Zwölfte Erzählung.

In alten Zeiten da lebten einst vier reiche Kaufleute, die mit einander befreundet waren und in dem Lande Kabinla-Raxaxapchum ihren Wohnsitz aufgeschlagen hatten. Sie hatten vier Söhne, die mit einander umherreisten, um nach Frauen Zu suchen, und auf ihrem Wege nach dem Dorfe Chantakham kamen. In diesem Dorfe nun wohnten vier reiche Landbesitzer mit vier heiratsfähigen Töchtern, die entschlossen waren, nur einen durch Klugheit und Scharfsinn ausgezeichneten Mann für ihren Gatten zu nehmen. Die beiden Parteien trafen sich auf dem Wege, und sobald die Jünglinge die Mädchen sahen, entbrannten sie in Liebe, gingen zu ihnen hin und fragten sie, wo sie lebten. Die Damen antworteten in einem Räthsel. Eine derselben strich mit der Hand über das Haupthaar, die andere strich ihre Augenbrauen, die dritte strich ihre Brust und die vierte strich ihre Kleider. Dann sagten sie: »Kommt zu unserem Dorf«, und gingen fort. Als der Abend gekommen war, gingen die Jünglinge zu dem Dorfe Chantakham, um nach ihren Geliebten zu suchen, aber sie konnten dieselben nirgends sehen noch finden und waren in großer Verlegenheit, was sie thun sollten. Sie standen auf der Straße und verleihen sich zusammen in der Nähe eines Verbrechers, der dort an demselben Tage gepfählt, aber noch nicht gestorben war. Der Räuber rief sie an und fragte: »Ihr vier Herren spaziert hier umher und geht hierhin und dorthin, und dann steht ihr still und steckt Eure Köpfe zusammen; was bedeutet Alles dieses?« Die vier Burschen theilten dem Räuber ihre Lage mit und erzählten ihm Alles, was vorgefallen war. Der Räuber erwiederte: »Bringt mir ein wenig Wasser. Wenn ich getrunken habe, werde ich Euch die Sache auslegen und Euch andeuten, wo Ihr die Damen finden könnt.« Die jungen Leute gingen um Wasser zu holen und gaben es dem Räuber, der, nachdem er getrunken hatte, in folgender Weise sprach: »Vor dem Hause des Mädchens, das ihr Haar mit der Hand strich, steht eine Oelpresse, vor dem Hause des Mädchens, das ihre Augenbrauen1 strich, steht eine Bohnenpflanzung, vor dem Hause des Mädchens, das ihre Brüste strich, wachsen Kürbisse,2 und vor dem Hause des Mädchens, das ihre Kleider strich, steht ein Webestuhl. So verhält es sich mit diesen pantomimischen Hieroglyphen.« Die Jünglinge folgten dann der ihnen von dem Räuber gegebenen Anleitung und fanden richtig die Mädchen, wie es ihnen gesagt worden war. Die vier Damen befragten sie darauf und sagten: »War es Euer eigener Scharfsinn, der dieses Räthsel löste, oder wurdet Ihr durch Jemand Anders darin unterstützt?« Die Jünglinge erwiederten: »Wir suchten nach Euch eine lange Zeit, aber vergebens und ohne Erfolg, bis wir zuletzt glücklicherweise den Räuberhauptmann trafen, der dort für seine Verbrechen aufgepfählt ist. Er gab uns den Schlüssel zu dein Räthsel, und so fanden wir Euch.« Die vier Damen erwiederten: »Wir glaubten, es wäre Euer eigener Scharfsinn gewesen, und wir wußten nicht, daß Ihr eines andern Mannes Hilfe bedurftet, um Euch zu erleuchten.« Und dann fügten sie hinzu: »Kommt und laßt uns erst den Räuber aufsuchen, wir mögen nachher hierher zurückkommen.« Als die Damen von den vier Jünglingen zu dem Räuber geleitet worden waren, wandten sie sich an ihre Begleiter und sagten: »Eure Gnaden, Ihr Vier, seid ziemlich traurig versehen, was den Verstand anbetrifft. Wir laden Euch deshalb ein, abzumarschiren und zu verdunsten.« Die vier Mädchen gingen dann eifrig daran, den Räuber von dem Pfahle abzunehmen, an dem er aufgesteckt war, und sich gegenseitig unterstützend, trugen sie ihn fort und brachten ihn nach ihrem Hause. Dort legten sie ihn nieder und beschäftigten sich eifrigst, seine Wunden zu heilen. Eines der Mädchen unternahm es, Wasser zu holen, das Essen zu kochen und alles Nöthige vorzubereiten. Ein anderes holte die Medicinen und bereitete sie. Die Dritte reichte ihm, was er bedurfte, und die Vierte war damit beauftragt, ihn zu unterstützen, wenn er aufsaß, oder ihn niederzulegen. Als der Räuber durch ihre gemeinsamen Bemühungen genesen war, erhob sich ein Streit unter den vier Damen, da Alle ihn als ihren Gatten in Anspruch nahmen und Jede ein Recht auf ihn zu besitzen glaubte. Wessen Recht ist nun das beste und wem sollte er als Gatte zuerkannt werden? »Wohlauf, Madame der Vorhang, lassen Sie uns hören, wie Sie diese Streitfragen entscheiden würden!« Und der Vorhang ohne Zaudern rief frisch und fröhlich aus und schrie mit lauter Stimme: »Das ist leicht und einfach genug. Ich werde das sogleich auf das Richtigste entscheiden, ohne daß ein Zweifel übrig bleibt. Die Dame, die den Reis kochte und ihm zu essen gab, das ist sie, die muß ihn kriegen.« Der Prinz erwiederte lächelnd: »Ei, ei, meine liebe Madame der Vorhang, Sie thaten anfänglich etwas dick und prahlten, die unzertrennliche Gefährtin Ihrer königlichen Hoheit, der Prinzessin, zu sein und alle die Gedanken und Ansichten Höchstderoselben zu kennen. Aber würden Sie dann Räthsel in solcher Weise lösen und so verkehrtes Zeug schwatzen? Sie sind vollständig auf dem Holzwege, und es ist in der That ein Schimpf und eine Schande für Ihre Hoheit, die Prinzessin, meine Cousine in fürstlichen Gnaden.« Als die Prinzessin diesen jämmerlichen Schnitzer hörte, den der Vorhang in der Ausdeutung der Erzählung gemacht hatte, schwoll ihr Herz in Zorn, und sich emporhebend, zerriß sie den Vorhang in tausend Stücke. Dann sagte sie: »Da ist weder Sinn noch Verstand in diesem Vorhang. Wie kannst Du erbärmlicher Schlucker von Vorhang solch stupiden Unsinn hervorbringen? Diejenige Dame, die ihn unterstützte im Aufsitzen und die ihn niederlegte, und die beständig[154] um ihn war, die muß seine Frau werden. Das ist der richtige und angemessene Weg.« Als die Soldaten und Wärter, die in den Thurm als Wächter für die Nacht gesetzt waren, die Prinzessin sprechen hörten, fingen sie an, ihre Musik aufzuspielen, und alle Instrumente brachen los unter dem Rühren der Trommeln und dem Blasen der Trompeten, und als König Phitsaxumaharat die Instrumental-Musik vernahm, horchte er freudig auf und dachte bei sich: »Ob die Prinzessin gesprochen haben sollte?«

Als die zweite Nachtwache kam, wandte sich der Prinz an seinen Milchbruder und sagte: »Die erste Wache ist vorbei. Unser guter Vorhang hat sich traurig genug blamirt im Räthselerrathen und hat seine gerechte Strafe empfangen. Wenn wir nun eine andere Geschichte erzählten, wer würde es unternehmen, dieselbe zu deuten?« Der Milchbruder beschwor dann seine Seele und ließ sie in die Nachtlampe fahren, die alsogleich munter und lustig ihre Antwort hervorschrie: »Was versteht der Vorhang von solchen Dingen. Ich bin es, ich allein, der die Ehre hat in beständiger Begleitung Ihrer königlichen Hoheit, der Prinzessin, zu verweilen. Wollen Eure Gnaden gefälligst beginnen und Ihre Geschichte erzählen. Ich werde sogleich das Richtige errathen.« Der Prinz sagte dann: »Sehr wohl, wir werden unsere Geschichte der Lampe erzählen. Aber der Sinn muß richtig und fehlerlos errathen werden.« Die Lampe erwiederte: »Fürchtet Nichts! Alles nur richtig und echt. Möge der Prinz nur beginnen. Meine Geduld ist auf das Höchste gespannt, zu lauschen. Ich errathe stets sogleich das Richtige, ohne jemals Fehler zu machen.« Der Prinz erzählte dann in der folgenden Weise:

Fußnoten

1 Khiu heißen die Augenbrauen (im Siamesischen) und Thua Peb Khiu ist die Bohnenpflanze.


2 Nam-Tao ist ein Kürbis und Phra-Tao ist der Busen (im Siamesischen).


Quelle:
Bastian, Adolf: Ein siamesisches Märchen. In: Globus # (Sept. 1866), S. 155.
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