[336] Vor langen, langen Jahren, so erzählen sich die Leute, lebte ein armer junger Mönch, der sich durch Weissagen ernährte und zu dem Orden der Bergpriester gehörte. Er wohnte in einem Dorfe, das Kayane hieß; dasselbe liegt in der Provinz Mitschinoku und ist ungefähr eine Stunde weit von der Stadt Schirakawa entfernt, welche seither dort erbaut ist.
Antschin, das war der Name des jungen Priesters, verbrachte in stiller Zurückgezogenheit seine Tage und verblieb das ganze Jahr in seinem Dorfe mit Ausnahme einiger Wochen, welche er zu einer Wallfahrt benutzte. Diese Wallfahrt machte er alljährlich nach dem Tempel von Mikumano, der sich in dem hohen Gebirge von Murogori in der Provinz Kii befindet. Es war ein weiter, beschwerlicher Weg, den er zurückzulegen hatte, doch unverdrossen pilgerte er fort und fort; von der Wanderung hing das Heil seiner Seele ab, und deshalb wurde sie ihm leicht; sie war ihm ein Bedürfniß, das er befriedigen mußte, um die einsamen Tage in seinem heimatlichen Dorfe für sich und Andere segensreich zu gestalten.
Noch fünfzehn Wegstunden von dem Ziele seiner Pilgerfahrt entfernt, kehrte er regelmäßig in einem Dorfe ein, das Manago hieß, und übernachtete bei dem Ortsvorsteher. Die Leute kannten ihn schon von fern und hießen ihn stets freundlich willkommen, und er wiederum fühlte sich bei ihnen bald so zu Hause, daß er sich stets auf seine kurze Rast freuete und seine Schritte beschleunigte, wenn er das Dorf von weitem vor sich liegen sah. Der Ortsvorsteher hatte unter anderen Kindern auch ein kleines merkwürdiges Töchterchen. Dasselbe war unschön, ja mißgestaltet, dafür aber hatte es einen scharfen Verstand, lernte sehr früh lesen und schreiben und besaß so große Kenntnisse in der Litteratur, daß es weit und breit berühmt war. Das kleine verkrüppelte Mädchen hieß Kiohime. Es war der Stolz seiner Eltern, die[337] es vor jedem Luftzuge bewahrten und es wie ihren Augapfel hüteten. Wenn Antschin die gelehrte kleine Kiohime erblickte, welche ihn stets freundlich begrüßte, so war er hocherfreut; er setzte sich zu ihr nieder, hörte aufmerksam zu, wenn sie ihre selbstgedichteten Lieder vorlas, und erzählte ihr in liebenswürdiger Weise Geschichten, die sie noch nicht kannte. Voller Aufmerksamkeit richtete das arme Geschöpfchen seine klugen, großen Augen auf den Erzähler, und als er einst im Spaße sagte: »Kiohime, wenn du erst groß und erwachsen bist, so will ich dich heiraten, du sollst meine Fran werden und mit mir in meine Heimat ziehen,« da lachte sie voll Freude hell auf.
So verstrich die Zeit; alle Jahre kehrte Antschin wieder, Kiohime wurde nicht schöner, aber älter, und als sie ihr dreizehntes Jahr zurückgelegt hatte und Antschin abermals bei ihrem Vater eingekehrt war, da trat sie um Mitternacht, als alles still im Hause war, vor sein Lager. Sie weckte ihn aus tiefem Schlaf und sprach zu seinem nicht geringen Erstaunen: »Nun ist die Zeit gekommen, Antschin, ich bin erwachsen; halte nun dein Versprechen, das du mir vor langer Zeit gegeben, und heirate mich; ich bin bereit, morgen, wenn du fortgehst, mit dir zu ziehen.« Antschin, als er ihre Worte vernahm, war sehr bestürzt und sagte ihr ganz ehrlich, er habe damals nur im Scherze gesprochen und dürfe auch gar nicht heiraten; er habe geglaubt, daß sie das wisse, und deshalb habe er auch nicht daran gedacht, seine damalige scherzhafte Aeußerung zurückzunehmen. Der arme Antschin mochte aber zu seiner Entschuldigung sagen, was er wollte: Kiohime achtete nicht auf seine Worte und bestand darauf, daß er sie mit sich nehme und zu seiner Frau mache. Sie war sehr leidenschaftlich und ganz außer sich bei dem Gedanken, daß er sein Wort nicht halten wolle; sie geberdete sich wie von einem bösen Geiste besessen und hätte das ganze Haus in Aufruhr gebracht, wenn Antschin sie nicht noch zu rechter Zeit beruhigt hätte. Es war ihm höchst unlieb, daß Lärm und Gezänk entstehen könnte, und deshalb[338] entschloß er sich, Kiohime abermals zu hintergehen. Er versprach ihr, wenn er von seiner Wallfahrt zurückkäme, wolle er sie heiraten und in seine Heimat mitnehmen; am Wallfahrtsorte wolle er die Gottheit um ihre Erlaubniß dazu und um ihren Segen anflehen. Nun war das Mädchen zufrieden. Sie hatte zu wenig von der Welt gesehen und wußte nichts von Verrath; deshalb glaubte sie auch steif und fest an Antschin's Worte und legte sich beruhigt und glücklich schlafen.
Am andern Morgen, als Antschin fortging und auch der Kiohime Lebewohl sagte, reichte diese ihm einen Fuji-Zweig1, an dem ein Papier hing. Antschin nahm den Zweig und dankte ihr; doch als er das Papier betrachtete, sah er, daß es mit Versen beschrieben war, die also lauteten:
»Wohl warte ich ruhig auf den künftigen Bund, ich habe dein Versprechen! Warum soll nicht der Gott von Mikumano, der so vielen Menschen hilft, auch uns glücklich zum Ziele leiten?«
Antschin war froh, daß Kiohime sich beruhigt hatte und ihn ohne Aufenthalt ziehen lassen wollte, und so beantwortete er ohne Besinnen ihre Verse mit folgenden, die er rasch auf ein Papier schrieb und ihr darreichte:
»Was ich vernehme von des Gottes von Mikumano gütiger Fürsorge, das läßt mich nur frohes erhoffen für unsere Zukunft.«
Sie las den Vers und ihre Augen leuchteten; sie war nun ganz getröstet, und Antschin konnte unbehelligt dahinziehen. Es währte ja nicht lange, dann mußte er zurückkehren, so dachte sie, und dann war das Glück ihres Lebens, von dem sie nie und nimmer zu lassen vermochte, gesichert, ihre heißesten Wünsche waren erfüllt! So kehrte sie in ihr Zimmer zurück und harrte geduldig der Zurückkunft ihres Geliebten.
Antschin aber, als er das Haus im Rücken hatte, athmete erleichtert auf und gelobte sich, nie und nimmer wieder die[339] Schwelle zu betreten. Um keinen Preis wollte er das seltsame Mädchen wiedersehen; ein Abscheu befiel ihn, wenn er an dasselbe dachte. Langsamer, als sonst, pilgerte er dem Ziele seiner Wallfahrt zu.
Kiohime, die mit Ungeduld der Zeit entgegengesehen hatte, wo ihr geliebter Antschin wiederkehren würde, war sehr betreten, als Tag um Tag verstrich, ohne daß sie etwas von ihm hörte. Der Zeitpunkt, wo er hätte zurückkommen müssen, war längst verstrichen, und so erreichte ihre Sehnsucht endlich einen so hohen Grad, daß es sie nicht mehr im Hause litt und sie Antschin entgegenlief.
Als sie schon eine gute Strecke auf der Straße von Mikumano zurückgelegt hatte, ohne Jemand zu begegnen, sah sie von weitem die ehrwürdige Gestalt eines alten Priesters. Sie stand still, mäßigte ihre Ungeduld und fragte den Priester, als er ihr nahe gekommen, ob er nicht einen jungen Priester Namens Antschin gesehen hätte. Und dabei beschrieb sie denselben so genau, wie es nicht leicht Jemand anders als sie gekonnt hätte. Der Priester dachte ein Weilchen nach, und dann flog ein freundliches Lächeln um seine Züge. Ja, er konnte ihr Auskunft über den Gesuchten geben; der, von welchem sie sprach, kam etwa eine Viertelstunde hinter ihm her. Kiohime war hocherfreut; sie dankte dem Priester und ging rasch weiter, dem Antschin entgegen.
Und dieser, der allerdings des Weges kam, sah sie schon von weitem mit Entsetzen. Er fühlte wohl, daß er auf geradem Wege nicht von dem Mädchen loskommen konnte, und deshalb nahm er zu Zauberkünsten, die er verstand, seine Zuflucht. Rasch verwandelte er sein Gesicht in das eines Fremden, und als Kiohime ihm entgegentrat, da kannte sie ihn in der That nicht und erkundigte sich, ängstlich und enttäuscht, wieder nach Antschin, den sie schon geglaubt hatte vor sich zu haben, und der ihr nun auf einmal wieder entschwunden war. Antschin aber beruhigte sie mit denselben Worten, wie der vorige Priester, und sagte ihr, eine Viertelstunde hinter ihm käme der, den sie suche. Kiohime[340] stürmte an ihm vorüber, ohne ein Wort zu erwidern, und er eilte in entgegengesetzter Richtung fort. Doch als das arme Mädchen lange weiter gewandert war, ohne einen Priester zu sehen, da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen, und nun sah sie ein, daß sie betrogen war. Sie war ganz erfüllt von Leidenschaft und Zorn, ein Krampf durchzog ihren Körper, aus ihren sonst so freundlichen Augen blitzten Rachegedanken, und wie ein wüthiger Kobold lief sie zurück, hinter dem letzten Priester her. Sie sah nicht rechts, noch links und kümmerte sich nicht darum, daß die Leute sie für einen bösen Geist hielten; fort und fort lief sie, so schnell sie vermochte, bis sie an den großen Amada-Fluß kam. Hier sah sie eben noch, wie ein Schiffer den verrätherischen Antschin übersetzte und dieser wieder am anderen Ufer ans Land stieg. Sie winkte dem Schiffer, zurückzufahren, sie rief und bat flehentlich, auch sie hinüberzuholen; vergebens – der Fischer, den Antschin bestochen hatte, war taub gegen ihre Bitten und blieb am jenseitigen Ufer. Immer wildere Verzweiflung packte nun das Mädchen. Sie geberdete sich wie eine Wahnsinnige, das Haar sträubte sich auf ihrem Kopfe, ihre Augen waren blutunterlaufen, aus Mund und Nase schien Feuer zu sprühen. Antschin entschwand schon in der Ferne ihren Augen; er lief in einen naheliegenden Tempel und bat die Priester um Schutz vor dem nachfolgenden wüthenden Mädchen. Kiohime, die keine Hülfe sah, kein Mittel, über den breiten, reißenden Strom zu gelangen, stürzte sich in die Wogen und wäre unfehlbar ertrunken, wenn nicht die Gottheiten der Fluthen, aus Mitleid mit ihr oder aus Zorn über Antschins Verrath, ein Wunder gethan und sie in einen mächtigen Drachen verwandelt hätten. Nun durchschwamm sie den Fluß und setzte am anderen Ufer die Verfolgung Antschins fort. Als sie zu dem Tempel gelangte, hatten die Priester denselben bereits unter die große, schwere Glocke versteckt und suchten ihn so zu retten. Eitel Bemühen! Der Drache verschlang sie alle, ringelte sich dann sieben und ein halbes Mal um die Glocke, packte diese[341] mitsammt dem darin versteckten Opfer und flog damit fort. So verschwand er hoch oben in den Wolken, und Niemand vermag zu sagen, was aus ihm und aus Antschin geworden.
Dicht bei Kayane aber, in einem freundlichen kleinen Bambusdickicht, wird noch jetzt der Platz gezeigt, wo Antschin wohnte; auch ein Gedenkstein mit unleserlicher Inschrift ist dort zu sehen und ein uralter Fuji-Baum, der von dem Zweige herrühren soll, welchen Kiohime ihrem Geliebten bei seinem letzten Abschiede schenkte.
Der Tempel unweit des Amada-Flusses aber hat bis auf den heutigen Tag keine Glocke wieder bekommen, und wenn Jemand sich darüber wundert und nach dem Grunde fragt, dann erzählen die Leute ihm die Geschichte von Antschin und von dem Drachen, der die Glocke mit sich fortgenommen hat.
1 | Wistarie oder Glycine; s. Göttersage von Herbst und Frühling, S. 166. |
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