[212] 78. Sintflut

In alter Zeit fiel einmal ein starker Regen, der die von uns bewohnte Erde überschwemmte. Ein einziger von unseren Vorfahren erblickte, als er schon sehr ermüdet dahinschwamm, den Wipfel einer Palme, der aus den Gewässern auftauchte. Er näherte sich ihm und faßte einen Wedel, der aber, weil er trocken war, abbrach. Getragen von dem Wedel fuhr er fort zu schwimmen. Bei Einbruch der Nacht sah er einen anderen Palmwipfel, näherte sich ihm und hielt sich an einem grünen Wedel fest. Er stieg an ihm empor und machte es sich auf der Krone bequem. Hier blieb er viele Tage lang und litt Hunger und Kälte. Als dann die Palmfrüchte reif wurden, aß er sie und nährte sich von ihnen.

Eines Tages hörte er in der Ferne den Gesang des Sapakuru (Ibis), der sich ihm näherte. – »Halte dich hier fest! Ich will Erde holen, damit du herabsteigen kannst.« – Kurz darauf setzte sich eine Sarakura auf die Krone der Palme, erblickte ihn da und sagte zu ihm: »Nicht weit von hier gibt es Erde. Warum gehst du nicht dorthin?« – »Ich kann nicht; ich bin sehr schwach. Wenn ich die Palme verlasse, sterbe ich sicherlich.« – Da sagte die Sarakura: »Ich gehe Erde holen.« – Und sie und der Ibis brachten Erde in ihren Schnäbeln und streuten sie auf das Wasser. Da wurde es trocken. An den Stellen, wo der Ibis die Erde fallen ließ, erhöhte sie sich, entsprechend seinem größeren Schnabel, und bildete Gebirge. Vor diesem Regen war die Erde, auf der wir wohnten, ganz flach. Das Wasser verschwand,[212] und der Mann stieg herab von der Palme und lebte von den Früchten und Wurzeln der Bäume. Aber er war allein inmitten der anderen Wesen, die nicht waren wie er.

Eines Tages sagte der Ibis zu ihm: »Warum gehst du nicht und suchst dir eine Gefährtin? In der großen Bucht gibt es viele. Mache ein Floß, während ich die Enten beauftrage, dich dahin zu bringen, wo die Mädchen der anderen Leute sind.« – Am folgenden Morgen nahmen die Enten das Floß, auf dem er sich befand, ins Schlepptau. Am Rande der Lagune badeten viele Mädchen. Sie sahen das Floß und eilten erschreckt auf den Strand. Eine von ihnen stürzte sich ins Wasser und schwamm auf das Floß zu. Als sie dort ankam, nahm er sie in seine Arme, und die Enten schleppten das Floß wieder nach seinem Aufenthaltsort. Die anderen Mädchen erzählten ihren Leuten von dem, was ihnen begegnet war, und sie machten sich auf die Verfolgung der Flüchtlinge, konnten sie aber nicht einholen.

Are verheiratete sich mit dem Mädchen, und sie hatten Kinder; aber wenn wir anderen Leuten begegnen, streiten sie immer mit uns. Aus diesem Grunde leben wir getrennt und wie verloren in den Wäldern.

Quelle:
Koch-Grünberg, Theodor (Hg.): Indianermärchen aus Südamerika. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 212-213.
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