69

[257] Zur Zeit als Salomo regierte, lebte nicht weit von Jerusalem in einer Höhle ein Einsiedler, zu dem das Volk von überallher um Rat pilgerte. Salomo entschloß sich einst, selbst zu ihm zu gehen, um ihn um Rat zu fragen und nahm seinen liebsten Höfling mit. Der Einsiedler aber wußte durch eine Eingebung Gottes, daß der König zu ihm komme und bereitete sich zu seinem Empfange vor, indem er seine Zelle auskehrte und das Kehricht mitten darin liegen ließ; dann zog er sich nackt aus, warf sich ein Tuch über die Schulter und wartete auf der Schwelle stehend und indem er sich den Mund mit der rechten Hand zuhielt. Als der König Salomo und sein Höfling sich näherten, sagte dieser:

»Herr, das genügt, laß uns nach Hause gehen!«[257]

»Wieso? Wir sind doch um einen Rat gekommen; es wäre doch eine Schande, unverrichteter Sache heimzukehren«, antwortete Salomo.

»Den Rat haben wir schon. Komm nur, ich will's dir erklären.«

Als sie nun zu Hause waren, gab der Höfling folgende Erklärung des Gesehenen: »Das Kehricht bedeutet unsern irdischen Reichtum. Dadurch, daß er auf der Schwelle seines Zimmers stand, wollte der Einsiedler uns sagen, daß wir auf dieser Welt zeitweise Bewohner sind; das Tuch über seiner Schulter bedeutet, daß wir von den Gütern dieser Welt bloß ein Stuck Zeug zum Leichentuche brauchen, und daß er den Mund zuhielt, das heißt, daß der gefährlichste Feind des Menschen seine Zunge ist; die muß man verschlossen halten, damit sie nichts ausplaudert.«

Den König befriedigte diese Erklärung so, daß er den Höfling reich beschenkte.

Quelle:
Dirr, A.: Kaukasische Maerchen.Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 257-258.
Lizenz:
Kategorien: