I.

[83] Stark und mächtig ist der Kalif von Bagdad.1 Er sammelt ein Heer und zieht gegen unseren heiligen Johannes den Täufer2: schwer[83] bedrängt er unser Volk3 und führt Viele mit sich in die Gefangenschaft. Unter den Gefangenen befand sich ein schönes Mädchen. Der Kalif von Bagdad nimmt sich dieses zur Frau. Nach einiger Zeit gebärt sie zwei Söhne: Abamelik und Sanassar.

Der Vater der Kinder ist ein Heide, die Mutter eine Verehrerin des Kreuzes,4 denn der Kalif entführte sie ja aus unserem Volke.

Dieser Kalif sammelte noch einmal ein Heer und überfiel unser Volk. Dieses Mal – ich verneige mich vor deinen heiligen Wunderthaten, o heiliger Johannes – dieses Mal bedrängte ihn unser Volk sehr und in seiner Bedrängnis rief der Kalif sein Götzenbild an und sagte: »O grosser Gott, rette mich vor diesem Volke und wenn ich lebendig und gesund heimkehre, will ich dir meine beiden Söhne opfern!«

Ihre Mutter schlief in Bagdad ein und hatte einen Traum. Sie träumte, sie habe in den Händen zwei Lampen; als diese schon erlöschen sollten, flackerten sie noch einmal hell auf. Als sie am Morgen erwachte, erzählte sie diesen Traum ihren Söhnen. Sie sagte:[84] »In dieser Nacht erschien mir der heilige Johannes und sagte, dass euer Vater in grosse Bedrängnis gekommen sei und gelobt habe euch zu opfern. Wenn er zurückkommt, wird er euch erstechen. Denkt an euer Heil!«

Beide Brüder riefen ihren Gott an, nahmen Nahrung mit auf den Weg, schütteten Geld in ihre Taschen und machten sich auf die Wanderschaft. Sie kamen in ein enges Thal und blieben stehen. Sie sehen einen Fluss vorbeifliessen und weiter einen Bach, der den Fluss bis zur Mitte durchfurcht, sich dann mit seinem Wasser vereinigt und mit demselben zusammen weiterfliesst.

Sanassar sagte zu Abamelik: »Wer die Quelle dieses Baches findet und sich über derselben eine Wohnung erbaut, dessen Geschlecht wird auch mächtig werden.«5

Beide Brüder standen auf und gingen stromaufwärts am Bache hin. Sie gingen und fanden seine Quelle. Das Wasser dieses Baches fliesst wie aus einer Röhre heraus; es fliesst und durchströmt den sich darunter befindlichen Bach und vereinigt sich dann mit demselben.6 Sie[85] machten an dieser Stelle Halt und gründeten ihr Schloss.

Sanassar ging auf die Jagd und Abamelik arbeitete am Schlosse. In dieser Gegend gab es damals keine menschliche Wohnung.

Zehn bis zwanzig Tage arbeiteten sie an dieser Wohnung. Einmal kam Abamelik und sieht – Sanassar ist vor Ermüdung eingeschlafen, er hat sein noch blutendes – nicht gebratenes – Wildpret hingeworfen und ist eingeschlummert.

Beim Anblicke des Bruders wurde er sehr betrübt und sagte: »Steh' auf, Bruder, gehen wir fort von hier; wie lange werden wir denn hier bleiben und Fleisch ohne Salz essen? Wollte uns Gott Glück geben, so hätte er es uns auch im hölzernen Palaste unseres Vaters gegeben.«

Die Brüder bestiegen ihre Pferde und ritten zum Herrscher von Arsrom. Die beiden Brüder kamen hin, gingen zu diesem Manne, verneigten sich vor ihm und blieben stehen.

Beide Brüder waren furchtbare und mächtige Männer.

Dem in Arsrom7 residierenden Emir gefielen[86] sie sehr. Er fragte sie nach ihrer Herkunft, nach ihrem Volksstamme und sagte: »Was seid ihr für Leute?«

Sanassar antwortete: »Wir sind die Söhne des Kalifen von Bagdad.«

Der Emir sagte: »Hoho!« und erschrak am ganzen Körper. – »Wir fürchten euch als Tote und hier begegnen wir euch als Lebende! Wir können euch nicht aufnehmen, geht, wohin ihr wollet!«

Sanassar sagte zu Abamelik: »Bruder, wir sind ja unserem Vater entlaufen; warum führen wir denn seinen Namen?« Von jetzt ab, wohin wir auch kommen mögen, sagen wir, wenn uns jemand fragt: »Wir haben niemand, weder Vater, noch Mutter, noch Wohnung, noch Heimat! Da werden uns die Leute beherbergen.«

Von hier ritten sie zum Emir von Kars. Dieser gab den Burschen dieselbe Antwort. Sie kehrten diesmal um und zogen zum König von Kaputkoch. Der König von Kaputkoch erblickte die Burschen und gewann sie sehr lieb. Abamelik verneigte sich vor dem Könige[87] und stellte sich vor ihn; das gefiel dem Könige sehr. Er fragte sie: »Meine Kinder, woher kommt ihr, was habet ihr und was habet ihr nicht?«8

»Wir haben niemand, weder Vater, noch Mutter, noch irgend sonst jemand.«

Sanassar wurde Tschubuktschi9 und Abamelik Haiwatschi.10 So lebten sie einige Zeit.

Einmal sagte Sanassar zu Abamelik: »Wir haben uns viel abgemüht und doch ist unser Haus nicht zu Ende gebaut. Koche du morgen dem Könige keinen Kaffee und ich werde ihm den Tschubuk nicht reichen. Ja, erscheinen wir morgen nicht vor seinem Angesicht.«

Der König erwacht und sieht, dass weder der eine noch der andere da ist. Er rief die Burschen zu sich und sagte: »Ich habe euch zuerst gefragt: Habt ihr jemand, habt ihr Vater und Mutter? und ihr antwortetet, dass ihr niemand hättet. Warum seid ihr so traurig?«[88]

Sie sagten: »Lebe lange, o Herr! Wir haben wirklich weder Vater noch Mutter. Wenn wir es auch vor dir verbergen, so verbergen wir es vor Gott nicht. Wir haben etwas an einem Schlosse gearbeitet, aber dann die Arbeit eingestellt und sind fortgegangen. Dort ist eine Quelle.« Sie erzählten ihm nun alles, wie es war.

Das beklomm das Herz des Königs; er sagte: »Meine Kinder, wenn das so ist, will ich euch morgen einige Hofleute geben; gehet und baut euer Schloss zu Ende.«

Der König stand auf und gab ihnen vierzig Hofleute, und was für tüchtige Burschen! Jeder hatte einen Esel und eine Stange.

Sie standen früh auf, luden ihr Gerät auf und beide Brüder zogen mit ihnen zum Schlosse. Sie zogen hin und kamen an ihre Quelle und ihre Schwelle.

Sanassar sagte zu Abamelik: »Sollen wir zuerst das Schloss bauen oder die Hütten für das Gesinde?«

Abamelik sagte: »Zuerst wollen wir ihnen Hütten bauen und dann unser Schloss; diese armen Schlucker können nicht in der Sonne wohnen.«

Und sie begannen mit den Hütten.

Abamelik war so stark, dass er täglich[89] zehn Hütten aufbaute; der andere brachte Holz herbei, welches sie zusammen bearbeiteten. In vier Tagen erbauten sie vierzig Hütten. Darauf machten sie sich an das Schloss und vollendeten es. Sie waren so kräftig, dass sie steinerne Säulen nebeneinander stellten, eine Unterlage darunter legten und das Schloss war fertig.

Abamelik fuhr zu seinem Könige von Kaput-koch und sagte: »Wir sind deine Kinder, wir haben unser Schloss erbaut und vollendet. Nun sind wir zu dir gekommen und bitten, komme und gieb unserem Schlosse einen Namen.«

Dieser König von Kaput-koch nahm Abamelik gut auf und sagte: »Es ist gut, dass Ihr meiner nicht vergessen habet.«

Er gab Abamelik seine Tochter zur Frau und machte ihn zu seinem Vertrauten. Nach der Hochzeit kamen der König und die jungen Leute im Schlosse zusammen; auch Onkel Toross11 kam zu ihnen. Sie bestiegen die Pferde und ritten fort. Abamelik ritt voraus. Als sie an das Schloss kamen, wandte der König plötzlich sein Pferd um, um zurück zu reiten und sagte: »Ihr habet eurem Schlosse schon einen Namen gegeben und mich absichtlich hierher berufen, um mich auf die Probe zu stellen.«[90]

Abamelik sagte: »Dir sei ein langes Leben, o Herr! Glaube, wir haben diesem Schlosse noch keinen Namen gegeben; wir wissen nur, dass wir es erbaut und vollendet haben.«

»Nun gut! Da ihr ihm keinen Namen gegeben, aber steinerne Säulen neben einander errichtet habt, so mag es Sansun oder Sassun12 heissen.«

Hier blieben sie einige Zeit, verheirateten auch den Onkel Toross, welcher hier blieb und der König kehrte heim.

Abamelik war ein starker, mächtiger Mann. Von der Umgegend des Schwarzen Berges und den Gipfeln des Zetzmak, von Ober-Musch bis an die Berge von Sechanssar und die Ebene von Tschapachtschur13 regierte er und umgab sein Land mit einer Mauer. Er machte vier Thore; oft schliesst er seine Thore, setzt sich auf sein Pferd und fängt was ihm in den Weg kommt, Dämone, Raubtiere. Einmal kam er[91] bis nach Mösr14 und eroberte es. Er ging in der Nacht und legte sich neben die Gemahlin des Herrschers von Mösr. Sie wurde schwanger und gebar einen Sohn. Der König von Mösr erfuhr, dass der Knabe von Abamelik sei und man nannte ihn Mösramelik. Abamelik aber erschlug den König von Mösr, nahm sich seine Gemahlin und wurde König von Mösr.

Dieser bleibt einstweilen hier.

1

Dem Sinne und der Zeit nach, in welcher die Handlung vor sich geht, ist hier Ninive anzunehmen, ebenso anstatt des arabischen Kalifen, der assyrische König Sennachirim. Der Anachronismus ist, wie der Leser sieht, ziemlich bedeutend, denn der um 800 vor Christi Geburt lebende König wird hier arabischer Kalif genannt, während doch die Kalifen erst im Jahre 755 ihre Residenz nach Bagdad verlegten.

2

Die Rede ist hier von dem berühmten Kloster des heiligen Johannes des Täufers, welches im 4. Jahrhundert von Gregor, dem Erleuchter, auf dem Berge Karke am Euphrat erbaut worden. An derselben Stelle standen vordem heidnische Altäre. Alljährlich strömen hier an gewissen Tagen fromme Armenier zusammen, unter ihnen viele Sänger und Ringkämpfer, welche hier nach langem Fasten und Beten den Heiligen um die Gabe des Gesanges, um Kraft und Mut bitten. Überhaupt wird Johannes der Täufer vom armenischen Volke als Schützer der Künste betrachtet.

3

Armenier.

4

So nennen die Armenier die Christen.

5

So mächtig wie dieser Bach.

6

Diese Stelle ist unverständlich und scheint verstümmelt zu sein.

7

Der ursprüngliche Name dieser Stadt ist Theodosiopol. Sie wurde vom griechischen Heerführer Anatol im Jahre 412 nach Chr. gegründet und zu Ehren des Kaisers Theodosius II. so benannt. Später wurde sie den Griechen vom Sultan von Ikonikum entrissen und dieser nannte sie »Arsi-Rom«, d.h. »Land der Griechen«. Die Armenier nennen diese Stadt »Karin«, nach dem Namen der alten armenischen Provinz, in welcher sie liegt.

8

Südwestlich vom See von Wan liegt ein hoher Berg namens »Kaput-koch« (»blaue Rippe«, von der blauen Farbe des Berges). Wahrscheinlich war hier ein Fürsten- oder ein Königtum Kaput-koch, welches lange den wandernden assyrischen Prinzen zum Zufluchtsorte diente. Vielleicht hat die Sage in der Person des Königs von Kaput-koch das Andenken an den armenischen Fürsten Skajordi bewahrt.

9

Der Diener, welcher dem Könige die Pfeife reicht.

10

Der Diener, welcher den Kaffee zubereitet.

11

Wahrscheinlich der Bruder des Königs.

12

Das bedeutet übersetzt »Säule an Säule«. Dadurch erklärt sich der Ursprung des Namens »Sassun«, eines Distriktes in der alt-armenischen Provinz Achznik, südlich von der Stadt Musch. Die Bewohner dieser Gegend haben Dank ihren unzugänglichen Wohnorten bis heute ihre Unabhängigkeit bewahrt.

13

Die hier angeführten Ortsnamen bestehen auch jetzt noch. Die Orte liegen in den alten Distrikten von Turuberan und Achznik, im gegenwärtigen Distrikte Musch.

14

»Mösr« nennen jetzt die Armenier Egypten, doch ist wahrscheinlich Mossul gemeint.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. 83-92.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon