[206] 76. Der Stern

Es war einmal ein Jüngling, der lebte im Junggesellenhaus. Eines Nachts blickte er empor zum sternenfunkelnden Himmel. Da fiel ihm ein Stern besonders auf durch seinen ruhigen, hellen Glanz.

»Wie schade, daß ich dich nicht in meine Kürbisflasche einschließen kann, um dich nach Herzens Lust zu bewundern!« rief er aus, seufzte und starrte lange Zeit zärtlich hinauf zu dem gefühllosen Stern.

Endlich ging er in das Junggesellenhaus, wo seine Brüder bereits schliefen. Er schlief ein und träumte von dem schönen Stern. In der Nacht wachte er plötzlich auf und sah zu seiner Überraschung ein junges Mädchen mit hellen, leuchtenden Augen zu sich herabblicken. Er dachte, es wäre eine »Versuchung«, und beschwor sie, ihn sofort zu verlassen. »Warum?« antwortete sie. »Ich bin der helle Stern, den du in deiner Kürbisflasche zu haben wünschtest.«

Der junge Mann war im ersten Augenblick stumm vor Erstaunen. Dann sagte er: »Aber du kannst doch sicherlich nicht in meine Kürbisflasche hinein.«

»Doch, das kann ich,« antwortete der Stern. Der junge Mann öffnete seine Kürbisflasche und tat das Sternmädchen hinein. Sie erhob ihre Augen zu ihm, und sie waren wunderschön in ihrem leuchtenden Glanz. – Von nun an hatte der Jüngling keine Ruhe mehr. Während des Tages ging er hinaus in den Wald. Er konnte an nichts anderes denken als an den Stern, den er sich in einem Augenblick der Narrheit gewünscht hatte, und dessen Gegenwart ihn nun so beunruhigte.

In seiner Abwesenheit wollten seine Brüder ihm einen[206] Streich spielen und ihm die Palmnüsse stehlen, die er gewöhnlich in seiner Kürbisflasche aufbewahrte.

Einer von ihnen kletterte hinauf, um die Kürbisflasche von dem Balken loszubinden, an dem sie befestigt war. Der andere stand unten und fing sie auf. Als er sie öffnete, ließ er sie mit einem Schrei fallen.

»Es ist ein Tier darin mit feurigen Augen!« schrie er. Sie liefen beide davon und ließen die Kürbisflasche am Boden liegen.

Als der Jüngling zurückkam, erzählten ihm die Brüder, was sich ereignet hatte, und warnten ihn, die Kürbisflasche zu berühren. Er war ärgerlich auf sie, verhehlte ihnen die Wahrheit, so gut er konnte, und hing die Kürbisflasche auf wie zuvor.

Das Sternmädchen kam nur des Nachts aus seinem Versteck, und der junge Mann, obgleich noch etwas ängstlich, weidete seine Augen an ihrer Schönheit.

Eines Tages forderte der Stern der jungen Mann auf, jagen zu gehen. Sie kamen an eine Bacaba- Palme, und das Sternmädchen bat ihn, hinaufzuklettern und ihr einen Büschel Früchte zu holen. Als der Jüngling den Wipfel erreicht hatte und die Früchte pflückte, rief sie ihm zu: »Halte dich fest!« Und indem sie auf den Baum sprang, schlug sie mit einer Rute dagegen. Da fing der Baum an zu wachsen, wuchs und wurde länger, bis er den Himmel erreichte. Da band sie ihn mit den Blättern an eine dicke Wand, und sie sprangen zusammen in den Himmel hinein.

Der Jüngling fürchtete sich sehr. Er sah ein weites, ödes Feld und in weiter Ferne ein Haus. Das Sternmädchen verließ ihn und ging auf das Haus zu. Sie kam bald zurück mit Speisen für den jungen Mann. Sie bat ihn, sich nicht zu entfernen von dort, wo er war, und ging wieder fort.

Der Jüngling blieb zurück, traurig und verwirrt durch alles, was ihm begegnet war. Nach einer kleinen Weile hörte er, nicht weit entfernt, den Klang von Jagdhörnern und Stimmen.[207] Es schien ein Fest gefeiert zu werden mit Gesang und Tanz. Das Sternmädchen kam zurück und beschwor ihn, den Platz nicht zu verlassen und vor allem nicht der Versuchung zu unterliegen, hinzugehen und dem Tanze zuzusehen. Dann ließ sie ihn allein.

Der Jüngling war nicht imstande, seine Neugierde zu unterdrücken, und ging zu dem Fest ...

Was er sah, war schrecklich! Es war eine Art Totentanz. Eine Menge Skelette drehte sich im Tanz, in formlosem Wirrwarr. Das verfaulte Fleisch hing von den Knochen, und ihre Augen lagen vertrocknet in den eingesunkenen Höhlen. Die Luft war schwer von dem faulen Geruch.

Der junge Mann rannte voll Entsetzen davon. Da traf er das Sternmädchen, das ihn ernstlich tadelte wegen seines Ungehorsams. Sie ließ ihn baden, damit er sich säubere von der Befleckung.

Dann verließ sie ihn wieder und ging fort. Aber er konnte nicht länger dort bleiben. Sobald er sah, daß sie weit genug fort war, eilte er nach der Stelle, wo sie den Palmbaum angebunden hatte. Sie sah zurück, erriet seine Absicht und lief herbei, um ihn zu hindern. Aber der Jüngling sprang schnell auf den Baum, der sogleich zusammenschrumpfte und sich ausbreitete, bis er war wie zuvor.

Der Stern sah traurig herunter auf den jungen Mann und sagte: »Du läufst vergeblich davon. Du wirst bald zurückkehren.«

Und so geschah es. Als er den Erdboden erreichte, fühlte der Jüngling Kopfschmerzen. Er konnte kaum noch seinem Vater und seinen Brüdern erzählen, was geschehen war. Alle Heilmittel waren vergebens. Er starb.

So erfuhren die Indianer, daß kein Himmel der Seligkeit sie droben erwartet, wenn auch die Sterne scheinen und sie locken.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 206-208.
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