44. Zwei Nachbarhäuser

[170] Ein Bär, ein Wolf und ein Schwein lebten an einem Orte; ein Lamm, ein Zickchen und ein Hahn an einem andern. Einmal ging bei den ersteren das Feuer aus und sie schickten den Wolf, er solle bei den Nachbarn welches holen. Der Wolf lief hinüber und rief: »He, ihr da, gebt mir Feuer!« Die Nachbarn aber erschraken und liefen davon. Bloß das Lamm hatte Mut genug und antwortete dem Wolf: »Komm herein, was bleibst du denn draußen vor der Türe stehen. Da hast du ein bißchen Wolfsfleisch und dann kannst du dir Feuer nehmen!« »Aber woher habt ihr denn Wolfsfleisch?« frug der Wolf. »Unser Zickchen mit den beiden Hörnern schlachtet uns Wölfe und wir lassen's uns schmecken.« Mehr wollte der Wolf nicht hören; er machte sich schleunigst aus dem Staube, lief nach Hause und schickte den Bären hinüber.

Der Bär ging und rief, als er am Nachbarhause war: »He, ihr da, gebt mir Feuer!« Wieder erschraken sie alle, nur das Lamm faßte sich ein Herz und antwortete dem Bären: »Komm nur herein! Da hast du ein bißchen Bärenfleisch und dann kannst du auch Feuer haben.« »Ja, woher habt[170] ihr denn Bärenfleisch?« »Das hat uns unser Zickchen mit den zwei Hörnern besorgt; es schmeckt uns ausgezeichnet.« Gleich lief der Bär auch davon, weil er fürchtete, daß ihn das Zickchen auch schlachten könnte. Lief heim und schickte das Schwein zu den Nachbarn hinüber.

Also ging das Schwein zu den Nachbarn und verlangte Feuer. Wieder erschraken sie – der frißt uns auf, der Borstenträger, sagten sie zueinander – bloß das Lamm hatte Courage und sagte: »Warum kommst du nicht herein. Da sieh das schöne Schweinefleisch, wie fett es ist; iß ein wenig davon und nimm dir Feuer!« »Wo habt denn ihr Schweinefleisch her?« »O, das besorgt uns unser Kitzchen mit den zwei Hörnern, und wir essen es furchtbar gern!« antwortete das Lamm. Das Schwein aber lief davon so schnell es konnte, lief heim und erzählte, was es gehört hatte. »Zu mir hat das Lamm dasselbe gesagt,« sagte der Wolf, »das Zickchen läßt uns nicht in Ruhe, es wird uns sicher noch umbringen. Wißt ihr was? Gehen wir hinüber und horchen wir zu, was sie unter sich sprechen.«

Also gingen sie alle drei hinüber. Das Zickchen hatte die Schnauze in die Höhe gesteckt und käute wieder, das Lamm guckte sich erschreckt nach allen Seiten um und der Hahn krähte. »Das Zickchen da lauert auf uns von oben herab«, sagte der Bär. »Und das Lamm beobachtet uns auch« meinte der Wolf, und das Schwein sagte: »Ich weiß schon, was der Hahn da spricht. Er droht uns, er würde uns auffressen, wenn er uns erwischt.« Dann liefen sie alle drei davon und versteckten sich unter einem überhängenden Felsen, die andern drei liefen aber auch davon und blieben zufällig gerade auf dem Felsen über den andern stehen. Das Zickchen schaute hinunter und sagte: »Seht ihr, da sind unsere Feinde. Jetzt werden sie uns fressen.« Nun hätte es aber auch zu gerne gepißt, traute sich aber nicht von den andern weg. »Leg dich doch auf den Rücken, dann geht es in deine Haare«, riet ihm das Lamm. Das leuchtete dem Zickchen ein; wie es sich aber[171] auf den Rücken legte, glitt es aus und fiel hinunter zu den andern dreien. »Nimm du einen auf dich, und die andern beiden überlaß uns«, rief ihm das Lamm nach. Der Wolf aber schrie: »Lauft, lauft, seht, da kommt das Zickchen schon!« Und Wolf und Bär und Schwein sprangen auf und fielen hinunter in den Abgrund.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 170-172.
Lizenz:
Kategorien: