III.

[94] Abamelik, der in Mösr sass, liess seinen Sohn Mösramelik an seiner statt regieren und fuhr selbst nach Sassun.

Seitdem sind viele Jahre vergangen und es wurden ihm einige Kinder geboren: einem gab er den Namen Tschentschchapokrik, den älteren Sohn nannte er Zöranwegi, den zweiten[94] Zenow-Owan, den dritten Chor-Hussan18 und den jüngsten David.

Unter diesen Söhnen erwiesen sich Tschentschchapokrik und Zöranwegi als Taugenichtse. Dafür hatte Zenow-Owan eine solche Stimme, dass er, nachdem er in der Sonne sieben Büffelleder getrocknet hatte, sich damit den Körper umwickelte, um beim Schreien nicht zu platzen. Der geschickteste von allen war David und seine Stärke lässt sich in Worten gar nicht schildern.

Abamelik lebte einige Zeit und wurde alt. Einmal sitzt er in Gedanken versunken da und sagt zu sich selbst: »Ringsumher sind mir alle feind geworden; wer wird nach meinem Tode für meine Kinder sorgen? Das kann nur Mösramelik. Ausser ihm nimmt es niemand mit meinen Feinden auf.«

Er zog also zu Mösramelik.19 Er war damals schon alt. Er sagte: »Mösramelik, mein Sohn, du bist ja mein Blut; wenn ich vor dir sterbe, so vertraue ich dir meine Kinder an,[95] habe Sorge um sie. Wenn du aber zuerst stirbst, magst du mir deine Kinder anvertrauen, ich werde für sie sorgen.«

Er kehrte zurück und wohnte in seinem Schlosse. Es kam sein Todestag und er starb.

Da kam Mösramelik und nahm seine Kinder zu sich; er hatte das väterliche Gebot nicht vergessen.

Sieben Jahre trauerte Sassun nach Abameliks Tode. Einmal schmausten und zechten die Bauern mit dem Onkel Toross. Die Bauern sagten: »Onkel Toross, unsere Burschen sind alt geworden und die hübschen Mädchen sind alte Weiber. Wenn du glaubst, dass Abamelik durch unser siebenjähriges Weinen wieder lebendig wird, so wollen wir noch sieben Jahre weinen.«

Onkel Toross gab seinen Bauern die Erlaubnis und sagte: »Verheiratet eure Burschen und Mädchen. Das Weinen führt zu nichts.«

Und sie setzten sich wieder hin und schmausten und tranken Wein. Onkel Toross nahm einen Becher in die Hand, und steht da; er denkt über etwas nach, er trinkt nicht und legt den Becher nicht aus der Hand. Sein Sohn schrie von der Strasse: »Väterchen, das sind ja die unsinnigen Sassuner! Sieh' dich vor, sie werden dir sogleich ein beleidigendes[96] Wort sagen. Trinke aus oder lass es sein. Gehen wir fort!«

Der Vater wandte sich zum Sohne und sagte: »Ach, du Hundesohn! Ich soll hier sitzen und schmausen und Mösramelik kam und nahm unsere Kinder weg! Er quält Abameliks Kinder und ich soll hier sitzen und schmausen? Ach, was ist das für eine Schande! Brot und Wein, Gott lobt! Nein, ich trinke keinen zweiten Becher mehr, ich ziehe zu den Kinderchen.«

Onkel Toross zog von Sassun fort nach Mösr. Er grüsste Mösramelik und beide setzten sich. Er sagte: »Nun, kommen wir zu Gottes Gericht!20 Es ist wahr, du hast es mit Abamelik besprochen, aber wenn man einen Gefangenen verkauft, soll er dem Herrn zukommen.«21

Sie standen auf und gingen zu Gericht: die Kinder bekam Onkel Toross.

Mösramelik fürchtet sich sehr vor diesen Kindern. Er sagte zum Onkel Toross: »Lass[97] die Kinder unter meinem Schwerte durchgehen und dann nimm sie dir und gehe!«

Onkel Toross kam und erzählte es den Burschen. Zöranwegi sagte: »Gehen wir unter seinem Schwerte durch und fliehen wir dann!« Die andern beiden sagten dasselbe.

Aber David sagte: »Wenn er uns töten will, mag er uns heute noch töten; da werden die Leute sagen: er hat die Kinder ermordet! Unter seinem Schwerte werde ich nicht durchgehen. Er macht das, damit ich nicht das Schwert gegen ihn erhebe, wenn ich erwachsen sein werde!«

Onkel Toross versammelte sie in Angst, um sie unter dem Schwerte durchzuführen. David wurde trotzig, blieb stehen und geht nicht darunter. Onkel Toross ergriff ihn am Kragen und stiess ihn, damit er unter das Schwert gehe. David ging nicht unter das Schwert, er ging daneben vorbei und stiess mit der grossen Zehe an einen Kieselstein, dass die Funken sprühten. Mösramelik erschrak sehr, als er das sah. Er sagte: »Dieser ist noch so klein und so furchtbar, was wird aus ihm werden, wenn er erwachsen ist! Wenn mir ein Unheil geschieht, so geschieht es von ihm.«

Onkel Toross nahm die Kinder und kam nach Sassun. Zöranwegi stellte er im Schlosse[98] an, an des Vaters Stelle, aber David, der der jüngste war, schickte er zu den Kälbern.

18

Alle diese Namen sind poetisch und drücken gewisse Eigenschaften ihrer Träger aus. So z.B. Zenow-Owan heisst »der melodisch sprechende Johannes«, Chor-Hussan heisst »guter Sänger«. Tschentschchapokrik heisst »Sperling« und Zöranwegi »der feige Wegi«.

19

Nach Mossul.

20

»Gottes Gericht« bedeutet hier wahrscheinlich »Losung«, wodurch Streite geschlichtet wurden, obgleich weiter unten für »Gericht« die Benennung der mahomedanischen Gerichtshöfe »Schariat« steht.

21

Das heisst: Wenn ein Gefangener verkauft wird, so haben vor allen seine Verwandten das Recht, ihn aus der Gefangenschaft loszukaufen.

Quelle:
Chalatianz, Grikor: Märchen und Sagen. Leipzig: Verlag von Wilhelm Friedrich, 1887, S. 94-99.
Lizenz:
Kategorien: