XII. Dulurin.

[10] Einmal in alten Zeiten war Hungersnot auf den Föroyern; eine grosse Sterblichkeit war über die Schafe gekommen, das Korn war nicht reif, und nichts war im Meere zu erfischen. In Vágar soll die Not am grössten gewesen sein, denn es war lange her, dass sie etwas auf den guten Fischbänken westlich im Meere oder weiter draussen auf den Frühjahrsfischbänken gefangen hatten – nicht ein Bissen wurde gefangen –; sie versuchten auszurudern, aber kamen ganz leer nachhause. Dort im Westen ging nun ein armer Mann schwermütig und kummergefesselt und klagte über seine Not; er hatte viele kleine Kinder, aber wusste sich keinen Rat, wie er sich einen Bissen verschaffen sollte, um ihn in den Mund der Kinder zu legen. Während er so in Trübsinn und Ratlosigkeit ging und über das Schicksal klagte, das so hart war, dass er seine Kinder verhungern lassen müsse und selbst verhungern solle, begegnete er einem Huldermann, der ihn fragt, warum er in so schlechter Stimmung scheine und was ihm zur Sorge gereiche. Der Vágmann sagt ihm nun, wie schlecht es mit ihm steht. Der Hulder antwortet ihm, dass es eine Sünde sei, dass er solche Not leiden solle, denn der Fisch würde nicht ausgehen,[10] wenn sie ihn nur zu finden vermöchten, und darum wolle er ihm nun sagen, wie man die Fischbank finden solle: »Fluss im Thal – Hügel auf Harđavöll, Bächlein auf der Zunge (Vorgebirge) – hier sollst du Fische fangen – Eisen gekaut und getreten – wer dort nichts fängt, ist todgeweiht.« Aber als der Hulder das gesagt hatte, verschwand er plötzlich, ohne diese dunklen Worte und unbekannten Namen zu deuten. Doch prägte sich der Mann gut ein, was gesagt worden war, und begann darüber zu grübeln, und endlich glaubte er einigermassen erraten zu haben, wo die Fischbank liegen könne; alte Leute im Dorf kannten die Namen und wussten ihm zu sagen, wo diese Zeichen zu finden seien. Aber nun galt es, noch zu erfahren, warum der Hulder »Eisen gekaut und getreten« gesagt hatte. Schliesslich fiel ihm ein, dass gekautes Eisen das Mundstück an einem Zaum sein könnte, und getretenes Eisen könnte ein Hufeisen sein; das nahm er und machte sich Angeln daraus. Als er nun mit diesem Werke fertig war, bemannten sie ein Boot zur Ausfahrt und fanden die Fischbank so, wie der Vágmann die Worte des Hulders gedeutet hatte. Er gab allen Bootmännern die Angeln, die er selbst aus Mundstücken und Hufeisen geschmiedet hatte, und dann warfen sie aus. Sie waren auf die rechte Bank gekommen, und sie hatten nicht länger als eine kleine Weile gesessen, so war das Boot bis zum Versinken voll von Fischen. Sie ruderten nun fröhlich von der Fischbank heim, die noch heutzutage Dulurin [die Verhüllte] nach dem Hulder [Verhüllten] heisst; dorthin fahren die Leute noch immer. Auf der Heimfahrt ruderten die Vágmänner an einem Boote vorbei, das sie nicht kannten, und das war ein Hulderboot; der Vormann erhob sich vom Sitze und sagte zum Vágmann: »Ein Glückskind bist du, gut war es gedeutet, und gut war die Fischbank getroffen.« Das Boot verschwand da aus ihrem Gesicht und wurde nicht mehr gesehen. Aber die Fischer aus Vágar waren froh, etwas zu haben, es den Weibern und Kindern diesen Abend und später zu geben.

Quelle:
Jiriczek, Otto L.: Færöerische Märchen und Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 2 (1892) 1-24, 142-165, Berlin: A. Asher & Co, S. 10-11.
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