XXII. Mikines.

[19] Mikines ist nach der Erzählung der Leute eine schwimmende Insel gewesen. Ein Mann in Sörvág [Dorf auf der Insel Vágar], der immer ausruderte, fürchtete sich sehr vor den grossen Walen draussen im Meere, und da er kein Biebergeil hatte, um sie zu verscheuchen, gebrauchte er dazu Stierdreck, den er in die See warf, wenn Wale nahe beim Boote waren. Als er nun auf dem Meere draussen ist und westlich an Vágar vorbeitreibt, sieht er eine grosse Insel aus dem Dunst auftauchen; alle ziehen ein und rudern schleunigst zur Insel. Der Sörvágsmann, der sie zuerst erblickt hatte, warf den Dreck auf ein Vorgebirge, zu dem sie kamen, und stieg dann selbst auf das Land; da wurde die Insel durch den Dreck befestigt, der auf den Vorsprung geworfen war, und daher soll die Insel den Namen Mykjunes (Dreckvorgebirge) bekommen haben. Andere nennen sie Mikines von dem grossen Vorgebirge [av tí mikla nesinum] an der äussersten Ostspitze der Insel, welches Núgvunes heisst.

In anderen Erzählungen wird berichtet, dass einmal ein Riese war, welcher auf den Föroyern wohnen wollte, aber die Inseln, die ihm am besten gefielen, waren allzu klein, und deshalb gedachte er, mehrere zusammenzulegen. Erst kam er nach [der Insel] Koltur und legte sie dorthin, wo sie nun liegt. Dann fuhr er nach Skúvoy, um sie herbeizuziehen und an Koltur zu befestigen. Aber die Skuvoyinger fragten ihn, ob das voller Ernst sei, dass er auf der Insel wohnen wolle, welche Kálv der Kleine gehabt habe. Als der Riese das hört, dass ein Kalb Skúvoy gehabt habe, wollte er es nicht haben und dankte ihnen, dass sie ihm davon gesagt hatten, gab ihnen grosse Gaben dafür und fuhr dann weg. Nördlich vom Lande fand er nun eine grosse Insel, die ihm passend für ihn dünkte, darauf zu wohnen; er zog sie daher südwärts im Meere, aber als er gerade westwärts Vágar gegenüber gekommen war, konnte er sie nicht weiter bringen. Er lag gegen eine Woche dort und strengte sich an, die Insel südwärts nach Koltur zu schaffen, aber er war nicht imstande, sie weiter zu schaffen, er konnte sie nicht von der Stelle rühren. Zornig im Sinn, sagte er da: »Bei meinem Leben, bei meinem Leben! habe ich die Insel vorher emporgebracht, so kann ich wohl auch diese unter die Oberfläche bringen;« denn er gönnte keinem anderen auf der Insel Mikines zu wohnen, als sich selbst. Noch heute sollen die Leute bisweilen eine Insel nördlich von Vágar sehen; hohe Gebirge sind auf ihr[19] sichtbar, tiefe Thäler und weisse Wasserfälle; am häufigsten haben sie die Sörvágsmänner, oft deutlich, gesehen, wenn sie auf den Grasgängen waren, um die Schafe zu bewachen, dort, wo man das Nordmeer überblickt. Darum ist es nicht zu verwundern, dass die Mikinesleute in Sorge sind, wenn zu ihnen die Nachricht gebracht wird, dass wieder jemand diese Insel gesehen hat; wer weiss, ob der Riese nicht noch lebt und Mikines ins Meer versenken kann, um jene Insel von Norden herüberzuschaffen und zu befestigen, wo er sie haben will?

Quelle:
Jiriczek, Otto L.: Færöerische Märchen und Sagen. In: Zeitschrift für Volkskunde 2 (1892) 1-24, 142-165, Berlin: A. Asher & Co, S. 19-20.
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