10.
Das Schloß der Ungewißheit.

[15] Ein junger Königssohn, der für das Waffenhandwerk weder die nöthige Stärke noch Vorliebe besaß, aber ein tüchtiger Sänger war, durchzog mit seiner Harfe das Land und kam in das Schloß eines berühmten Gruagach oder Zauberers. Derselbe saß in einem langen, seidenen Talare auf seinem reichgeschmückten Thron und ihm zur Seite saß seine schöne Tochter, in deren Haar die kostbarsten Edelsteine der Erde glänzten. Um sich einen guten Empfang zu sichern, griff der wandernde Königssohn in die Harfe und sang von dem Ruhm irländischer Helden und der Schönheit und Liebenswürdigkeit der Jungfrauen von Erin.

»Seit langer Zeit,« sagte der Zauberer, als das Lied zu Ende war, »haben wir solchen Genuß entbehrt; denn nur selten besucht uns Jemand, an dem wir Freude erleben. Damit wir uns nun heute nicht zum letzten Male sehen, trage ich dir hiermit die Hand meiner einzigen Tochter an!«

»Ich nehme sie an,« erwiderte der Königssohn hocherfreut; »nach einem solchen Glücke habe ich mich schon lange gesehnt.«

»Ehe sie jedoch dein Weib wird,« sprach der Zauberer weiter, »muß ich eine kleine Gefälligkeit von dir verlangen. Es ist schon lange her, seit mir der grausame Häuptling des Nebels meine beiden Söhne gestohlen hat; nun hätten sich meine Leute schon längst aufgemacht, sie wieder zu holen, wenn sie einen tapferen, kundigen[15] Führer gehabt hätten; und ich müßte mich sehr in dir täuschen, wenn du nicht der rechte Mann wärest.«

Als der Königssohn diese Worte hörte, ward er bleich und stellte seine Harfe an die Wand.

»Tochter,« sagte da der Alte, »bring' ihm den Becher der Vergessenheit und laß ihn einen tüchtigen Zug daraus thun!«

Sie gehorchte und er trank. Der Becher hatte die Eigenschaft, daß er nie leer ward und daß Jeder, der daraus trank, alle Sorgen vergaß.

»Tausend Dank, mächtiger Fürst,« sprach der Jüngling; »aber sage mir auch, wie du heißest und wie dein Schloß genannt wird.«

»Ich heiße Gruagach Tire gan Taithige (Riese des unbesuchten Landes),« antwortete der Zauberer; »der Name meines Schlosses ist Dun Tochluaiste (Schloß der Ungewißheit).«

Darauf setzten sie sich an den Tisch und aßen und tranken so lange, bis es Zeit Zum Schlafengehen war. Dann wünschten sie dem Jüngling gute Nacht und zeigten ihm ein königliches Bett. »Fürchte dich nicht,« sprach die Jungfrau zu ihm, »denn kein Zauberer der ganzen Erde hat über den Gewalt, der getauft ist. Er kann ihm zwar Schaden zufügen, aber ihn nicht tödten.«

Er legte sich nieder und überdachte sein Schicksal, wie er nun das Leben und die schöne Jungfrau verlieren könne. »Ich werde sie entführen,« sprach er zu sich und stand auf und öffnete die Thüre ihres Schlafzimmers. Doch da fand er sich plötzlich in einer unfreundlichen Gegend, in der er nur die rauhe Stimme wilder Raubthiere hörte.

Er verlor seine Besinnung und lief wie wahnsinnig dem nächsten Walde zu. Das schreckliche Toben unsichtbarer Geschöpfe folgte ihm beständig auf dem Fuße. Er lief immer zu und stand auf einmal am Ufer eines wildschäumenden See's. Da er ein kleines Boot darauf sah, so sprang er muthig hinein und ließ sich von den Wellen in's Ungewisse tragen. Die See ging so hoch, daß er sich manchmal in den Wolken und dann wieder im Innern der Erde zu befinden glaubte; auf einmal aber schlug das Boot um und der Jüngling sank mit einem gellenden Schrei der Verzweiflung in die Tiefe.

»Stecke mir ein Licht an,« sprach der Gruagach zu seiner Tochter, »damit ich sehe, wo der junge Mann hingerathen ist.« Dann ging[16] er hinaus und fand den unglücklichen Jüngling unten im Keller, wo er gewöhnlich sein Bier braute, neben einem großen Kessel sitzen. »Wenn du meine Tochter suchen willst,« sagte er lachend, »dann mußt du hübsch oben bleiben; die wilden Katzen und Hunde, die sich hier des Nachts gewöhnlich aufhalten, sind durchaus keine angenehme Gesellschaft.«

Darauf führte er ihn wieder in sein Schlafzimmer zurück.

Doch der Jüngling konnte nicht schlafen und nach kurzer Zeit schlich er sich abermals nach dem Zimmer des Mädchens. Ein gräuliches Ungetüm mit langem Rüssel und schrecklichen Augen bewillkommte ihn, hinter ihm war ein ruhiger Strom und da er keinen andern Ausweg sah, so sprang er, ohne sich weiter zu besinnen, hinein und wollte an das andere Ufer schwimmen. Doch das Wasser war so dick, daß er weder Hände noch Füße darin bewegen konnte. In seiner Verzweiflung rief er um Hilfe und bald erschien denn auch der Zauberer und sprach: »Wenn du dich baden willst, so darfst du nicht in den Schweinetrog springen!«

Darauf half er ihm heraus und gab ihm trockene Kleider. »Lege dich wieder ruhig hin,« sprach er, »und wenn ich die Pferde gesattelt habe, werde ich dich rufen!«

Der Jüngling schlich sich in sein Zimmer zurück und als er sich einigermaßen erholt hatte, raffte er sich abermals auf, um die Jungfrau noch vor Tagesanbruch zu entführen. Doch der Tag war bereits angebrochen und der Jüngling sah sich auf einmal im Garten seines Vaters. Darnach ging er in seinen Palast und schwur beim Frühstück, er wolle die schöne Maid erringen und wenn es ein ganzes Jahr dauere.

Gleich machte er sich wieder auf den Weg; aber in der ersten Nacht, die er im Walde zubrachte, erschien ihm die Tochter des Zauberers und bat ihn, seiner Liebe zu ihr zu entsagen, da sie sich bereits auf den Willen ihres Vaters mit einem Andern vermählt habe. Da verließ ihn denn der Zauber, er ging wieder nach Hause und sang unterwegs:


»Manch' schöne Jungfrau Erin hat,

Aus deren Auge Treue blickt,

Und die, wenn ich nach Hause komm',

Mich liebend an ihr Herze drückt!«
[17]

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 15-18.
Lizenz:
Kategorien: