[101] In den Tagen des Kalew-Sohnes lebte im Kungla-Lande2 ein sehr reicher König, der seinen Unterthanen alle sieben Jahre in der Mitte des Sommers ein großes Gelage gab, das jedesmal zwei, auch drei Wochen hintereinander dauerte. Das Jahr eines solchen Festes war wieder herangekommen und man erwartete den Beginn desselben binnen einigen Monaten; aber die Leute schienen dies Mal noch unsicher in ihren Hoffnungen, weil ihnen nämlich schon zwei Mal, vor vierzehn und vor sieben [102] Jahren, die erwartete Freude zu Wasser geworden war. Von Seiten des Königs war beide Male hinlänglich für die nöthigen Vorräthe gesorgt worden, aber keines Menschen Zunge war dazu gekommen, sie zu kosten. Wohl schien die Sache wunderbar und unglaublich, aber es fanden sich aller Orten viele Menschen, welche die Wahrheit derselben als Augenzeugen bekräftigten. Beide Male, – so wurde erzählt – als die Gäste der hergerichteten Speisen und Getränke warteten, war ein unbekannter fremder Mann zum Oberkoch gekommen und hatte ihn gebeten, von Speis' und Trank ein paar Mundvoll kosten zu dürfen; aber das bloße Eintunken des Löffels in den Suppenkessel und das Heben der Bierkanne zum Munde hatte hingereicht, um mit wunderbarer Gewalt alle Vorrathskammern, Schaffereien und Keller leer zu machen, so daß auch kein Körnchen und kein Tröpfchen übrig blieb.3 Köche und Küchenjungen hatten alle den Vorfall gesehen [103] und beschworen; gleichwohl war des Volkes Zorn über die zerstörte Festfreude so groß, daß der König, um die Leute zu besänftigen, vor sieben Jahren den Oberkoch hatte aufhängen lassen, weil er dem Fremden die verlangte Erlaubniß gegeben hatte. Damit nun jetzt nicht abermals ein solches Aergerniß entstünde, war von Seiten des Königs demjenigen, der die Herstellung des Festes übernähme, eine reiche Belohnung zugesichert worden: und als gleichwohl Niemand die Verantwortlichkeit auf sich nehmen wollte, versprach der König endlich dem Uebernehmer seine jüngste Tochter zur Gemahlin; wenn aber die Sache unglücklich ausfiele, sollte er mit seinem Leben für den Schaden büßen.
An der Grenze des Reichs, weit von der Königsstadt, wohnte ein wohlhabender Bauer mit drei Söhnen, von denen der jüngste schon von klein auf einen scharfen Verstand zeigte, weil die Rasenmutter4 ihn aufgezogen und ihn gar oft heimlich an ihrer Brust gesäugt hatte. Der [104] Vater nannte diesen Sohn deßhalb: Schlaukopf. Er pflegte zu seinen Söhnen zu sagen: »Ihr, die beiden älteren Brüder, müsset durch Körperkraft und Händearbeit euch das tägliche Brod verdienen; du, kleiner Schlaukopf, kannst durch deinen Verstand in der Welt fortkommen und dich einmal über deine Brüder emporschwingen.« – Vor seinem Tode theilte er Aecker und Wiesen zu gleichen Theilen unter seine beiden älteren Söhne. Dem jüngsten gab er so viel Reisegeld, daß er in die weite Welt gehen konnte, um sein Glück zu versuchen. Noch war des Vaters Leiche auf dem Tische nicht kalt geworden, als auch die älteren Brüder ihrem jüngsten Alles bis auf den letzten Kopeken wegnahmen, dann warfen sie ihn zur Thür hinaus und riefen ihm höhnisch nach: »Du schlauer Kopf sollst dich über uns erheben und blos durch deinen Verstand in der Welt fortkommen, drum könnte das Geld dir lästig sein!«
Der jüngste Bruder schlug sich die Mißgunst seiner beiden Brüder aus dem Sinne und machte sich sorglos auf den Weg. »Gott giebt wohl schon Glück!« den Spruch hatte er sich zum Trost und Begleiter aus dem Vaterhause mitgenommen; er pfiff die trüben Gedanken fort und ging leichten Schrittes weiter. Als er anfing Hunger zu verspüren, traf er zufällig mit zwei reisenden Handwerksgesellen zusammen. Sein angenehmes Wesen und seine Scherzreden gefielen den Gesellen, sie gaben ihm, als Rast gehalten wurde, von ihrer Kost ab, und so brachte Schlaukopf den ersten Tag glücklich zu Ende. Er trennte sich vor Abend von den Gesellen und ging vergnügt fürbaß, denn das Gefühl der Sättigung ließ keine Sorge für den nächsten Tag aufkommen. Ein Nachtlager bot sich ihm überall, [105] wo der grüne Rasen die Diele unter ihm und der blaue Himmel das Dach über ihm bildete; ein Stein unter dem Haupte diente als weiches Schlafkissen. Am folgenden Tage kam er Vormittags an ein einsames Gehöft. Vor der Thür saß eine junge Frau und weinte kläglich. Schlaukopf fragte, was sie so sehr bekümmere, und erfuhr Folgendes: »Ich habe einen schlimmen Mann, der mich alle Tage schlägt, wenn ich seine tollen Launen nicht befriedigen kann. Heute befahl er mir, ihm zur Nacht einen Fisch zu kochen, der kein Fisch sein dürfe, und der wohl Augen, aber nicht am Kopfe habe. Wo auf der Welt soll ich ein solches Thier finden?« – »Weine nicht, junges Weibchen« – tröstete sie Schlaukopf: »dein Mann will einen Krebs, der zwar im Wasser lebt, aber kein Fisch ist, und der auch Augen hat, aber nicht im Kopfe.«5 Die Frau dankte für die gute Belehrung, gab ihm zu essen und noch einen Brotsack mit auf die Reise, von dem er manchen Tag leben konnte. Da ihm nun diese unvermuthete Hülfe geworden war, beschloß er sogleich in die Königsstadt zu gehen, wo Klugheit am Meisten werth sein müsse, und wo er sicher sein Glück zu finden hoffte.
Ueberall, wohin er kam, hörte er von nichts Anderem sprechen, als von dem Sommerfeste des Königs. Als er erfuhr, was für ein Lohn demjenigen verheißen war, der das Fest herstellen werde, ging er mit sich zu Rathe, ob es nicht möglich sei, die Sache zu übernehmen. Gelingt [106] es – so sprach er zu sich selbst – so bin ich mit einem Male auf dem Wege zum Glücke. Was sollte ich wohl fürchten? Im allerschlimmsten Falle würde ich mein Leben verlieren, allein sterben müssen wir doch einmal, sei es früher oder später. Wenn ich's beim rechten Ende anfange, warum sollte es nicht gehen? Vielleicht habe ich mehr Glück als die Andern. Und gäbe mir dann auch der König seine Tochter nicht, so muß er mir doch den versprochenen Lohn an Gelde auszahlen, der mich zum reichen Manne macht. Unter diesen Gedanken schritt er vorwärts, sang und pfiff wie eine Lerche, ruhte zuweilen im Schatten eines Busches von des Tages Hitze aus, schlief die Nacht unter einem Baume oder im Freien, und langte glücklich an einem Abend in der Königsstadt an, nachdem er am Morgen seinen Brotsack bis auf den Grund geleert hatte. Am folgenden Tage erbat er sich Zutritt zum Könige. Dieser sah, daß er es mit einem gescheuten und unternehmenden Menschen zu thun hatte und so wurde man leicht Handels einig. Dann fragte der König: »Wie heißt du?« Der Mann von Kopf erwiederte: »Mein Taufname ist Nikodemus, aber zu Hause wurde ich immer Schlaukopf genannt, um anzudeuten, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin.« »Ich will dir diesen Namen lassen,« – sagte der König, – »denn dein Kopf muß mir für allen Schaden einstehen, wenn die Sache schief geht!«
Schlaukopf bat sich vom Könige siebenhundert Arbeiter aus und machte sich ungesäumt an die Vorbereitungen zum Feste. Er ließ zwanzig große Riegen6 aufführen, die [107] nach Art gutsherrlicher Viehställe im Viereck zu stehen kamen, so daß ein weiter Hofraum in der Mitte blieb, zu welchem eine einzige große Pforte hineinführte. In den heizbaren Räumen ließ er große Kochgrapen und Kessel einmauern, und die Oefen mit Eisenrosten versehen, um darauf Fleisch, Blutklöße und Würste zu braten. Andere Riegen wurden mit Kesseln und großen Kufen zum Bierbrauen versehen, so daß oben die Kessel, unten die Kufen standen. Noch andere Häuser ohne Feuerstellen wurden aufgeführt, um zu Schaffereien für kalte Speisen zu dienen, die eine um Schwarzbrot, die andere um Hefenbrot7, die dritte um Weißbrot u.s.w. aufzubewahren. Alle nöthigen Vorräthe, wie Mehl, Grütze, Fleisch, Salz, Fett, Butter u. dgl. wurden auf dem Hofraum aufgestapelt, und dann wurden fünfzig Soldaten als Wache vor die Pforte gestellt, damit kein Diebesfinger etwas antasten könnte. Der König besichtigte alle Tage die Zurüstungen und rühmte Schlaukopfs Geschick und Klugheit. Außer dem wurden noch einige Dutzend Backöfen im Freien er baut, und vor jedem Ofen eine eigene Abtheilung Wachtsoldaten aufgestellt. Für das Fest wurden geschlachtet tausend Mastochsen, zweihundert Kälber, fünfhundert Schweine und Ferkel, zehntausend Schafe und noch viel anderes Kleinvieh, das herdenweise von allen Seiten zusammengetrieben wurde. Auf den Flüssen sah man Kähne und Böte, auf den Landstraßen Frachtwagen unaufhörlich [108] Proviant zuführen, und zwar waren die Fuhren nun schon seit Wochen in Bewegung. An Bier allein wurden siebentausend Ahm gebraut. Wiewohl die siebenhundert Gehülfen von früh bis spät arbeiteten, und ab und zu auch noch Tagelöhner angenommen wurden, so lastete doch die meiste Sorge und Mühe auf Schlaukopf, weil seine Einsicht die Andern in allen Stücken leiten mußte. Den Köchen, Bäckern und Brauern hatte er aufs strengste eingeschärft, nicht zuzulassen, daß ein fremder Mund von den Speisen und Getränken koste; wer gegen diesen Befehl handele, dem war der Galgen angedroht. Sollte sich aber irgendwo so ein naschhafter Fremder zeigen, so müsse derselbe augenblicklich vor den obersten Anordner des Festes gebracht werden.
Am Morgen des ersten Festtages erhielt Schlaukopf Nachricht, daß ein unbekannter alter Mann in eine Küche gekommen sei und den Koch um Erlaubniß gebeten habe, aus dem Suppengrapen mit dem Schöpflöffel ein wenig zu kosten, was ihm der Koch nun also auf eigene Hand nicht gestatten durfte. Schlaukopf befahl, den Fremden vorzuführen, und bald erschien ein kleiner alter Mann mit grauen Haaren, welcher demüthig um Erlaubniß bat, die Festspeisen und das Getränk schmecken zu dürfen. Schlaukopf hieß ihn in eine der Küchen mitkommen, dort wolle er, wenn es möglich sei, den ausgesprochene Wunsch erfüllen. Während sie gingen, sah er scharf hin, ob an dem Alten nicht irgend etwas Absonderliches zu entdecken sei. Da erblickte er einen glänzenden goldenen Ring an dem Ringfinger der linken Hand des Alten. Als sie in die Küche getreten waren, fragte Schlaukopf: »Was für [109] ein Pfand kannst du mir geben, daß kein Schaden entsteht, wenn ich dich die Speise kosten lasse?« »Gnädiger Herr,« – erwiederte der Fremde – »ich habe dir nichts zum Pfande zu geben.« Schlaukopf zeigte auf den schönen goldenen Ring und verlangte ihn zum Pfande.8 Dagegen sträubte sich der alte Schelm, indem er versicherte, der Ring sei ein Andenken seiner verstorbenen Frau und er dürfe ihn einem Gelübde zufolge niemals aus der Hand geben, weil sonst Unglück kommen könnte. »Dann ist es mir auch nicht möglich, dein Verlangen zu erfüllen,« sagte Schlaukopf – »ohne Pfand kann ich Niemanden weder Festes noch Flüssiges schmecken lassen.« Den Alten stachelte die Lüsternheit so sehr, daß er endlich seinen Ring zum Pfande gab. Als er jetzt den Löffel in den Kessel tunken wollte, versetzte ihm Schlaukopf von hinten mit dem Rücken eines Beiles einen so gewaltigen Schlag auf den Kopf, daß der stärkste Mastochse davon umgefallen wäre, aber der alte Schelm sank nicht, sondern taumelte nur ein Bischen. Schlaukopf packte ihn jetzt mit beiden Händen am Barte und ließ starke Stricke bringen, mit denen dem Alten Hände und Füße festgebunden wurden, worauf er bei den Beinen an einem Balken in die Höhe gezogen wurde. Schlaukopf rief ihm spottend zu: »Da warte nun, [110] bis die Festtage vorüber sind, dann wollen wir weiter miteinander abrechnen. Der Ring, in welchem deine Kraft steckt, bleibt mir inzwischen als Pfand.« Der Alte mußte sich wohl oder übel zufrieden geben; er konnte, gefesselt wie er war, nicht Hand noch Fuß bewegen.
Jetzt begann das Gelage, zu welchem die Leute zu Tausenden von allen Seiten herbeigeströmt waren. Obwohl die Gasterei volle drei Wochen dauerte, so mangelte es doch weder an Speise noch an Trank, vielmehr blieb von Allem noch ein gut Theil übrig.
Das Volk war voll Dank und Preis für den König und den Hersteller des Festes. Als der König diesem den bedungenen Lohn auszahlen wollte, sagte Schlaukopf: »Ich habe noch mit dem Fremden ein kleines Geschäft abzumachen, ehe ich meinen Lohn in Empfang nehme.« Dann nahm er sieben starke Männer mit sich, die er mit tüchtigen Knütteln versorgen ließ, und führte sie dahin, wo er den Alten vor drei Wochen an einen Balken aufgehängt hatte. »Ihr Männer! fasset die Knüttel fest in die Faust und verarbeitet mir den Alten, daß er dieses Bad und unser Gastgebot in seinem Leben nicht vergesse!« – Die Männer begannen nun alle sieben den Alten greulich durchzugerben, so daß sie ihm fast das Leben genommen hätten; aber von ihren harten Schlägen riß endlich der Strick. Das Männlein fiel herunter und verschwand im Nu unter der Erde, hinterließ aber eine breite Oeffnung. Schlaukopf sagte: »Ich habe ein Pfand, mit welchem ich ihm folgen muß. Bringet dem Könige viele tausend Grüße und saget ihm, er möge, wenn ich nicht zurück kommen sollte, meinen Lohn unter die Armen vertheilen.«
[111] Er kroch nun durch dasselbe Schlupfloch, durch welches der Alte verschwunden war, in die Tiefe. Anfangs fand er den Weg sehr eng, aber einige Klafter tiefer wurde er viel breiter, so daß man leicht vorwärts kommen konnte. Eingehauene Stufen bewahrten den Fuß davor, daß er trotz der Finsterniß nicht glitt. Schlaukopf war eine Weile gegangen, als er an eine Thür kam. Er lugte durch eine kleine Oeffnung und sah drei junge Mädchen sitzen und den ihm wohl bekannten Alten, dessen Kopf dem einen der Mädchen im Schooße lag. Das Mädchen sagte: »Wenn ich noch ein Paar Mal die Beule mit der Klinge presse, so vergeht Geschwulst und Schmerz.« Schlaukopf dachte, das ist gewiß die Stelle, die ich vor drei Wochen mit dem Rücken des Beils gezeichnet habe. Er nahm sich vor, so lange hinter der Thür zu warten, bis der Hausherr sich schlafen gelegt habe und das Feuer ausgelöscht sei. Der Alte bat: »Helft mir in die Kammer, daß ich mich zu Bette lege, mein Körper ist ganz aus den Gelenken, ich kann nicht Hand noch Fuß regen.« Darauf wurde er in die Schlafkammer geführt. Während der Dämmerung, als die Mädchen das Gemach verlassen hatten, schlich Schlaukopf herein und fand ein Versteck hinter dem Biertönnchen.9
Die Mädchen kamen bald zurück und sprachen leise miteinander, um den alten Papa nicht aufzuwecken. »Die Kopfbeule hätte nichts zu sagen,« meinte die eine, – [112] »und der verrenkte Körper würde sich auch schon wieder herstellen, aber der verlorene Kraftring ist ein unersetzlicher Schade, und der quält den Alten wohl mehr als sein körperlicher Schmerz.« Als man später den Alten schnarchen hörte, trat Schlaukopf aus seinem Versteck hervor und befreundete sich mit den Mädchen. Anfangs sahen diese wohl erschrocken drein, aber der verschlagene Jüngling wußte ihre Furcht zu beschwichtigen, so daß sie ihn zur Nacht da bleiben ließen. Er hatte von den Mädchen herausgebracht, daß der Alte zwei ganz besondere Dinge besitze, ein berühmtes Schwert und eine Gerte vom Ebereschenbaum,10 und er gedachte beides mit zu nehmen. Die Gerte schuf auf dem Meere eine Brücke vor ihrem Besitzer her, und mit dem Schwerte ließ sich das zahlreichste Heer vernichten. Den folgenden Abend hatte sich Schlaukopf richtig des Schwertes und der Gerte bemächtigt, und war vor Tagesanbruch mit Hülfe des jüngsten Mädchens entkommen. Aber vor der Thür fand er das alte Schlupfloch nicht mehr, sondern einen großen Hofplatz und weiterhin wogte das Meer hinter der Koppel.
