Das Gottesurtheil.

[433] Ein vornehmer Fürst, der zum Statthalter der Provinz Hiuga auf der Insel Kiuschiu ernannt war, wurde – wie man im Volke allgemein annahm, ohne Grund – durch Angeber angeklagt, er habe Hochverrath anzetteln wollen, und wurde in Folge dessen enthauptet. Wie dies in vielen Fällen ehedem geschah, wurde sein Kopf auf einen Pfahl gesteckt und zur Warnung Anderer am Wege ausgestellt.

Der Statthalter war aber bei den Seinigen sehr beliebt, und so währte es gar nicht lange, bis einer derselben das Haupt des Hingerichteten fortnahm und es ehrenvoll bestattete. Die regierenden Herren waren darüber sehr ergrimmt, und so ward eine strenge Untersuchung eingeleitet. Die Richter waren indessen lange Zeit völlig rathlos, bis ein Soldat, Namens Yena Iman, sich bei ihnen meldete und berichtete, ein alter Diener des Enthaupteten, Saito, habe, wie er selber gesehen, das Haupt entwandt. Saito ward sogleich vor den Gerichtshof gefordert, wußte aber so manches zu seiner Vertheidigung anzuführen, daß die Richter trotz der bestimmten und durch heilige Betheuerungen erhärteten Aussage des Yena Iman gänzlich an seiner Schuld irre wurden. In dieser Verlegenheit entschieden sie, es solle auf ein Gottesurtheil ankommen, und zwar solle dasselbe in der bei solchen Gelegenheiten üblichen Feuerprobe bestehen. Beide, der Ankläger wie der Beschuldigte, wurden einander gegenüber gestellt und nochmals befragt, ob sie ihre Behauptungen durch unerschrockenes Ergreifen eines rothglühenden Eisenstabes erhärten wollten. Beide bejaheten dies, und so nahm erst der Angeklagte, Saito, das Eisen in die Hände, das ihm nichts zu Leide that; als man es aber darauf dem Yena Iman reichte, verbrannte es ihm seine Hände auf jämmerliche Weise.

So war Saito glänzend gerechtfertigt und ward freigesprochen; das Volk aber war sehr darüber in Zweifel, ob er[434] wirklich an dem Entwenden des Hauptes unschuldig war, oder ob ihn die Götter vielleicht deshalb beschirmten, weil er durch das Herabnehmen und Bestatten des Hauptes seines unschuldig ums Leben gebrachten Herren eine fromme und lobenswerthe Handlung verübt hatte, während Yena Iman aus niedriger Gesinnung handelte und deshalb bestraft ward.

Quelle:
Brauns, David: Japanische Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1885, S. 433-435.
Lizenz:
Kategorien: