15. Die mythologische Bedeutung der Sagen.

Von den vorstehenden Sagen können nur wenige als rein kurdische gelten; denn ausgenommen die von Siamandò und Xğesarē, Sevahağē und vielleicht auch Hamutē Schankē, tragen sie das Gepräge orientalischer Märchen, in denen sich uralte Anschauungen des Morgenlandes deutlich widerspiegeln. Im besonderen gehören hierher die Astralmythen, die man in zwei Hauptgruppen scheiden kann: die Sonnen- und Mondsagen und die Sonnenmythen. Der Kultus der Himmelsgestirne scheint die erste Religionsstufe eines jeden Naturvolkes gewesen zu sein. Hohe Verehrunng genossen der Sonnengott (Šamaš) und der Mondgott (Sin) bei den alten Babyloniern, deren Gestirnenreligion die Weltanschauung der späteren Geschlechter für unabsehbare Zeit bestimmt hat. Die jüngsten Ausgrabungen in Babylonien förderten zahlreiche Tempel zutage, die der Sonne und dem Mond geweiht waren; auch in den religiösen Keilschrifttexten nehmen beide Gottheiten einen Ehrenplatz ein. Die ältesten Kultusstätten des Mondgottes waren in Uru (der heutigen Trümmerstätte el-Mugeir) und in Xarran (in Mesopotamien), die des Sonnengottes in Barsa und in Sippar (den heutigen Ruinen Senkereh und Abu Habba). Der Mondgott wurde als ›Vater‹ mit langem Bart, auch als ›junger Stier‹ mit grossen Hörnern bezeichnet. Seine Gemahlin hiess Ningal und seine Tochter Ištar (Venusstern). Andererseits galt Nergal (sonst Sommerglutsonne und der Planet Mars) als Gott des abnehmenden Mondes, der mit Sin, der zunehmenden Mondsichel, die grossen Zwillinge bildet. Šamaš wurde ebenfalls als männliche Gestalt gedacht, während in Südarabien die Sonne weiblich ist. Dass der Mond einige Tage verschwindet und dann allmählich seine frühere Grösse wieder erreicht, dass die Sonne abends versinkt und frühmorgens wieder erscheint, dass sie ihre Kraft im Winter verliert, hinter schwarzen Wolken verborgen bleibt und erst mit Anfang des Frühlings wieder ihren Glanz erreicht, dies alles muss stark auf die Phantasie aller Völker einwirken. Das eine Gestirn stellt die Dauer des Tages und der Jahreszeiten, das andere die des Monats fest. Daher finden wir bei den Babyloniern beide in ihren Hauptphasen streng unterschieden; man verehrte Šamaš als Frühjahrs-(Morgen-)sonne, Sommer-(Mittag-)sonne, Herbst-(Abend-)sonne und Wintersonne, und der Mond wurde in abnehmende und zunehmende Gottheiten geteilt. Mit den Gestirnkulten aber waren zahlreiche Mythen verknüpft. Es muss schon[76] in der Urzeit eine Periode gegeben haben, wo die religiösen Mythen auf die Menschen übertragen wurden und allmählich in Heldensagen übergingen. Die Gottheit wurde ein Halbmensch, der Mythus eine Erzählung von Helden. Diese Übergangsperiode stellen noch jetzt die orientalischen Märchen dar; derselbe Held, der die Sonnengottheit vertritt, vollführt seine Taten mit Hilfe derselben. Gleichzeitig muss auch die Nationalisierung der Astralmythen, d.h. ihre Übertragung auf Nationalhelden, wie wir sie bei den Griechen, Römern, Persern, Armeniern u.a. finden, stattgefunden haben.

Die Sonnen- und Mondsagen zerfallen in zwei Gruppen; in einer sind Sonne und Mond als zwei Brüder (Zwillinge), in der zweiten als Schwester und Bruder gedacht. Dioskurensagen begegnen uns bei allen Völkern des Altertums, bei den Hebräern (Kain und Abel, Jakob und Esau), bei den Griechen (Dioskuren), Römern (Romulus und Remus), Germanen (Baldur und Hödhr). Der eine Bruder als Mond stirbt (Abel, Remus, Agamemnon, Harmodios) oder wird als Blinder vorgestellt (Hödhr). Der Einfluss dieses Sagenkreises lässt sich auch in den kurdischen Erzählungen von Qülleq und Kiaro, Dalu Hamza und Dalu Mehmet erkennen. Qülleq stirbt, Dalu Hamza schläft infolge der Zauberkunst der Hexe drei Tage lang, um wieder aufzuerstehen.1 Zu den Sagen, in denen die Sonne weiblich und der Mond männlich[77] dargestellt wird, gehört eine armenische Überlieferung, nach der einst die Geschwister Sonne und Mond im Flusse badeten. Der Mond wollte die schöne Schwester nackt sehen und tauchte aus dem Wasser auf; die Schwester aber erriet seine Absicht und flog gen Himmel; der Mond setzte ihr nach, ohne sie erreichen zu können; die Sonne aber sticht mit ihren Strahlen jeden, der ihre Nacktheit anzuschauen sucht. Ebenso werden in der schönen arabischen Erzählung von Laila und Medjnun (oben 15, 328) die beiden Liebenden zu zwei Sternen, die getrennt im Kreise herumziehen. Vielleicht liegt dieser Astralmythus auch der gleichfalls aus Arabien stammenden Sage von Mamo und Zinē (oben 16, 35. 402) zugrunde: Mamo wird in die Grube geworfen und stirbt, worauf ihm seine Geliebte in den Tod folgt; die beiden aus ihrem Grabe hervorwachsenden Blumen entsprechen den zwei Sternen.

Auch die alten Armenier erzählten von der verhängnisvollen Liebe der assyrischen Königin Šamiram (Semiramis) zu dem armenischen Könige Ara dem Schönen; als der König Ninos nach Kreta geflohen war, sandte Šamiram Botschaft zu Ara, er solle entweder sie heiraten oder sie besuchen und dann heimkehren. Als Ara diese Forderung stolz abschlug, zog Šamiram mit einem Heer nach Armenien und lieferte ihm auf dem Felde Airarat eine Schlacht, in der Ara fiel, obwohl die Königin befohlen hatte, ihn lebend zu fangen. Sie liess seinen Leichnam in den Oberstock ihres Palastes legen und verkündete den Armeniern, die ihren König rächen wollten, sie hätte den Göttern geboten, seine Wunden zu lecken, und er werde wieder erwachen. Als aber ihre Zauberei misslang und der Leichnam verfaulte, befahl sie, ihn in eine grosse Grube zu werfen und diese zuzudecken; dann schmückte sie einen von ihren Liebhabern und verkündete, die Götter hätten den Ara geleckt und ihn wieder belebt.2 Ara entspricht seinem Wesen nach der Mondgottheit, wie ja nach Plato3 die Armenier von dem auferstandenen Er (ἦρ = Ara) erzählten; die liebeheischende Semiramis aber verkörpert die brennende Sonne. Dafür sprechen die von Moses von Chorēne S. 88 angeführten Volksüberlieferungen ›vom Tode der Šamiram, von ihrer Flucht zu Fuss, von dem Durst, von dem Trinken, von dem Einholen der Schwertträger, von den ins Meer geworfenen Zauberkorallen und von dem Liede darüber: Die Korallen der Šamiram ins Meer‹. Denn die dem Meer nahende, daraus trinkende, mit strahlenden Korallen gesckmückte Šamiram gleicht der ins Meer tauchenden Sonne.

Die besonderen Mondsagen sind verhältnismässig selten, da sie wahrscheinlich von den Sonnenmythen verdrängt worden sind oder sich derart mit ihnen verschmolzen haben, dass sie nicht mehr wiederzuerkennen sind. Vielleicht gehört hierher die noch heute in der armenischen Kirche[78] übliche Darstellung des Moses mit zwei Hörnern auf der Stirn und die Erzählung vom gehörnten Alexander dem Grossen. Und eine Spur des Mondkultus ist der orientalische Volksglaube, dass der wachsende Mond jedem Unternehmen Glück und der Krankheit Heilung verheisse, und der Brauch, die auf dem Wege gefundenen Hörner und Hufeisen als Glückstalismane aufzubewahren.

Viel grössere Verbreitung haben die Sonnenmythen. Schon im grauen Altertum ward die Sonne als ein heilbringender Held gepriesen, der die Menschen von einem Ungeheuer (der Finsternis und dem Winter) befreit. Die Frühsonne wurde in den Dichtungen als ein Knäblein in einem auf dem Wasser schwimmenden Kasten bezeichnet. Und der assyrische König Sargon von Agade4 erzählt von seiner Geburt5: »Ich bin Šarrukin, der mächtige König, König von Agade. Meine Mutter war aus edlem Geschlechte, mein Vater ist unbekannt, der Bruder meines Vaters aber bewohnte das Gebirge. Meine Stadt ist Azupirānu, am Ufer des Euphrat gelegen. Meine Mutter aus edlem Geschlechte empfing mich, und im Verborgenen gebar sie mich. Sie legte mich in einen Kasten von šuru und verschloss ..... mit Erdpech. Sie warf mich in den Fluss, welcher nicht hoch war. Er trug mich weg und brachte mich zu Akki, dem Wassergiesser. Akki der Wassergiesser hob mich auf, zog mich zum Knaben auf. Er machte mich zum Gärtner.« Derselbe Mythus ist bei den Hebräern auf Moses übertragen worden; und so wird auch Načar Ogli (oben 16, 411) in einem Kasten gefunden und zum Knaben aufgezogen; sein Vater ist ebenfalls unbekannt. Von der Geburt des Sonnengottes Vahagn sangen die alten Armenier nach Moses von Chorēne6 das folgende Lied:


»In Geburtswehen lagen Himmel und Erde,

In Geburtswehen lag auch das purpurne Meer;

Geburtswehen im Meere hielten ein Schilfrohr ergriffen.

Aus der Kehle des Schilfrohres stieg Rauch auf,

Aus der Kehle des Schilfrohres stieg Flamme auf,

Aus der Flamme lief ein Knäblein hervor,

Es hatte Feuer als Haar,

Es hatte Flamme als Bart,

Und seine Augen waren Sonnen.


Wir haben selbst mit unseren Ohren gehört, wie manche dies mit Begleitung des ›Bambiren‹ sangen. Weiter trug man im Liede vor, dass er (Vahagn) mit Drachen kämpfte und diese besiegte.«

In den Heldentaten des Knaben, der seine Gefährten überwältigt, ist die zunehmende Kraft der Sonne zu erkennen. Das Sitzen des Helden in der Grube, in die er von dem Feinde (oder seinen Brüdern) geworfen wird, ist das beliebte Motiv der morgenländischen Sagen von Joseph (im[79] Koran), von Rustem und Bejan bei den Persern, von Artavazdes und Mher bei den Armeniern, von Iliya bei den Russen. Nach dem Zeugnis Ezniks7 erzählte man von Alexander dem Grossen, dass er von Divs gefesselt gehalten ward. Načar Ogli kann als ein Typus dieser Sagengruppe gelten, in der der Held, nachdem er ein Ungeheuer erschlagen, die Schöne befreit und aus der Grube heraussteigt. In dieser verbreiteten Erzählung ist die Darstellung des Sieges der Frühsonne über die Finsternis oder den Winter und die Befreiung der Erde von der Kälte zu sehen; der Held besteigt ein Feuerross oder einen Feuervogel, um in die ›Helle Welt‹ zu gelangen, d.h. die Sonne gelangt wieder zu ihrer Kraft. – Zu demselben Sagenkreise gehört das Märchen von dem versteinerten Reiche. Der Held tötet den Drachen (Hexe, Ungetüm), bespritzt mit dessen Blut die Steine und macht diese wieder zu lebenden Menschen (vgl. Ĝathl Ĝahraman, oben 15, 393 f.). Von seinem Kuss erwacht die schlafende Schöne, die Königstochter, die der Held heiratet.

In der Rolle des Weltbefreiers erscheint bei den Babyloniern der Sonnengott Marduk, der deswegen als Herrscher über das ganze All und als neuer Weltschöpfer verherrlicht wird. Er zieht gegen die Göttermutter Tiamat, die im Bündnis mit Riesenschlangen, Drachen, Molchen sich gegen die neue Göttergeneration empört. Marduk, mit ›Lichtflut‹ bewaffnet, besiegt sie und schlägt ihren Leichnam in zwei Stücke.

Eine Parallele dazu bietet die Sage von einem löwenartigen Ungetüm namens Labbu, das einer von den Göttern erlegt, der in einer Wolke vom Himmel herabsteigt. – Eine dritte Sage bezieht sich auf den Sturmvogelgott Zû, den ein Gott tötet und ihm die von demselben geraubten Schicksalstafeln entreisst8. Wahrscheinlich liegt allen drei Mythen der Kampf des Lichtgottes Marduk mit einem Ungeheuer (der Finsternis) zugrunde.


Die aus uralten Trümmern wieder zum Leben gerufene Weltanschauung der Babylonier ist eine Entdeckung der jüngsten Zeit, und ein Versuch, diese mit unseren Anschauungen in Zusammenhang zu bringen, muss mit grosser Vorsicht ausgeführt werden; denn der, Zusammenhang der Kultur des alten Orients mit der klassischen und unserer Welt lässt sich nicht verfolgen. Deshalb begnügte ich mich mit einem Hinweise auf einige Hauptzüge unserer Sagen, die sich aus den Astralmythen des alten Orients erklären.

1

Bei den Babyloniern war der folgende Dioskurenmythus, in welchem auch die Schwester der Dioskuren, Ištar, erscheint, im Umlaufe (P. Haupt, Das babylonische Nimrodepos 1884. 1891. Deutsch bei Jensen, Keilinschriftliche Bibliothek 6, 1, 116–265). Gilgameš, der Herrscher von Erech (zwischen Nord- und Südbabylonien), sieht in mehreren Traumbildern, die seine Mutter deutet, den Helden Ea-bani (nach Zimmermann und Jensen KB. 1, 425. 571 Bel-Kullati oder Bel-Kiššati = Herr der Allheit zu lesen) als seinen künftigen Freund. Dieser, der in der Steppe unter wilden Tieren haust, wird durch eine Dirne zu Gilgameš gelockt; beide schliessen Freundschaft und unternehmen einen Zug nach dem heiligen Zedernwald, dem Wohnorte der Göttin Irnira-Ištar. Der von Bei bestellte Wächter Chumbaba, der jeden durch seine Stimme in Schrecken setzt, wird im Kampfe erschlagen. Als Gilgameš die Liebe der Göttin Ištar verschmäht, bittet sie ihren Vater Anu, einen Himmelsstier zu schaffen, der Gilgameš vernichten soll. Allein der Held erlegt mit Hilfe Ea-banis den Stier und bringt dessen Hörner seinem Gotte Lugalbanda als Weihgeschenk dar. Darauf stirbt Ea-bani. Um Unsterblichkeit zu erlangen, begibt sich Gilgameš zu seinem unter die Götter versetzten Ahnen Ut-Napištim; auf den Rat eines Skorpionmenschen zieht er durch die Mašu-Berge und erreicht den an der Meeresküste gelegenen ›Götterpark‹. Hier ›auf dem Thron des Meeres‹ sitzt die Göttin Siduri-Sabitu, die auf die Frage der Helden, wie er zu Ut-Napištim gelange, antwortet: »Über das Meer ging (nur) Šamaš, der Gewaltige; wer ausser Šamaš geht hinüber?« Doch mit Hilfe eines Schiffers erreicht Gilgameš die ›Wasser des Todes‹, den Wohnsitz seines Ahnherrn. Dieser schildert ihm die Sintflut und lässt ihn auf seine Bitte durch den Schiffer zum ›Waschort‹ bringen; dort muss Gilgameš sich waschen, ein neues Gewand und eine neue Kopf binde anlegen und dann heimkehren. Um das stürmische Meer zu beruhigen, taucht er auf den Rat des Ut-Napištim unter und schneidet auf dem Meeresboden ein Wunderkraut ab, das Greise wieder jung zu machen vermag. Dann weist ihm eine Schlange den Weg. In Erech angelangt, bittet Gilgameš den Gott Ea, ihn mit Ea-banis Geist zusammenzuführen. Dieser gebietet dem Gotte des Totenreiches Nergal, Ea-banis Geist aus der Erde emporzusenden, der nun seinem Freunde Gilgameš das Totenreich beschreibt. Damit schliesst das Epos.

2

Moses von Chorēne, Geschichte Armeniens (Venedig 1881) S. 75–77.

3

Plato, De republica X, 614 B. Ara bedeutet im Persischen den ›Schönen‹.

4

Nordbabylonien. Sargon regierte um 2800 v. Chr.

5

Rawlinson, The cuneiform inscriptions of Western Asia, Vol. III, 4. 7.

6

Moses von Chorēne S. 127 f.

7

Eznik, Gegen die Ketzereien, Paris 1860, S. 100.

8

King, Cuneiform Texts from Babylonian Tablets, Vol. VIII. In deutscher Übersetzung von Jensen, Keilinschriftliche Bibliothek, Bd. VI.

Quelle:
Chalatianz-Kurden 17, S. 76-80.
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