dort wegging, hatte ich noch keine Kinder, war ich noch Jungfrau. Jetzt wird mich dein Großvater wieder in das Weiberhaus sperren wollen, in jenes finstere Haus, damit ich die Männer nicht kennen lerne.«

»Beruhige dich, Mutter! Laß mich nur machen! Wenn ich dorthin komme, mache ich ein Ende mit diesen Sachen.«

Als sie in das Land des Großvaters kamen, ergriff dieser[175] kleine Knabe einen großen Felsen und warf ihn auf das Haus, so daß es ganz platt gedrückt wurde. Alle Frauen, die darin waren, flohen. Durch seine eigene Schwere bohrte sich der Fels tief in die Erde.

Als der Großvater dies sah, erfaßte ihn Furcht vor dem Knaben, und alle Häuptlinge und das ganze Volk fürchteten sich.

Darauf, so erzählt man, sprach ein Häuptling:

»Ich werde dich lieben mein ganzes Leben lang, nur wünsche ich von dir, daß du wiederherstellst, was du zerstört hast, wie es vorher war.«

Darauf erwiderte der Knabe dem Häuptling:

»Ich wünsche ebenfalls alle Dinge wieder an ihrem Platz zu sehen.«

Damit ergriff er den großen Felsen und legte ihn wieder an seinen Platz. Sie blieben nun wohl aufgehoben in dem Lande ihrer Verwandten.

Darauf, so sagt man, begann das Mädchen zu kränkeln, weil sie keinen Mann hatte.

Da sprach der Knabe zu seiner Mutter:

»Gib mir meine Schwester, damit ich sie wegführe und heile, denn nur ich weiß, wo das Heilmittel für sie ist!«

Also führte der Bruder sie weg zum Himmel, da er nicht wünschte, daß sie heiratete. Sie ist es, die wir heute dort sehen und Siusi, das Siebengestirn (Plejaden), nennen.

Als die Kinder nicht wiederkamen, ging die Mutter aus, sie zu suchen. Beim Überschreiten eines Flüßchens wurde sie von der großen Schlange verschluckt.

Der Sohn kam zurück und fand die Mutter nicht mehr. Da ging er aus, sie zu suchen.

Er zog durch alle Länder und hinterließ überall Söhne. Endlich fand er seine Mutter. Als er sie gefunden hatte, nahm er sie mit sich zum Himmel. Er ist heute jener Stern, den wir »Pino« oder »große Schlange« nennen.

Was ich hier erzählt habe, geschah in unserem Anfang, im Anfang der Welt unserer Ahnen.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 173-176.
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