[435] Man erzählt in Japan viel davon, daß manchen Menschen die Kraft inne wohnt, mit ihrem Blicke Andere zu bannen, sie gleichsam durch Zauberkraft zurückzuhalten und zu lähmen. Das berühmteste Beispiel dieser Art berichtet man von einem Hofadligen aus alter Zeit, aus dem elften Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, Namens Yasumasa. Dieser Yasumasa gehörte einem sehr erlauchten und durch treue Anhänglichkeit an die Kaiserfamilie ausgezeichneten Hause, dem der Fujiwara an, einem Hause, aus welchem die alten Herrscher sehr oft ihre obersten Minister, manchmal aber auch ihre Gattinnen wählten. Yasumasa hätte daher wohl auf die höchsten Aemter Anspruch machen können; er begnügte sich indessen mit dem eines kaiserlichen Stallmeisters, das ihn in stete, nahe Berührung mit seinem geliebten Monarchen brachte, und damit war sein Ehrgeiz befriedigt.
Eines Abends, es war tief im Winter, und die Wege waren menschenleer und verlassen, ging dieser Herr Yasumasa vor den Thoren der Stadt Kioto spazieren, indem er von Zeit zu Zeit die Flöte blies, worin er große Geschicklichkeit erlangt hatte, um sich damit bei der einsamen Wanderung die Zeit zu vertreiben. Da bemerkte ihn von einem Schlupfwinkel aus einer der gefährlichsten Straßenräuber jener Zeit, der riesenstarke[435] Hakamadare. Derselbe hielt den schlecht bewaffneten Spaziergänger für eine leichte und willkommene Beute und meinte auch wohl, er werde denselben ohne Mühe in Schrecken versetzen, und es werde gar keines Kampfes bedürfen, um in den Besitz von dessen Barschaft zu gelangen. Mit gezücktem Schwerte drang er auf Yasumasa ein und rief ihn an, er möge ihm sein Geld herausgeben: er hatte sich jedoch arg getäuscht und konnte demselben nicht einmal nahe kommen. Yasumasa brauchte nur sein Auge auf ihn zu richten, so stand er wider seinen Willen regungslos still. Er mußte sich abwenden und beschämt zurückziehen; so oft er wieder vorzudringen wagte, hielt ihn Yasumasa's Blick gebannt.
Nun dachte er, er wollte sich aus der Ferne heranschleichen und, wenn er nahe gekommen sei, von rückwärts einen gewaltigen Streich auf seinen Gegner führen; aber auch das gelang ihm nicht, denn Yasumasa's Auge blieb auf ihn geheftet, wohin er sich auch wenden mochte, und unablässig fühlte er die Gewalt des magischen Blickes. Yasumasa war dabei ganz ruhig geblieben und blies unbefangen, wie es ihm gefiel, seine Flöte.
Da begann endlich Hakamadare am ganzen Leibe zu zittern. Er warf sich dem Yasumasa zu Füßen und hob flehentlich die Hände zu ihm empor. Yasumasa überhäufte ihn nun mit den bittersten Vorwürfen ob seines verbrecherischen Lebenswandels. Er fragte nach seinem Namen, und als der Räuber denselben genannt, sprach Yasumasa: »Ich habe viel von deinen Thaten gehört und mich stets tief darüber betrübt, daß ein so tüchtiger und tapferer Mann wie du auf so schändliche Abwege gerathen ist. Müßtest du nicht vor allem danach trachten, mit deinen Gaben und deiner Kraft der Menschheit zu nützen, statt deine Nächsten in Schaden und Lebensgefahr zu bringen? Jetzt folge mir!« Willenlos that Hakamadare, wie ihm geheißen, und ging gesenkten Hauptes hinter Yasumasa drein bis in die Stadt und in dessen Haus. Hier befahl ihm Yasumasa, ruhig zu verweilen, bis er selber zurückgekehrt sei, und darauf begab er sich[436] zum Kaiser, erzählte diesem, was ihm begegnet, und erbat sich als besondere Gunst Hakamadare's Begnadigung so dringend, daß der Kaiser sie ihm bewilligte. Als er dies dem Räuber, der schon auf das schlimmste gefaßt war, verkündete und demselben zugleich sagte, er wolle ihn stets, so oft er in Noch geriethe, mit Rath und That unterstützen, falls er nur von seinem schändlichen Gewerbe ablassen und von Stund an ein redlicher Mensch werden wolle, da war Hakamadare fast noch mehr von Yasumasa's Großmuth, als durch seinen Zauberblick überwältigt. Thränen kamen ihm in die Augen; er gelobte kniefällig Besserung auf immer dar, und man sagt, daß er dies Gelöbniß treu bis an sein Lebensende hielt.