[227] Die wilden Miau- und Man-Stämme im Süden züchten häufig Giftschlangen, Skorpione und Tausendfüßler und verstehen es, aus diesen Tieren ein Gift zu bereiten. Von Geschlecht zu Geschlecht vererben sie die Kunst, um Leuten aus andern Ländern Verderben zu bringen. Diese Kunst ist unter dem Namen Giftschießen bekannt. Sie bergen das Gift unter dem Fingernagel, und wenn sie andern Wein oder Tee einschenken, so schnellen sie mit dem Finger etwas davon ins Glas, ganz wenig nur wie ein Stäubchen. Ehe der andere sichs versieht, hat er so das Gift im Leibe. Schnelles Gift wirkt nach ein paar Tagen, langsames nach Monaten oder Jahren. Wirkt das Gift, so stirbt der Mensch, oder in leichteren Fällen trägt er zum mindesten einen dauernden Schaden davon. Die langsame oder schnelle Wirkung des Giftes haben sie ganz in ihrer Hand, und niemand entgeht ihnen, der ihnen einmal verfallen ist.
Diese Wilden sind untüchtig im Feldbau und ungeschickt im Handel. Darum locken sie häufig Chinesen an, die für sie diese Arbeiten besorgen. Sie geben ihnen wohl auch ihre Töchter zu Frauen, damit sie die Gedanken an ihre Heimat vergessen.
So war einmal ein Mann aus Canton, der trieb Handel in jenen Gegenden. Er fand Wohlgefallen an einem Miau-Mädchen und nahm sie zur Frau. Da er aber großen Besitz zu Hause hatte, sehnte er sich mit der Zeit doch heim. Er wollte mit dem Mädchen zusammen gehen; aber die war nicht einverstanden. Doch ließ sie ihn schwören, daß er wiederkommen wolle, und sie machten eine Zeit aus.
»In drei Jahren soll es sein«, sagte er.
Da gab sie ihm zum Abschied Wein zu trinken und ermahnte ihn dann noch zum Schluß: »Du darfst dein Wort ja nicht brechen! Ich habe dir Gift gegeben, und wenn du[228] zur gesetzten Zeit nicht wiederkommst, so mußt du sterben. Denke nicht, du könnest zu Hause mit Weib und Kind dauernd fröhliche Tage verbringen!«
So kehrte der Mann in seine Heimat zurück. Zwei Jahre vergingen, und nichts Schlimmes zeigte sich.
Da dachte er: »Das Mädchen von Miau hat nur leere Drohungen ausgestoßen, damit ich wieder hin soll. Wo gibt's ein Gift, das man jahrelang im Leib herumtragen kann, ehe es zu wirken anfängt?«
Als nun die Zeit herankam, da brach er sein Versprechen und blieb.
Eines Tages hatte er Wein getrunken und war ein wenig angeheitert. Da merkte er, daß etwas Hartes ihm die Kehle heraufstieg und ihn zu ersticken drohte. Plötzlich erbrach er eine güldne Schlange, das heißt: sie streckte nur den Kopf zu seinem Mund heraus, während der Schwanz im Leibe drunten blieb. Da erschrak er sehr und ward erst inne, daß nun das Gift zu wirken anfing. So ließ er denn eiligst anspannen, um in das Miau-Land zurückzukehren. Und kaum hatte er sich auf den Weg gemacht, da war der Schlangenkopf auch schon wieder verschwunden. Bei der Begrüßung nun gestand er dem Mädchen von Miau seine Schuld und bat sie um Verzeihung. Und sie löste den Zauber. Von da ab hielt der Mann bei seinen Reisen zwischen Miau und Canton hin und her sich immer streng an den Termin und wagte nie wieder, sein Wort zu brechen.
Es geht die Sage, daß wer also vergiftet sei, trübe und glanzlose Pupillen bekomme. Wenn man innerhalb von sieben Tagen Pfirsichkerne, Realgar und dergleichen Mittel gegen Schlangen und Gifte nehme, sie mit altem Wein koche und sie mit Salzwasser zusammen trinke, so könne man wieder genesen. Nach dieser Zeit jedoch gebe es keine Rettung mehr. Darum warnen sich alle, die das Miau-Land besuchen, gegenseitig, keinen Becher Wasser zu berühren.