[193] Jingo Kogo war die Gattin des Kaisers Tschuai, des Sohnes des Yamatodake, der im Jahre 191 der christlichen Zeitrechnung den Thron Japans bestieg. Die Kaiserin Jingo war nicht nur überaus klug und fromm, sondern auch voll Thatenlust, und so ward sie von den Göttern zum Werkzeuge großer Unternehmungen ausersehen. Kaiser Tschuai, ihr Gatte, war im Begriffe, die Barbaren der Insel Kiuschiu, welche sich von neuem gegen die Kaisermacht empört hatten, zu bekriegen und wieder zum Gehorsam zu bringen, und hatte seinen Wohnsitz in einem seiner Paläste auf jener Insel, in der Stadt Kaschihi, aufgeschlagen. Die Kaiserin war mit ihm gezogen, und außerdem befand sich in seinem Gefolge ein sehr weiser, noch heutzutage vom japanischen Volke hochverehrter Minister Namens Takeutschi, der bereits von des Kaisers Oheim angestellt war, dessen Rathschläge aber auch Tschuai selber stets zu befolgen pflegte. Mit diesen beiden, mit der Kaiserin und dem Minister Takeutschi, saß der Kaiser eines Abends friedlich und ruhig beisammen und vergnügte sich mit dem Spielen des Koto1, als die Götter durch den Mund der Jingo Kogo wichtige Rathschlüsse kund gaben. Ganz plötzlich rief dieselbe dem Kaiser zu: »Es liegt ein Land im Westen, jenseits der See, ein Land voll Ueberfluß und herrlicher Schätze. Dies Land sei dein!« Tschuai aber nahm den Ausspruch der Götter nicht gläubig und willig hin; er spöttelte und erwiderte: »Steigt man auf einen noch so hohen Berg am westlichen Gestade, so sieht man nichts als Meer. Die Stimme, welche aus dir redet, verkündet unwahres!« Mit diesen Worten schob er den Koto von sich. Die Götter aber erzürnten darob und sprachen weiter durch der Kaiserin Mund: »Du willst dem göttlichen Gebote nicht folgen! Nun, so bist du auch nicht der[194] Mann, dies Land zu beherrschen – hebe dich weg!« Ueber diese Worte war der Minister Takeutschi sehr erschrocken. Er redete seinem Herrn und Gebieter zu: »Bitte, spiele weiter, o Kaiser!« Dieser zog auch, träg und niedergeschlagen, den Koto wieder zu sich heran und spielte einige Noten, aber schwach und immer schwächer, und bald verhallten die Töne ganz. Man kam mit einem Lichte herbei und sah, daß der Kaiser todt war.
Nun ward zuvörderst die Leiche feierlich bestattet, und sorgsam erfüllte man alle Reinigungsceremonien. Nachdem aber sämmtliche Sühnopfer und Gebete den Göttern und der Seele des Dahingeschiedenen nach Gebühr dargebracht waren, da befragte Takeutschi nochmals die Götter um ihren Willen. Der Ausspruch derselben lautete nicht anders, als ihn Jingo zuvor verkündet hatte. Die erhabene Sonnengöttin Amaterasu selber bestätigte ihn und fügte hinzu, daß die Kaiserin einem Prinzen das Leben schenken werde, welcher dermaleinst den Kaiserthron von Japan besteigen solle. Zunächst aber solle die Kaiserin Wittwe die Zügel des Reiches in die Hand nehmen und vor allen Dingen den Feldzug gegen Korea ohne Zögern beginnen. Auch schrieb sie vor, in welcher Art man nicht nur ihr selber und den übrigen Himmelsgöttern, sondern auch den Gottheiten des Landes und des Meeres Opfer darbringen solle. Vornemlich befahl sie, jenen drei Söhnen, welche Isanagi nach seiner Flucht aus der Unterwelt in dem Meere um Japan geschaffen habe, zu huldigen; ihnen zu Ehren solle man geweihte Stäbe oder Goheis2 an die Masten der Kriegsschiffe befestigen und eine besondere Gabe für sie opfern, nämlich Schläuche mit Asche vom Sumpfeibenbaum nebst Tellern aus Eichenblättern und hölzernen Eßstäbchen den Wogen anvertrauen. Die guten Folgen davon, so ließ Amaterasu verkünden, würden nicht ausbleiben.
Man kam allen diesen Weisungen aufs pünktlichste nach;[195] als aber die stattliche Flotte im Begriff war, auszulaufen, flehte die Kaiserin, welche den Oberbefehl selbst zu übernehmen beschlossen hatte, abermals zu den Göttern, sie möchten ihr noch ein günstiges Zeichen zu Theil werden lassen. Sie wolle, so sprach sie, in die Meeresfluth untertauchen, und wenn dann, sobald sie wieder daraus hervorstiege, ihr Haar wohlgescheitelt und in zwei gleiche Hälften getheilt sei, so wolle sie dies als eine Verheißung ansehen, daß sie den Feldzug glücklich zu Ende führen werde. Die Götter gewährten ihr diese Bitte, und zum Andenken daran trug sie fortan ihr Haar stets in solcher Weise gescheitelt.
So lange der Kriegszug dauerte, kleidete und wappnete sie sich ganz nach Männerart. Mit Umsicht und Weisheit erließ sie alle ihre Befehle, zunächst den, daß die Soldaten stets gute Mannszucht halten, sich nicht der Beutesucht überlassen und Milde gegen den besiegten Feind üben sollten.
Als nun die Flotte sich in Bewegung gesetzt, da schwammen, von den durch die Opfer erfreuten Meeresgöttern herbeigesandt, zahllose Fische, große und kleine, von allen Seiten herbei und verursachten eine außerordentlich hohe Fluthwelle. Und diese Welle trug das Schiff der Kaiserin, dem die übrigen – man sagt, dreitausend an der Zahl – paarweis folgten, bis mitten in das Land Schiraki, in die schönste und mächtigste Provinz des verheißenen Landes Korea.
Der König von Schiraki erschrak darüber gar sehr und bat demüthig um Gnade. Er gelobte der Kaiserin Jingo unverbrüchlichen Gehorsam und versprach, Jahr aus, Jahr ein Schiffe und Pferde den Japanern zu stellen. Jingo Kogo nahm ihn in Eid und Pflicht und ebenso den Herrscher von Kudera, einer anderen großen Landschaft Koreas, die im Westen an Schiraki grenzt. Zum Andenken an ihre Siege pflanzte sie ihren Speer auf das Thor der Residenz von Schiraki und stellte das Land unter die Obhut der drei Meeresgötter, der Söhne Isanagis, welche bei der Ueberfahrt und bei der Eroberung des[196] Landes so wesentliche Dienste geleistet hatten. Nachdem sie ihnen einen Tempel errichtet und eingeweiht, kehrte sie heim.
Inzwischen aber hatte sie Sorge getragen, daß sie in ihrem Siegeslaufe nicht durch die Geburt des Prinzen, welcher nach dem Ausspruche der Göttin ihr Nachfolger auf dem Throne werden sollte, behindert würde. Sie hatte zu diesem Behufe einen Stein genommen und in ihren Gürtel gethan und so mit Hülfe der Götter die Geburt drei Jahre verzögert. Der Knabe, nachmals Kaiser Ojin genannt, erblickte in Folge davon erst nach ihrer Rückkehr von Korea auf der Insel Kiuschiu das Licht der Welt, und dort wird auch bis auf den heutigen Tag der Stein aufbewahrt, den die Königin im Gürtel getragen.
Nach der Geburt des Prinzen begab sich die Kaiserin auf die Reise nach ihrer Residenz in der Provinz Yamato, die sie seit ihres Gatten Tschuai Tode nicht wieder betreten hatte.
Sie hatte aber bereits gerüchtweise vernommen, daß zwei ältere Söhne Tschuai's ihrem Kinde feindselig gesinnt seien, und so trat sie die Reise nicht ohne schwere Sorgen an. So kam es, daß ihr unterwegs, noch auf der Insel Kiuschiu, als sie mit ihrem Gefolge an einem kleinen Bache lagerte und ihr Mittagsmahl hielt, der Gedanke kam, die Götter abermals um ein gutes Vorzeichen anzugehen. Sie warf die Angelruthe in den Bach, in welchem die kleinen, blauen Fischchen, die man in Japan Ayu nennt, sich in großer Zahl herumtrieben. Statt des sonst gebräuchlichen Köders nahm sie jedoch ein Reiskorn, und als sie es an den Angelhaken befestigte, sagte sie: »Wenn eins der Fischchen an diesen ungewohnten Köder beißt, so soll mir das ein Zeichen sein, daß die Götter mich auch aus allen ferneren Gefahren gnädig erretten wollen!« Und kaum hatte sie die Angelruthe ins Wasser gesenkt und diese Worte gesprochen, so biß auch schon ein Fischlein an, und hocherfreut und mit festem Vertrauen auf der Götter Hülfe setzte Jingo ihre Reise fort.
Dennoch kehrten ihre Besorgnisse wieder, als sie die Kunde vernahm, daß ihre beiden Stiefsöhne, Oschikuma und Kagosaka,[197] die Herrschaft an sich zu reißen trachteten und schon viel Volk auf ihre Seite gebracht hätten. Als sie diese Nachricht erhalten, trug sie vor allen Dingen Sorge, ihres Sohnes Ojin Leben zu sichern, und deshalb sprengte sie das Gerücht aus, derselbe sei bald nach seiner Geburt gestorben. Ein Trauerschiff mit aufgebahrtem Sarge machte diese Mär noch glaubhafter; in diesem anscheinenden Trauerschiffe war aber ein ganzer Trupp von Kriegern versteckt.
Die beiden älteren Söhne Tschuai's hatten unterdessen den Plan gefaßt, der Kaiserin bei ihrer Landung in Yamato einen Hinterhalt zu legen. Ihr Heer lagerte bei Settsu, und während sie hier die Ankunft der Jingo erwarteten, beschlossen sie eines Tages, ins Moor auf die Jagd zu gehen, und vermeinten, dabei vielleicht auf ein günstiges Vorzeichen zu stoßen. Allein die Jagd fiel sehr unheilvoll aus. Dem Prinzen Kagosaka begegnete ein so gewaltiger Eber, daß er erschreckt auf einen Eichbaum kletterte; diesen aber grub der Keiler mit seinen Hauern aus, und als der Prinz nun mit dem Baume zu Boden stürzte, tödtete und fraß ihn der Eber. Oschikuma vernahm die Kunde mit tiefer Trauer; allein statt sich warnen zu lassen, zog er dennoch aus, um dem Gefolge der Jingo aufzulauern. Als nun zunächst das Trauerschiff anlangte, hatte Niemand aus demselben arg; allein grade aus ihm stieg eine große Zahl von Bewaffneten ans Land und begann den Kampf mit Oschikuma's Streitmacht. Unter ihrem Schutze landeten die übrigen Krieger des Heeres der Kaiserin, und es entspann sich ein hartnäckiger Kampf. Anfänglich trieb zwar das Heer der Jingo das des Oschikuma zurück; dann aber brachte dessen tapferer Feldherr Isahi das Gefecht zum Stehen und keine der streitenden Parteien vermochte zu siegen. Da brachte der Führer des Heeres der Kaiserin eine Kriegslist, die er sich schon vorher ausgedacht, zur Ausführung; er ließ sagen, Jingo Kogo sei todt, er selber wolle sich mit seinen Truppen unterwerfen, und um die überraschende Nachricht glaubhaft zu machen, mußten seine Soldaten die Bogensehnen[198] zerreißen. Nun schenkten die Feinde seinen Worten Glauben und legten ihre Waffen bei Seite. Kaum aber war dies geschehen, so bespannten die Streiter der Jingo ihre Bogen rasch wieder mit anderen Bogensehnen, die sie auf des Führers Geheiß in ihre Haarzöpfchen gethan und daher rasch bei der Hand hatten. Die Feinde, die sich dessen nicht versahen, wurden nun mit leichter Mühe in die Flucht geschlagen, und obwohl sie nochmals verzweifelten Widerstand zu leisten versuchten, geschlagen und gänzlich aufgerieben. Oschikuma und sein getreuer Isahi entkamen in einem Nachen aufs Meer und sprangen vereint in die Fluthen, um sich selbst den Tod zu geben.
So ward Jingo ohne Widerspruch Herrscherin über Japan und blieb noch fast siebenzig Jahr Regentin im Namen ihres verstorbenen Gemahls. Dann folgte ihr Ojin Tenno, ihr Sohn, der jedoch, gleich dem ehrwürdigen Takeutschi, seiner Mutter schon bei Lebzeiten rathend und helfend zur Seite gestanden hatte, im Jahre 270 der christlichen Zeitrechnung, im 930. Jahre nach der Errichtung des japanischen Kaiserthrones durch Jimmu.
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