[130] In Schurá28 war ein König, in Petrowsk ein anderer. Der in Schurá hatte fünf Söhne, der in Petrowsk hatte keinen. Beide Könige waren große Freunde; immer sah man sie beisammen. Eines Tages nun waren beide in Schurá auf der Hochzeit eines Edelmannes. Da kam plötzlich ein Bote aus Petrowsk mit der Nachricht, die Königin sei schwanger und bitte ihren Mann nach Hause zu kommen. Der König zog hundert Rubel aus der Tasche und gab sie dem Boten und nach einer halben Stunde war er schon mit seinem Freund in Petrowsk. Noch waren sie nicht lange dort, als aus Schurá ein Bote angeflogen kam mit der Nachricht, die Königin sei schwanger und ihr Mann möge gleich nach Hause kommen. Auch dieser Bote bekam hundert Rubel Lohn und beide Könige reisten nach Schurá zurück. Dort schworen sie einander, daß, wenn der eine von ihnen Vater eines Sohnes und der andere Vater einer Tochter würde, die beiden Kinder ein Paar werden sollten und daß man sie gleich nach der Geburt verloben müsse.
Wirklich gebar die Königin von Schurá ihren sechsten Sohn und die von Petrowsk eine Tochter. Die beiden Kinder wuchsen sehr schnell; wie sie noch ganz klein war verstand die Prinzessin es schon, in den Spiegel zu schauen, und der Prinz konnte schon reiten. Als sie dreizehn Jahre alt war, war sie bereits so schön, daß die Königin sie nicht auf die Straße lassen wollte, und der Prinz ging in diesem Alter schon auf die Jagd.
Nun, was soll ich dir jetzt erzählen? Soll ich vom dreiköpfigen Ajdaha29 Nachricht geben?
Ja, dieser Ajdaha hatte erfahren, wie schön die Prinzessin sei und darum fragte er seine Mutter, die zaubern[131] konnte, wie er es anstellen solle, um jene für sich zu gewinnen. Die Mutter verwandelte ihn in ein goldenes Vögelchen und sagte: »Flieg auf das Dach des Königs!« So tat er, und gerade als er angeflogen kam, stand die Prinzessin am Fenster. Der goldene Vogel flog zu ihr hin und die Prinzessin, die noch nie so einen Vogel gesehen hatte, fing ihn sogleich. Aber der Vogel, der sich wieder in einen Ajdaha verwandelt hatte, packte sie und flog mit ihr davon.
Nun, von wem erzähl' ich dir jetzt? Von der Königin, der Mutter der geraubten Prinzessin?
Ja, die Königin kam bald darauf ins Zimmer ihrer Tochter und sah, daß es leer war. Gleich ließ sie die ganze Stadt durchsuchen, aber vergebens ... nirgends war die Prinzessin zu finden. Man schickte nach Schurá, auch dort war sie nicht. Die fünf ältesten Söhne des Königs von Schurá machten sich auf die Suche, und als sie an einem Wald vorbeikamen, sahen sie ihren jüngsten Bruder, Kitschüw, unter einem Baume liegen. »He, Bruder,« riefen sie ihm zu, »was liegst du da? Weißt du denn nicht, was für ein Unglück dich betroffen hat? Deine Braut ist verschwunden.« »Oho! Ich aber weiß besser als ihr, wer Altuntschatschä30 entführt hat. Der dreiköpfige Ajdaha hat es getan.« Die Brüder schlugen ihm vor, als sie dies gehört hatten, sie wollten alle zusammen ausziehen, um die Prinzessin zu retten. Zuerst aber gingen sie nach Hause, um alles vorzubereiten.
In Schurá waren gerade beide Könige anwesend. »He, Vater, he, Schwiegervater, hört mich an!« sagte der Jüngste, »Du, Schwiegervater, was gedenkst du zu tun, um Altuntschatschä wieder zu finden?« »Ich gebe euch sieben Tulpanpferde«, antwortete dieser. »Und du Vater, was gedenkst du zu tun?« »Ich gebe euch Waffen und Proviant.« »Und du, ältester Bruder, was ist deine Absicht?« »Ich werde Gott bitten, das Meer zu teilen, damit wir[132] sehen, in welchem Teile des Meeres der Ajdaha ist.« »Und du, mein zweiter Bruder, was willst du tun?« »Ich werde Gott bitten, uns einen Turm zu bauen, um uns darin zu verbergen, wenn der Div uns verfolgt.« »Und ich,« sagte Kitschüw, »ich schneide dem Ajdaha seine Köpfe ab!«
Am folgenden Tag zog Kitschüw mit seinen fünf Brüdern und seinem Freund Aslanä aus. Auf den Tulpanpferden, die ihnen Kitschüws Schwiegervater gegeben hatte, legten sie in sieben Tagen einen siebenjährigen Weg zurück und kamen an ein sehr großes Meer. »Nun, mein ältester Bruder, mache deine Worte jetzt wahr!« sagte Kitschüw. Der hielt auch sein Versprechen; auf sein Gebet hin teilte sich das Meer und sie konnten den Ort sehen, wo der dreiköpfige Ajdaha war. Er lag am Grunde des Meeres und schlief; den einen Kopf hatte Altuntschatschä auf ihrem Schoß. Kitschüw zog seinen Säbel und ging auf den Ajdaha los, um ihn zu töten. »Warte ein wenig, Kitschüw,« sagte Altuntschatschä, »so geht das nicht. Siehst du den Fisch dort? Den töte zuerst; du findest in seinem Innern eine Schachtel, in der sich die Seele des Ajdaha befindet, die nimm heraus und wirf sie weg; dann kann er nicht mehr aufstehen und du kannst ihm seine Köpfe abschneiden und mich befreien.« Kitschüw befolgte den Rat seiner Braut, fing den Fisch, schnitt ihn auf, zog die Schachtel heraus, zerschnitt die Seele in Stücke, hieb dem Ajdaha seine drei Köpfe ab, nahm Altuntschatschä mit und floh.
Was soll ich dir jetzt erzählen? Von Enäj, der Mutter des Ajdaha?
Die kam einige Zeit danach, um ihren Sohn zu besuchen. Als sie diesen in Stücke zerhauen fand, wurde sie furchtbar zornig und fing an, die Fische im Meere umzubringen. Da kam ein großer Fisch herbeigeschwommen und sagte: »Enäj, was bist du auf uns böse? Sieh dort, der große Fisch, der hat die Seele deines Sohnes gefressen, den töte! Und ziehe deines[133] Sohnes Seele aus ihm heraus!« Enäj tat, was ihr geraten worden war und gab auf diese Weise ihrem Sohn das Leben wieder. Der weinte erst, als er wieder lebendig wurde, dann aber machte er sich sofort daran, Kitschüw zu verfolgen.
»Brüder!« rief dieser, »Brüder, wißt ihr nicht, woher der feine Regen auf einmal kommt? Ich weiß es. Der Ajdaha ist hinter uns her. Nun ist die Reihe an dir, mein zweiter Bruder, jetzt halte Wort!« Und der zweite Bruder betete zu Gott, und Gott ließ sogleich einen hohen Turm entstehen, in dem sich die Brüder mit Altuntschatschä versteckten. Als der Ajdaha den Turm erreicht hatte, sprang er daran empor, konnte sie aber nicht erreichen. Er sprang ein zweites Mal, und es gelang Kitschüw, ihm mit einem Hieb alle drei Köpfe abzuschlagen.
Sieben Tage später war Kitschüw mit seiner Braut und seinen Brüdern zu Hause. Wie freuten sich da die Könige und was für ein frohes Fest veranstalteten sie da!
Kitschüw aber legte sich eine Zeitlang ins Bett und Altuntschatschä saß neben ihm. Plötzlich sprang er auf und sagte: »Ich muß sofort aufbrechen.« »Wohin denn auf einmal?« frug ihn seine Braut. »Warte auf mich, drei Jahre, drei Tage, drei Stunden und drei Minuten lang, wenn ich dann nicht zurück bin, kannst du tun, was dir behebt.« Dasselbe sagte er zu seiner Mutter, die bitter weinte, als sie von der Absicht ihres Sohnes erfuhr. Aslanä wollte ihn begleiten, aber Kitschüw ließ es nicht zu, er machte sich ganz allein auf den Weg. Am neunten oder zehnten Tage kam er an einen Ort, wo drei Wege auseinandergingen. Und drei Tafeln waren da; auf der ersten stand: Wenn du auf mir gehst, kehrst du nicht zurück; auf der zweiten: Wenn du auf mir gehst, kehrst du zurück oder nicht, und auf der dritten: Wenn du auf mir gehst, kehrst du zurück.
Kitschüw wählte den ersten Weg. Nach einiger Zeit kam er an ein Wasserbecken. Da sagte plötzlich sein Pferd in menschlicher Sprache: »Kitschüw, steig ab und bade dich[134] in diesem Becken.« »Warum?« frug Kitschüw. »Darum,« antwortete das Pferd, »das brauchst du jetzt noch nicht zu wissen«. Kitschüw stieg ab und badete sich. Nach einer Weile hub sein Pferd wieder an zu reden: »Kitschüw, ich will dir etwas sagen. In dem Lande, in dem wir uns jetzt befinden, sind zwei Könige, zwei Brüder; der ältere ist sehr bös, der jüngere weniger; ich werde dich in einen goldenen Vogel verwandeln. Bald werden die beiden Brüder hier vorbeikommen; ich verschwinde jetzt, gebe dir aber drei Haare aus meinem Schweif und sage dir zwei Wörter, die du gut im Gedächtnis behalten mußt. Wenn du das erste aussprichst, verwandelst du dich in Sand, wenn das zweite, so wirst du zu Getreidekörnern. Und wenn dir große Gefahr droht, so zünde eines der Haare an!« Als das Pferd dies gesagt hatte, verschwand es und Kitschüw setzte sich in Gestalt eines Vogels auf den Rand des Beckens.
Bald darauf sah er zwei Reiter herankommen; es waren die beiden Könige. Der jüngere war ein großer Jäger; wo er einen schönen Vogel sah, fing er ihn entweder oder tötete ihn, um ihn zu essen. Diesmal aber warnte ihn sein Bruder: »Laß diesen Vogel in Ruhe! Fang ihn nicht und tue ihm kein Leid an!« Der goldene Vogel aber flog immer um den jüngeren herum und dieser sagte zu sich selbst: »Wie kann ich an einem so schönen Tier vorbeigehen ohne es zu fangen«, streckte die Hand aus und der Vogel flog ihm geradezu in die ausgestreckte Hand hinein. Gleich steckte der Jäger sich das Tierchen in den Busen, ohne daß der ältere Bruder es sah. Als sie nach Hause kamen, gab er den Vogel einer seiner Schwestern. Nachts spielte diese mit dem Vogel und dieser sprang ihr auf die Schulter und zwickte sie zuerst in die Wange und dann in die Brust. »He, he,« sagte sie, »meine Brust ist nicht für dich, die gehört Kitschüw.« Kaum hatte sie's gesagt, als der Vogel menschliche Gestalt annahm; da stand er nun vor dem Mädchen, derselbe Kitschüw, von dem sie gesprochen hatte. »Ich bin Kitschüw«, sagte er. »Gut,« antwortete[135] sie, »aber ehe ich dir gehören kann, mußt du drei Dinge vollbringen. Zuerst mußt du mit mir ringen, dann dich in Sand verwandeln und dann mit siebzig Ajdahas kämpfen.« Kitschüw zwang das Mädchen nieder und verwandelte sich in Sand; ehe er sich aber in den Kampf mit den siebzig Ajdahas einließ, verbrannte er ein Haar aus dem Schweife seines Pferdes. Das erschien sofort, und zu zweit wurden sie mit den Siebzig fertig und erschlugen sie alle. Dann stieg er auf sein Pferd, setzte das Mädchen vor sich und ritt nach Hause, wo man, um seine Rückkehr zu feiern, ein großes Fest veranstaltete.
Als er aber zu seinen Frauen wollte – er hatte ja jetzt zwei – ließen ihn diese nicht ein; er solle zuvor für seinen Freund die Schwester der drei Ajdahas holen. Kitschüw machte sich gleich auf den Weg. Er erschlug zuerst die drei Ajdahas. Die Schwester derselben aber saß mitten in einem großen Baum. Den mußte er erst ausreißen. Das tat er auch, wurde aber dabei sehr müde und legte sich deshalb nieder, um ein wenig zu schlafen. Inzwischen kam sein Freund des Wegs. Der nahm sich den Baum mit und ritt damit davon. Kitschüw aber erwachte sofort und lief ihm nach. Als er aber den Freund erkannte, traten sie beide zusammen friedlich den Heimweg an.
Und zu Hause feierten sie ein noch viel größeres Fest, als sie je eins veranstaltet hatten.
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