Der Kaukasus ist ein Land, mit dem älteste Sagen der europäischen Völker verknüpft sind; man braucht bloß an Argonauten und an Prometheus zu denken, um sich zu überzeugen, seit welch langer Zeit das Gebirgsland zwischen Pontus und Kaspi, zwischen Europa und Asien mit der »Lust zu fabulieren« der Menschheit verknüpft ist. So bunt wie eine Völkerkarte des Kaukasus aussieht – die letzte weist weit über sechzig Namen auf – so bunt sieht es auch in der ungeschriebenen Erzählungsliteratur der Kaukasier aus. Nicht umsonst liegt das Land fast in der Mitte eines Kreises, an dessen Umfange sich die großen Ereignisse der europäisch-vorderasiatischen Menschheit abgespielt haben. Im Süden und Südwesten entstehen und vergehen die alten Reiche der Hethiter, der Sumerier, der Babylonier und Assyrer, im Osten wird der große Kampf zwischen Iran und Turan ausgefochten, von dem uns das Schahnameh meldet, im Norden wandern Skythen und Sauromaten; später ziehen Hunnen und Magyaren, Alanen und Awaren, Slawen und Tataren hin und wieder. Die Römer unterjochen sich Albanien, die Parther machen ihnen dies Besitztum streitig. Die Sassaniden führen die Lehre Zarathustras ein, mit der das Christentum einen langen und harten Kampf zu bestehen hat. Dann überzieht die islamische Welle das Land und dringt bis in die verborgensten Schluchten des Gebirges, ohne jedoch überall den Sieg davontragen zu können. Die Mongolenfluten und die tatarischen Horden ziehen das Land in ihren Wirbel hinein und schließlich kommt das Moskowiterreich und macht den Kaukasus den Türken und den Persern streitig. Doch kommt mit den Russen die Ruhe; auf ein Jahrhundert, bis in den Weltkrieg hinein, ist das Land sicher vor der Eroberungslust seiner südlichen Nachbarn. Was uns die Geschichte erzählt – nur die allerwichtigsten Ereignisse konnten[7] hier aufgeführt werden – ergänzt und bestätigt die Sprachforschung. Ein halbes Dutzend tatarischer Dialekte, drei, vier iranische, ein älteres Iranisch, das Ossetische, dann das Armenische, das Griechische stellenweise, und die annoch geheimnisvolle Welt der eigentlichen kaukasischen Sprachen teilen sich in das Land. Man will für die südwestkaukasischen – das Georgische mit seinen Verwandten – Verwandtschaft mit dem Semitischen gefunden haben und man hat die kaukasischen Elemente in den finnisch-magyarischen Sprachen herauszuschälen versucht – ebenso viele Zeichen ältester und neuerer Völkerbeziehungen. Alles deutet darauf hin, daß der Kaukasus eine Insel darstellt im Strom der Völkergeschehnisse; in seinen Schluchten und Tälern sind zahlreiche Völkerfetzen hängengeblieben und mit ihnen Sage und Glaube, Sitte, Brauch und Sprache. Was ost- oder westwärts gewandert ist auf alten Handels- oder Heerstraßen im Norden oder im Süden des Gebirges, was dies überschritten hat fast in der Mitte, wo der einzige alte Paß über die Bergmauern fuhrt, oder diese umgangen hat längs des Kaspiwestufers, alles das hat Menschen und materielles oder geistiges Gut hängen lassen an seinen Felsen.
Daher auch die Buntheit seines Märchen- und sonstigen Schatzes an Erzählungsliteratur. Ich meine bunt in bezug auf die Herkunft. Ein Berufener als ich mag die einzelnen Sagen und Märchen einordnen, da wo sie hingehören, aber ich möchte doch an einigen Beispielen erläutern, wie es kommen kann, daß der Leser so liebe, alte Bekannte treffen kann wie der Gestiefelte Kater (Nr. 12 Bukutschichan) Tischlein deck dich, Esel streck dich, Knüppel aus dem. Sack (Nr. 25 Die Wundertiere und der Wunderknüppel).
Sicher wandert nichts leichter als alles, was sich leicht und angenehm erzählen läßt. Man kann dies jeden Tag in einer größeren kaukasischen Stadt bestätigt finden. Da gibt es z.B. in Tiflis eine Klasse von Hausierern, Kinto genannt, die sich tatsächlich durch eine gehörige[8] Portion Schlagfertigkeit, Schlauheit und Mutterwitz auszeichnen. Die Kintowitze sind Legion, genau wie bei uns die Mikoschgeschichten und ähnliche Sachen. Ich habe aber in einem zehnjährigen Aufenthalt im Kaukasus auch nicht einen erzählen hören, den ich nicht als lieben uralten europäischen Bekannten hätte begrüßen können. Der Inhalt hat sich nicht geändert; er hat sich nur, wie dies auch anderswo geschieht, um eine gegebene, günstige Bedingungen bietende Persönlichkeit herumkristallisiert. Eine andere Figur, die sich im Kaukasus einer allgemeinen grenzenlosen Beliebtheit erfreut, ist Mulla Nasreddin. Es ist unser guter alter Bekannter aus Ak Schehir, der türkische Chodja Nasr-Eddin. Von ihm werden im Kaukasus nicht nur die Geschichten erzählt, die in jeder türkischen Ausgabe zu finden sind, sondern ungezählte andere; er ist geistreich und dumm, pfiffig und tölpelhaft, energisch und willensschwach, großzügig und kleinlich, je nachdem es die Rolle, die ihm zugewiesen wird, eben fordert; er vertritt die gut spezialisierten Typen unser er Witzblätter, er ist der Typus der in solchen Dingen noch wenig spezialisierenden Völker. Die Vermittler scheinen hier übrigens die Armenier zu sein, besonders die Flüchtlinge aus der Türkei, die des Chodjas Schwanke ja genau kennen. Noch bezeichnender aber ist folgendes: Im Jahre 1904 war ich in einem Sommerlager wandernder Schafhirten hoch oben in Thuschetien, um Materialien für das Batsische, eine tschetschenische Sprache1, zu sammeln. Da die Leute alle Georgisch sprechen und viele Angehörige des aufgeweckten, energischen und bildungsbedürftigen Völkchens es auch lesen und schreiben können, war es mir fast unmöglich, echtes Material zu bekommen. Endlich erklärte ein steinalter Mann, er könne mir Märchen erzählen. Ich schrieb und schrieb; aber es kam mir alles so bekannt vor. Als er mir aber schließlich Wort für Wort die Tellsage erzählte, wurde mir's zu bunt und ich sagte ihm auf[9] den Kopf zu, daß ich alles das schon wüßte und daß es nichts Echtes wäre. Der Mann aber blieb dabei, es wäre eine Erzählung, die er von den Alten gehört hätte in seiner Jugend. Erst später erinnerte er sich daran – ich zweifle nicht, daß er aufrichtig war –, daß er die Geschichte zu der Zeit, wo er in Thelaw in die Schule ging, in einem georgischen Büchlein gelesen habe! Auf einem ähnlichen, wenn auch nicht auf dem Buchwege, wird wohl die Sage von der »Schönen Helena« (Nr. 26) zu den Kabardinern gekommen sein, die als ein tscherkessischer Stamm sicherlich mit griechischen Kolonien am Nord- bzw. Ostufer des Schwarzen Meeres in mittelbare oder unmittelbare Berührung gekommen sind2.
Ich konnte mich nicht entschließen, in diesem Bande, der ein bei uns in Mittel- und Westeuropa so wenig bekanntes Gebiet wie den Kaukasus behandelt, nur reine Märchen zu geben und habe deshalb auch andere Gebiete der Erzählungsliteratur, wie Heldensagen, Tierfabeln, Schelmenstreiche, Schildbürgergeschichten u.a. berücksichtigt. Meine Quellen habe ich überall angegeben, trotzdem diese teils der Sprachen wegen, teils wegen ihrer Unauffindbarkeit hierzulande nur ganz wenigen zugänglich sein werden. Aber aus demselben Grunde habe ich auch eine Übersetzung der Titel der Quellen weggelassen. Die Titel der Märchen habe ich teils selbst gewählt, teils übernommen. Die Übersetzungen sind so wörtlich, als sich dies mit der Lesbarkeit und dem Geiste der Originalsprachen verträgt. Die Völkernamen hätte ich gerne in ihrer richtigeren, kürzeren Form (z.B. ossisch, swanisch) gegeben, habe aber, um nicht pedantisch zu sein, davon abgesehen. Die Herkunftsangaben sagen selbstverständlich nichts über die Verbreitung des betreffenden Märchens, sondern nur, daß es eben aus der angegebenen Sprache stammt. Von manchem[10] Stück hätten zwei, drei räumlich ziemlich weit auseinanderliegende Varianten gegeben werden können. Über die Transkription ist wenig zu bemerken; es handelt sich ja auch beinah nur um Namen, in denen j wie im Französischen, y als dumpfer ö-Laut zu lesen ist; ph, th und kh sind mit deutlicher Aspiration auszusprechen (also ph nicht als f). Die Tonsilbe ist durch einen Akut (´) hervorgehoben. Über die im Text vorkommenden Völkernamen und einige andere Ausdrücke findet der Leser das Nötige auf S. 290 f.
München, November 1919
Adolf Dirr
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1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.
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Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
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