77. Wer ist der Dümmste?

[269] Es waren einmal zwei Mullahs, die gingen eines Tages spazieren. Da kam ihnen ein Reiter entgegen, der ihnen einen Guten Tag bot. Sogleich fingen die beiden zu streiten an: »Mich hat er gegrüßt«. »Nein, mich!«

»Aber gewiß nicht, mich hat er gegrüßt.«

»Nein, nein, mich!«

Und so lange stritten sie, daß sie endlich zu raufen anfingen. Da kam dem einen der Gedanke, sie würden besser den Reiter selber fragen, wen er eigentlich gegrüßt habe, und er schlug dies dem andern vor. Der war's zufrieden und so liefen sie dem Reiter nach, schrien aus Leibeskräften, winkten mit ihren Papachen,78 und als dieser sie endlich, bemerkte, riefen sie ihm zu, er solle anhalten.

»Was wollt ihr denn?« fragte er sie, als sie ihn erreicht hatten.

»Wir wollen wissen, wen von uns beiden du vorhin gegrüßt hast«, sagten die Mullahs.

»Beide hab' ich gegrüßt, selbstverständlich!« antwortete der Reiter.

»Nein, das ist nicht wahr, du hast nur dem einen Guten Tag gesagt, aber welchem?« versetzte der eine wieder, und so lange setzten sie dem Reiter zu, bis dieser endlich sagte, er habe seinen Gruß ja eigentlich, an den Dümmeren gerichtet, das sollten sie nur unter sich ausmachen.

Da hub wieder ein großes Streiten an: »Ich bin der Dümmere«, »Nein, ich bin es.« Und stritten und stritten, bis es dem Reiter zu dumm wurde. »Ja,« meinte er, »so werdet ihr die Frage nicht entscheiden. Erzählt mir einmal jeder die größte Dummheit, die er in seinem Leben[269] begangen hat, dann werden wir's schon rausbekommen, wer der Dümmere ist.«

»Ich hatte einmal dreißig Schüler,« fing der eine an, »die mir jedesmal Gesundheit wünschten, wenn ich niesen mußte.« Das verbot ich ihnen eines Tages und sagte ihnen, sie sollen nicht mehr »Gesundheit« rufen, sondern nur in die Hände klatschen.

Nun war da mal ein Feiertag und wir wollten ein Fest feiern im Hofe der Moschee. Dazu mußte eine Grube gegraben werden. Ich und meine Frau, wir machten uns an die Arbeit. Ich grub und meine Frau schaffte die Erde weg. Da meinte sie auf einmal, ich hätte ja dreißig, Schüler, ich solle doch zwei davon zu Hilfe nehmen. Ich rief also zweie davon und sagte ihnen, sie sollten mich aus der Grube ziehen. Sie gaben mir einen Strick, den ich mir um den Leib band, dann nahm ich einen Sack mit Erde in die Hand und ließ mich hinaufziehen.

»Aber wie ich fast schon droben war, mußte ich niesen und die beiden ließen den Strick los und klatschten, wie ich's ihnen ja befohlen hatte. Ich fiel hinunter, und brach mir den Arm und fiel mir ein Loch in den Kopf und stieß mir ein Auge aus.«

»Ich aber hatte vierzig Schüler,« hub der andere an, »die wünschten mir jeden Tag ›Guten Morgen!‹, wenn ich in die Schule kam.« Das konnte ich nicht leiden und ich sagte, ich würde nie wieder mehr als das Nötige mit ihnen sprechen. Eines Tages war ich ein wenig krank. Da legten sie mich auf einen Teppich und trugen mich zum Nachbarn. »Unser Lehrer ist krank«, sagten sie. »Ich blieb stumm. Dann kochten sie eine Suppe für mich, aßen sie aber selber und behaupteten dann, ich wäre tot. Ich sagte wieder nichts. Dann riefen sie einen Mullah herbei, der mich wusch und ins Leichentuch wickelte. Ich blieb stumm. Dann steckte mir einer von meinen Schülern heimlich ein wenig Dolma79 in den Mund und sagte, ich sei wieder[270] lebendig geworden, aber meine Backe sei geschwollen und man müsse sie aufschneiden. Dann riefen sie den Arzt. Ich blieb immer noch stumm. Der Arzt schnitt mir die Backe auf, nahm das Stück Dolma heraus und behauptete, in der Backe sei ein Geschwür gewesen. Dann aber stand ich auf, ging, ohne ein Wort zu sagen nach Hause und verband mir die Backe.«

»Dich hab' ich gegrüßt«, sagte der Reiter, drehte sein Pferd um und ritt weg.

78

Die Papacha ist die bekannte kaukasische Fellmütze.

79

Dolma (eigtl. Gefüllsel;) in Weinblättern gedünstetes Fleisch.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 269-271.
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