Misrâ's.[356] 196
1.

Ruhm und Ehre, Leben, Habe,

Geb' ich alles hin.

Für die Augen meines Mädchens,

Dem so gut ich bin.


2.

So rot sind deine Lippen,

So weiss die Zähne dein,

Dass selbst darüber staunen

Des Himmels Engelein.


3.

Wenn der Duft aus deinen Locken,

Schönste, lieblich zu mir dringt,

Blüh' ich auf wie eine Rose

Morgens, wenn die Lerche singt.[356]


4.

O Briefchen, wie glücklich ist dein Geschick!

Du gehst zum Liebchen, ich bleibe zurück.


5.

Warum reicht ihr mir den Spiegel?

Ach, ich weiss es nur zu gut:

Meine Jugend, eingeäschert

Ist sie von der Liebe Glut.


6.

Höre, Freund, den guten Rat:

Traue nicht dem Feinde,

Der mit dir versöhnt sich hat,

So wie einem Freunde.


7.

Die Welt ist dunkel um mich her,

Seit ich von dir geschieden,

Bis deiner Schönheit Fackel mir

Bringt wieder Licht und Frieden.


8.

Die Blumen, die ich dir gesandt,

Hast du zurückgewiesen:

O, könnt' ich Sterne schenken dir

Dort von den Himmelswiesen!


9.

Komm, komm, dass ich dich küsse,

Mir träumte in dieser Nacht,

Du lägest tot im Grabe,

Voll Gram bin ich aufgewacht.


10.

O Meister, du hast meiner Liebsten Grab

Fürwahr zu fest gemacht:[357]

Da liegt sie nun für alle Zeit

In ewiger Grabesnacht.


11.

Dein Antlitz ist ein Buch, die Lippen

Sind seine Seiten, holdes Wesen!

Ich stürze nieder auf die Knie

Und fange an, das Buch zu lesen.

Quelle:
Seidel, A. (Hg.): Anthologie aus der asiatischen Volkslitteratur. Weimar: Verlag von Emil Felber, 1898, S. 356-358.
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