Unter den Mädchen hatte sich nach seinem Scheiden ein Wortwechsel erhoben, der so heftig wurde, daß der Alte von dem Lärm erwachte. Aus ihrem Zanke wurde ihm klar, daß ein Fremder hier verkehrt hatte, er stand zornig auf und fand Schwert und Gerte entwendet. »Mein [113] bester Schatz ist mir geraubt!« brüllte er, vergaß allen Körperschmerz und stürmte hinaus. Schlaukopf saß noch immer am Meeresufer und sann darüber, ob er die Kraft der Gerte erproben oder sich einen trockenen Weg suchen solle. Plötzlich hört er hinter sich ein Sausen wie von einer Windsbraut! Als er sich umsieht, erblickt er den Alten, der wie toll gerade auf ihn los rennt. Er springt auf und hat eben noch Zeit, mit der Gerte auf die Wellen zu schlagen und zu rufen: »Brücke vorn, Wasser hinten!«11 Kaum hat er das Wort gesprochen, so befindet er sich auf einer Brücke im Meere, schon eine Strecke vom Ufer entfernt.
Der Alte kommt ächzend und keuchend an's Ufer und bleibt stehen, als er den Dieb auf der Brücke über dem Meere sieht. Schnaufend ruft er:12 »Nikodemus, Söhnchen! wo willst du hin?« – »Nach Hause, Papachen!« war die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! du hast mir mit dem Beil auf den Kopf geschlagen und mich bei den Beinen am Balken aufgehängt?« – »Ja, Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du mich von sieben Mann [114] durchprügeln lassen und meinen goldenen Ring geraubt?« – »Ja, Papachen!« »Nikodemus, Söhnchen! hast du dich mit meinen Töchtern befreundet?« – »Ja, Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du das Schwert und die Gerte gestohlen?« – »Ja, Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! willst du zurück kommen?« – »Ja, Papachen!« gab – Schlaukopf wieder zur Antwort. Inzwischen war er auf der Brücke so weit gekommen, daß er des Alten Rede nicht mehr hören konnte. Als er über das Meer hinübergelangt war, erfragte er den nächsten Weg zur Stadt des Königs und eilte dahin, um seinen Lohn zu fordern.
Aber siehe da! er fand hier Alles ganz anders als er gehofft hatte. Seine Brüder standen beide im Dienste des Königs, der eine als Kutscher, der andere als Kammerdiener. Beide lebten gar lustig: sie waren reiche Leute. Als Schlaukopf sich vom Könige seinen Lohn ausbat, sagte dieser: »Ich hatte dich ein ganzes Jahr lang erwartet, da aber nichts von dir zu hören noch zu sehen war, so hielt ich dich für todt, und wollte deinen Lohn unter die Armen vertheilen lassen nach deinem Geheiß. Da kamen aber eines Tages deine älteren Brüder, um diesen Lohn zu erben. Ich übergab die Sache dem Gericht, welches ihnen den Lohn zuerkannte, wie sich's auch gebührte, weil man glaubte, du seiest nicht mehr am Leben. Später traten deine Brüder in meinen Dienst, und stehen noch darin.« Als Schlaukopf diese Rede des Königs hörte, glaubte er zu träumen, denn seines Bedünkens war er nicht länger als zwei Nächte in der unterirdischen Behausung des Alten gewesen, und hatte dann einige Tage gebraucht, um heimzukehren; [115] jetzt zeigte sich's aber, daß jede Nacht Jahreslänge gehabt hatte. Er wollte seine Brüder nicht verklagen, ließ ihnen das Geld, dankte Gott, daß er mit dem Leben davon gekommen war und sah sich nach einem neuen Dienste um. Der königliche Koch nahm ihn als Küchenjungen an, und er mußte jetzt alle Tage den Braten am Spieße drehen. Seine Brüder verachteten ihn wegen dieser geringen Handthierung und mochten nicht mit ihm um gehen, er aber hatte sie doch lieb. So hatte er ihnen auch eines Abends Manches von dem erzählt, was er in der Unterwelt gesehen hatte, wo die Gänse und Enten goldenes und silbernes Gefieder trugen. Die Brüder hinterbrachten das Gehörte dem Könige und baten ihn, er möge ihren jüngsten Bruder doch hinschicken, damit er die seltenen Vögel herbringe. Der König ließ den Küchenjungen rufen und befahl ihm, sich am nächsten Morgen aufzumachen, um die Vögel mit dem kostbaren Gefieder zu holen.
Mit schwerem Herzen machte sich Schlaukopf auf den Weg, nahm aber Ring, Gerte und Schwert, die er heimlich bewahrt hatte, mit sich. Nach einigen Tagen kam er an den Meeresstrand und sah an der Stelle, wo er auf seiner Flucht an's Land gestiegen war, einen alten Mann an einem Steine sitzen. Als er näher trat, fragte ihn der Mann, der einen langen grauen Bart hatte: »Weßhalb bist du so verdrießlich, Freundchen?« Schlaukopf erzählte ihm den schlimmen Handel. Der Alte hieß ihn gutes Muths und ohne Sorge sein und sagte: »So lange der Kraftring in deiner Hand ist, kann dir nichts Böses geschehen.« Dann erhielt Schlaukopf eine Muschel [116] von ihm und wurde bedeutet, mit der Zaubergerte die Brücke bis in die Mitte des Meeres zu schlagen; alsdann solle er mit dem linken Fuße auf die Muschel treten, so werde er dadurch in die Unterwelt gelangen, wo das Gesinde gerade schlafen werde. Weiter hieß er ihn aus Spinnegewebe13 einen Sack nähen, um die silber- und goldgefiederten Schwimmvögel hineinzuthun; dann solle er unverzüglich zurück kommen. Schlaukopf dankte für die erwünschte Anleitung und eilte fort. Die Sache ging so, wie vorhergesagt war; aber kaum war er mit seiner Beute bis an's Meeresufer gelangt, so hörte er den alten Burschen hinterdrein keuchen und vernahm auch, wie er auf die Brücke trat, wieder dieselben Fragen als das erste Mal: »Nikodemus, Söhnchen! Du hast mir mit dem Rücken des Beils auf den Kopf geschlagen und hast mich bei den Beinen am Balken aufgehängt?« u.s.w. bis zuletzt noch die Frage hinzukam, welche den an den Schwimmvögeln verübten Diebstahl betraf. Schlaukopf antwortete auf jede Frage »ja« und eilte weiter.
So wie ihm der Freund mit dem grauen Barte vorausgesagt hatte, kam er am Abend mit seiner kostbaren Vogellast in der Stadt des Königs an; der Sack aus Spinnegewebe hielt die Thiere so fest, daß keines heraus konnte. Der König schenkte ihm ein Trinkgeld und befahl ihm, am folgenden Tage wieder hinzugehen, denn er hatte von den älteren Brüdern gehört, der Herr der Unterwelt besitze sehr viele goldene und silberne Hausgeräthe, und diese begehrte der König für sich. Schlaukopf wagte nicht [117] sich dem Befehle zu widersetzen, aber er ging unmuthig von dannen, weil er nicht vorher wissen konnte, wie die Sache ablaufen würde. Am Meeresufer aber kam ihm der Mann mit dem grauen Barte freundlich entgegen und fragte ihn nach der Ursache seiner Betrübniß. Alsdann erhielt Schlaukopf wiederum eine Muschel und noch eine Handvoll kleiner Steinchen nebst folgender Anweisung: »Wenn du nach Mittag hin kommst, so liegt der Wirth im Bette, um zu verdauen, die Töchter spinnen in der Stube, und die Großmutter scheuert in der Küche die goldenen und silbernen Gefäße blank. Klettere dann behend auf den Schornstein, wirf die in ein Läppchen eingebundenen Steinchen der Alten an den Hals, folge selbst schleunigst nach, stecke die kostbaren Geräthe in den Sack von Spinnegewebe und dann lauf', was die Beine halten wollen.« Schlaukopf dankte und machte es ganz, wie vorgeschrieben war. Als er aber das Läppchen mit den Steinchen fahren ließ, dehnte es sich zu einem sechslöfigen mit Kieselsteinen gefüllten Sacke aus, der die Alte zu Boden schmetterte. Flugs hatte Schlaukopf alle goldenen und silbernen Gefäße in den Sack von Spinnegewebe gepackt und war davon gejagt.14 Der »alte Bursche« meinte, als er das Gepolter des Sackes hörte, der Schornstein sei eingestürzt und getraute sich nicht gleich nachzusehen. Als er aber die Großmutter lange vergeblich gerufen hatte, mußte er endlich selbst gehen. Als er das Unglück entdeckte, eilte er, dem Diebe nachzusetzen, der noch nicht weit sein konnte. Schlaukopf war schon auf dem Meere, als [118] der Verfolger ächzend und keuchend an's Ufer kam. »Nikodemus, Söhnchen!« u.s.w. wiederholte der alte Bursche alle früheren Fragen der Reihe nach. Die letzte Frage war: »Nikodemus, Söhnchen! hast du mir mein Gold- und Silbergeräth gestohlen?« »Freilich, Papachen!« war die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! versprichst du noch wiederzukommen?« – »Nein, Papachen!« antwortete Schlaukopf und lief auf der Brücke vorwärts. Obwohl der alte Bursche hinter dem Diebe her schimpfte und fluchte, so konnte er seiner doch nicht habhaft werden, weil alle Zauberwerkzeuge in den Händen des Diebes waren.
Schlaukopf fand den Alten mit dem grauen Barte wieder am Strande, warf den schweren Sack mit den Gold- und Silbersachen, den er nur mit Hülfe des Kraftringes hatte fortbringen können, ab, und setzte sich dann, um die müden Glieder auszuruhen. Im Gespräch erfuhr er nun von dem alten Manne Manches, was ihn erschreckte. Der Alte sagte: »Die Brüder hassen dich und trachten, dir auf alle Weise das Garaus zu machen, – wenn du ihrem bösen Anschlag nicht zuvorkommst. Sie werden den König hetzen, dir solche Arbeit aufzutragen, bei der du leicht den Tod finden kannst. Wenn du nun heute Abend mit der reichen Last vor den König trittst, so wird er freundlich gegen dich sein, dann erbitte dir als einzigen Gnadenlohn, daß die Tochter des Königs Abends heimlich hinter die Thür gebracht werde, um zu hören, was deine Brüder untereinander sprechen.«
Als Schlaukopf darnach mit der reichen Habe, die man wenigstens auf zehn Pferdelasten schätzen konnte, vor den König trat, fand er diesen sehr freundlich und gütig. [119] Schlaukopf bat nun um den von dem Alten angegebenen Gnadenlohn. Der König war froh, daß der Schatzbringer keinen größeren Lohn verlangte und befahl seiner Tochter, sich Abends heimlich hinter die Thür zu begeben, um zu hören, was der Kutscher und der Kammerdiener miteinander sprächen. Durch das Wohlleben übermüthig geworden, prahlten die Brüder mit ihrem Glücke, und was noch einfältiger war, sie beschimpften dabei lügenhafter Weise des Königs Tochter. Der Kutscher sagte: »sie ist viele Mal des Nachts zu mir gekommen, um bei mir zu schlafen.« Der Kammerdiener erwiederte lachend: »Das kam daher, weil ich sie nicht mehr wollte und meine Thür vor ihr zuschloß, sonst würde sie jede Nacht in meinem Bette sein.« Roth vor Scham und Zorn kam die Tochter zu ihrem Vater, erzählte weinend, welch' eine schamlose Lüge sie mit ihren eigenen Ohren von den Dienern hatte aussprechen hören, und bat, die Frevler zu bestrafen. Der König ließ die Beiden alsbald in's Gefängniß werfen und am andern Tage, nachdem sie vor Gericht ihre Schuld eingestanden hatten, hinrichten. Schlaukopf wurde zum Rathgeber des Königs erhoben.
Nach einiger Zeit fiel ein fremder König mit einem großen Heere in's Land, und Schlaukopf ward gegen den Feind in's Feld geschickt. Da zog er sein aus der Unterwelt geholtes Schwert15 zum ersten Mal aus der Scheide [120] und begann das feindliche Heer niederzumähen, bis nach kurzer Zeit Alle auf der blutigen Wahlstatt den Tod gefunden hatten. Der König freute sich über diesen Sieg so sehr, daß er Schlaukopf zum Schwiegersohn nahm.
