[208] 77. Sintflut und Weltschöpfung

[208] In längst vergangenen Zeiten fand eine Überschwemmung statt, welche die ganze von unseren Vorfahren bewohnte Erde bedeckte.

Nur die Spitze des Gebirges Krinjijinbe ragte noch aus den Wassern hervor. Die Kaingang, Kayurukre und Kame schwammen in der Richtung auf sie zu, jeder mit einem leuchtenden Feuerbrand zwischen den Zähnen.

Die Kayurukre und die Kame wurden müde und sanken unter und gingen zugrunde; ihre Seelen aber gingen wohnen im Innern des Gebirges.

Die Kaingang und einige wenige Kuruton erreichten mit Mühe den Gipfel des Gebirges Krinjijinbe, wo sie blieben, die einen auf dem Boden, die anderen auf den Ästen der Bäume, weil sie keinen Platz mehr hatten. Dort brachten sie einige Tage zu, ohne daß die Gewässer sanken und ohne Nahrung. Schon erwarteten sie den Tod, als sie den Gesang der Sarakuras vernahmen, die herankamen mit Körbchen voll Erde und diese ins Wasser schütteten. Da fing es an, langsam zurückzuweichen.

Sie riefen den Sarakuras zu, sie sollten sich beeilen, was diese auch taten, indem sie ihren Ruf verdoppelten und die Enten einluden, ihnen zu helfen.

In kurzer Zeit gelang es ihnen, eine geräumige Ebene auf dem Gebirge zu bilden, die den Kaingang vollen Spielraum gewährte, mit Ausnahme jener, die sich auf die Bäume geflüchtet hatten. Diese wurden in Affen, und die Kuruton in Brüllaffen verwandelt.

Die Sarakuras hatten ihre Arbeit von der Seite her begonnen, wo die Sonne aufgeht. Das ist der Grund, warum unsere Flüsse und Bäche ihren Lauf nach Westen nehmen und in den großen Parana münden.

Nachdem die große Flut verschwunden war, ließen sich die[209] Kaingang in der Nähe der Serra do mar nieder. Die Kayurukre und Kame, deren Seelen im Innern des Gebirges wohnten, fingen an, sich Wege zu bahnen. Nach vielen Arbeiten und Mühen konnten die einen auf der einen, die anderen auf der entgegengesetzten Seite herausgehen. An der Öffnung, aus der die Kayurukre herauskamen, entsprang ein schöner Quellbach, und es gab da keine Steine. Daher kommt es, daß sie kleine Füße haben. Dagegen führte der Weg der Kame über steinigen Boden, so daß sie sich die Füße verwundeten und diese während des Marsches aufschwollen. Daher kommt es, daß sie bis auf den heutigen Tag große Füße haben. Auf dem Wege, den sie sich gebahnt hatten, gab es kein Wasser. Sie litten Durst und sahen sich gezwungen, bei Kayurukre solches zu betteln, der ihnen das nötige zu trinken gestattete.

Beim Herausgehen aus dem Innern des Gebirges befahlen die Kaingang den Kuruton, die Körbe und Kürbisschalen zu suchen, die sie vor der Überschwemmung unten im Tal gelassen hatten. Diese gingen, aber sie waren zu träge, wieder auf das Gebirge hinaufzusteigen. Sie blieben unten, wo sie waren, und wollten nicht mehr zu den Kaingang zurückkehren. Aus diesem Grunde, wenn wir ihnen begegnen, ergreifen wir sie wie unsere geflohenen Sklaven, was sie auch sind.

In der folgenden Nacht zündeten sie Feuer an, und Kayurukre bildete aus der Asche und den Kohlen Jaguare und sagte ihnen: »Gehet und fresset Menschen und Tiere des Waldes!« – Und die Jaguare liefen brüllend davon. Da er keine Kohle mehr zum Bemalen hatte, machte er nun von Asche die Tapire und befahl ihnen: »Gehet und holet euch Wildpret!« – Diesen aber waren die Ohren schlecht ausgefallen, und so verstanden sie den Befehl nicht und fragten, was sie tun sollten. Kayurukre, der gerade dabei war, ein anderes Tier zu formen, schrie ihnen ärgerlich zu: »Gehet und fresset Laub und Baumzweige!« – Dieses Mal verstanden sie den Befehl und gingen. Das ist der Grund,[210] warum die Tapire sich nur von Laub, Baumzweigen und Waldfrüchten nähren.

Kayurukre war wieder dabei, ein anderes Tier zu bilden; es fehlten ihm noch die Zähne, die Zunge und einige Klauen als es anfing Tag zu werden, und da er bei Tag keine Kraft hatte, legte er ihm schnell eine feine Rute in das Maul und sagte zu ihm: »Da du keine Zähne hast, lebe von Ameisen!« – Das ist der Grund, warum der Ameisenbär ein unvollendetes und unvollkommenes Tier ist.


77. Sintflut und Weltschöpfung

In der folgenden Nacht fuhr er fort und bildete viele Tiere, unter ihnen auch die guten Bienen. Zu derselben Zeit, als Kayurukre diese Tiere hervorbrachte, machte Kame deren auch, aber andere, um jene zu bekämpfen; er machte die amerikanischen Löwen, die giftigen Schlangen und die Wespen.

Nach dieser Arbeit marschierten sie, um sich mit den Kaingang zu vereinigen; aber sie sahen, daß die Jaguare sehr wild waren und viele Leute auffraßen. Da schlugen sie beim Übersetzen eines tiefen Flusses eine Brücke mittels eines Baumstammes, und nachdem alle übergesetzt waren, sagte Kayurukre zu einem der Kame, er solle, wenn die Jaguare auf der Brücke wären, diese mit aller Kraft hinwegziehen, damit jene ins Wasser fielen und ertränken. So tat einer von den Kame. Von den Jaguaren fielen einige ins Wasser und gingen unter; andere aber sprangen ans Ufer und hielten sich mit den Krallen fest. Der Kame wollte sie ins Wasser stürzen; als aber die Jaguare brüllten und die Zähne zeigten, fürchtete er sich und ließ sie auf das Land kommen. Daher rührt es, daß die Jaguare sowohl auf dem Lande als auch im Wasser leben können.

Nachdem die Indianer eine große Ebene erreicht hatten, versammelten sie sich und berieten, wie sie ihre Kinder verheiraten sollten. Sie verheirateten zuerst die Kayurukre mit[211] den Töchtern der Kame und umgekehrt. Als aber noch viele Jünglinge übrigblieben, verheirateten sie diese mit den Töchtern der Kaingang. Daher kommt es, daß die Kayurukre, die Kaingang und die Kame Freunde und Verwandte sind.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 208-212.
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