1 | Dieses Märchen lehnt sich an die beiden Höllenfahrten des Kalewsohnes, die im Kalewipoëg Ges. XIII–XV. XVII–XIX erzählt sind. Die Züge der Sage sind im Märchen wunderlich gebrochen und verschoben, und andre Märchenstoffe hineingewoben. L. |
2 | Ein mythisches Wunderland. Im Kalewipoëg bewirbt sich des Kunglakönigs Sohn um Linda, nachmalige Gattin des Kalew, die ihn abweist, weil »der Kunglakönig böse Töchter hat, welche die Fremde hassen würden.« Doch lassen sich dieselben Töchter des Kunglakönigs durch den Gesang des ältesten Kalewsohnes zu Thränen rühren, Kalewipoëg III, 477. Ebendaselbst XIX, 400 werden vier Kunglamädchen genannt, welche goldene und silberne Gewebe wirken. Vgl. auch über den Reichthum des Landes Kungla das Märchen 23 vom Dudelsack-Tidu. L. |
3 | Dieser Streich wird im Kalewipoëg nacheinander dem Alewsohn, dem Olewsohn und dem Sulewsohn gespielt, welche die Warnung der am Kessel beschäftigten Alten verachteten, weil sie nicht glaubten, daß der winzige Knirps, der um Erlaubniß bat zu schmecken, solchen Schaden anrichten könne. Aber dieser reckt sich auf dem Rande des Suppenkessels über 70 Klafter hoch und verschwindet im Nebel, während der Kessel leer geworden. Als aber die Reihe, bei dem Kessel zu wachen, an den Kalewsohn kommt, verlangt dieser erst von dem als Zwerg erscheinenden Teufel das Glöcklein zum Pfande, welches er um den Hals hat und worin seine Kraft steckt. S. Kalewipoëg XVII, 327 ff. Da unser Märchen ein großes Festgelage für alles Volk fingirt, so läßt es auch übertreibend sämmtliche Vorräthe, Speisen und Getränke verschwinden. L. |
4 | Die Rasenmutter ist es auch, welche im Kalewipoëg (I. 340) aus dem Küchlein die reine (oder Thau-?) Jungfrau Salme umgebildet hat. Nach Kreutzwald zu der cit. Stelle ist die Rasenmutter eine Schutzgöttin des Hauses, deren Obhut besonders der Hofraum und Garten anvertraut war. Der ehstnische Mythus hat von ihr die liebliche Vorstellung, daß sie es ist, die aus dem geschmolzenen Schnee des Winters die weiße Anemone (Anemone nemorosa, ehstnisch Frostblume) bildet. S. Kreutzwald zu Boecler S. 188. Vgl. unser Märchen 2 von den im Mondschein badenden Jungfrauen; diese heißen dort des Waldelfen und der Rasenmutter Töchter. Die Töchter der Rasenmutter sind es auch, welche im Kalewipoëg XVII, 777 ff. den nach der großen Schlacht bei Assamalla ruhenden Helden Traumgesichte weben. L. |
5 | Es ist also von denjenigen Krebsthieren die Rede, deren Augen auf beweglichen Stielen stehen, nicht unmittelbar auf dem Kopfe. L. |
6 | Vgl. Anm. zu Märchen 21, der beherzte Riegenaufseher. L. |
7 | Sepik, mit Hefen gebackenes nicht gesäuertes Brot, das im südlichen Ehstland nur aus Weizenmehl gemacht wird. S. Wiedemann, Ehstnisch-Deutsches Wörterb. s.v. L. |
8 | Aus dem Glöckchen der Sage, Kalewipoëg XVII, 633 ist im Märchen ein Ring geworden. Im Glöckchen dort, im Ringe hier steckt des Höllenfürsten Kraft. Vgl. das Märchen 18, vom Nordlands-Drachen, wo der Ring Salomonis, der im Besitz der Höllenjungfrau ist, Felsen zertrümmert, wenn er am Daumen der linken Hand steckt. L. |
9 | Ein mit einem Deckel und unten mit einem Zapfen versehenes Tönnchen Dünnbier (Kofent), das in den Bauerstuben steht und woraus sich Bier abzapft, wer Durst hat. L. |
10 | Hier fehlt also das Dritte, der Wünschelhut aus Nägelschnitzeln, den Kalewipoëg bei seinem ersten Höllenabenteuer benutzt und dann verbrennt. S. darüber die Anm. zum 11ten Märchen, von der Zwerge Streit. L. |
11 | Kalewipoëg XV, 70 ff. Vers 217 heißt die Hexen-oder Wünschelruthe geradezu der Brückenfertiger (sillawalmistaja). L. |
12 | Kalewipoëg XV, 108 ff. vgl. mit XVIII, 815 ff. In diesen Stellen thut »der Leere« (Tühi) oder wie er im 18. Gesang heißt, der Gehörnte (Sarwik) alle Fragen hintereinander, während unser Märchen sie auseinander legt und auf die verschiedenen Gänge Schlaukopfs vertheilt. Die Sage berichtet von einem Zweikampf des Kalewsohnes mit dem Höllenfürsten; bei dem zweiten Höllengang des Kalewipoëg endet dieser Zweikampf mit der Ueberwältigung und Fesselung des Gehörnten. Kalewipoëg XIX, 87 ff. L. |
13 | Vgl. oben S. 45. 46. L. |
14 | Auch der Kalewsohn raubt die Schätze der Unterwelt. L. |
15 | Erinnert an, »das in verborgener Schmiede von unterirdischen Meistern« (Mā–alused, vgl. Märchen 17) gefertigte Schwert, welches der Kalewsohn zum Ersatz für sein von dem Finnenschmied geschmiedetes und von dem Zauberer des Peipus-Stran des entwendetes Schwert aus der Hölle nimmt. L. |
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro