26.
Der König mit den Pferdeohren.

[42] Eine Geschichte, wie ich sie jetzt erzähle, hört man nicht jeden Tag. Sie stammt von dem alten Schulmeister Tom Kennedy, der sie in einer vergessenen Geschichte Irlands gelesen haben will.

Es war einmal ein König Namens Lora Lonshach, der ließ sich jedes Jahr einmal das Haar schneiden; und da man nie darnach den Barbier den Palast verlassen sah und auch sonst nichts mehr von ihm hörte, so hieß es, er habe ihn umbringen lassen. Sieben dieser Leute war schon die große Ehre zu Theil geworden, den Kopf seiner Majestät zu scheeren, und da sich zuletzt Niemand mehr zu dieser Arbeit hergab, so gab er ein Gesetz heraus, nach dem die Barbiere seines ganzen Landes darum loosen sollten.

Das verhängnißvolle Loos fiel dem einzigen Sohne einer alten Wittwe zu und als letztere dies vernahm, fiel sie fast in Ohnmacht. Sie weinte und klagte den lieben, langen Tag; aber da sie sehr gut wußte, daß das ihrem Sohne nicht half, so machte sie sich eines Tages nach dem Palaste auf.

Sie schlüpfte durch die Reihe der wachhabenden Soldaten und eilte in den Saal des Königs.

»Wer bringt dies alte Weib hierher?« schrie Lora Lonshach; »Schließer, lege die Soldaten in Eisen und laß jedem dreißig aufzählen! Was willst du denn eigentlich hier, alte Sünderin?«

»Ich bitte dich, edle Majestät, laß mir meinen Thigueen, damit ich Jemanden habe, der mir einst ein anständiges Begräbniß verschafft!«

»Wer ist denn dieser Thigueen?«

»Es ist der unglückliche Barbier, der morgen dein Haar schneiden soll; sicherlich werde ich ihn darnach nicht wieder sehen.«

»Rufe mir den Schließer herbei,« sprach er darauf zu seinem Kammerdiener.

»Er sieht zu, wie die Soldaten geprügelt werden,« erwiderte dieser.

»Dann rufe meinen Ausläufer!«

»Der gibt auf den Schließer Acht.«[42]

»Dann rufe den Kutscher!«

»Der beobachtet den Schließer und den Ausläufer, damit sie sich nicht besaufen.«

»Rufe die Soldaten!«

»Sie bekommen jetzt Prügel!«

»Mach', daß du wegkommst, alte Spitzbübin!« rief er der Frau zu, »es thut mir leid, daß ich dir deinen verdienten Lohn nicht auszahlen kann! Wenn du dich wieder in meiner Nähe blicken läßt, lasse ich dich am höchsten Baum Irlands aufknüpfen! So ist mir wieder der ganze Tag verdorben!«

Sie ging fort und am andern Tage kam ihr Sohn in den Palast und sah so traurig aus, als erwarte er sein Ende in jedem Augenblicke.

»Junger Mann,« sprach der König zu ihm, »wenn du mein Haar geschnitten hast, kannst du hingehen, wohin du willst, doch mußt du erst einen Eid, Dar lamh an Righ,1 leisten, Nichts von dem zu sagen, was du siehst!«

Er that's und der König entblößte seinen Kopf; doch wie erschrak Thigueen, als er zwei lange Pferdeohren darauf erblickte!

Als er mit seiner Arbeit fertig war, gab ihm der König fünf schwere Goldstücke und sprach: »Wenn du jemals ein Wort über mich sagst, so hänge ich dich auf oder lasse dich im Meere ersäufen; ja, ich werde vielleicht noch Schlimmeres mit dir thun und dich an das zanksüchtigste Weib Irlands verheiraten!«

Darauf verließ der Barbier das Schloß und begegnete seiner Mutter vor dem Thore. Aber er sagte kein Wort über das, was er gesehen hatte, so sehr sie ihn auch deshalb anging. Doch das Geheimniß lag so schwer auf seiner Seele, daß er krank ward und der Doktor gerufen werden mußte.

Der Doktor ließ sich die Zunge zeigen und fühlte den Puls, aber was ihm eigentlich fehlte, konnte er nicht herausbringen.

»Doktor,« sagte der junge Mann, »zerbrich dir den Kopf nicht über meine Krankheit; ich habe ein Geheimniß und wenn ich dies nicht sagen darf, werde ich sterben; aber ich habe geschworen, es keinem Geschöpfe mit Zunge und Ohren mitzutheilen!«[43]

»Da kann dir ja leicht geholfen werden,« erwiderte dieser, »gehe in den Wald, mache ein Loch in einen Baum und rufe dein Geheimniß hinein, dann bist du es los.«

Kaum hatte er das Haus verlassen, so eilte Thigueen nach dem Walde, spaltete einen Baum und rief »Da Chluais Chapail ar Labhradh«2 hinein. Darnach fühlte er sich so leicht, als ob ihm ein großer Berg von der Brust gefallen wäre.

Nach einem Jahre hatte er das Haar des Königs wieder zu schneiden. Im Palaste hatten sich diesmal alle hochgestellten Personen Irlands versammelt, um dem Wettgesang zwischen Craftine, dem berühmten Harfenspieler Lora Lonshach's, und einem fremden Sänger beizuwohnen.

Nun hatte eine Woche vorher Craftine ausgefunden, daß das Holz an seiner Harfe etwas wurmstichig geworden war und war in den Wald gegangen, um sich einen Baum auszusuchen, mit dem er sein Instrument wieder herstellen konnte. Merkwürdigerweise fiel seine Wahl auf den Baum, dem Thigueen sein Geheimniß mitgetheilt hatte.

Am bestimmten Tage versammelte sich der König mit seinen zahlreichen Gästen im schönsten Saale seines Palastes und rief Craftine auf, den Wettgesang zu beginnen. Dieser griff zur Harfe und spielte ein so trauriges Lied, daß Alle zu weinen anfingen. Da dies aber dem Könige nicht gefiel, stimmte er ein lustiges Lied an und die Leute hätten sicherlich alle getanzt, wenn nur Platz dafür dagewesen wäre; denn sie saßen alle so eng an einander, daß sich keiner rühren konnte. Darnach spielte er »Brian Boru's Kriegsmarsch«, was den anwesenden Kriegern so sehr gefiel, daß sie die Schwerter zogen und ihre Fürsten hochleben ließen. Dann sang er ein Lied so süß und andächtig, als ob die Engel im Himmel die Ankunft eines Dutzend frommer Seelen begrüßten. Jeder fiel auf seine Kniee und warf das Gold haufenweise auf Craftine.

Darnach spielten die Sänger von Leinster, Münster, Connaught und Ulster; sie sangen alle sehr schön, aber mit Craftine konnten sie sich doch nicht vergleichen.

»Singe uns noch ein schönes Lied,« sprach der König zu ihm, »damit uns das Essen besser schmeckt.«[44]

»Ich fürchte mich vor der Harfe,« erwiderte er; »meine Finger schlugen die Saiten nicht und ich fürchte, es widerfährt nur etwas Böses!«

»Unsinn! Spiel' nur zu!«

Craftine gehorchte. Als er die Saiten berührte, erklangen sie wie ferner Donner und es schien, als regnete es Steine auf das Schloßdach. Jeder Anwesende hielt sich die Ohren zu, aber der Lärm drang durch und das schreckliche Wort »Da Chulais Chapail ar Labhradh« ward deutlich vernehmbar.

Der König stand da wie erstarrt und hätte sicherlich halb Irland darum gegeben, wenn er zehn Meilen weg, wenn auch unter der Erde gewesen wäre. Verzweifelnd raufte er sich die Haare und dachte nicht daran, daß er sich dabei die Kopfbedeckung abriß und seine verdächtigen Ohren zeigte. Die Anwesenden schrieen, als ob der Teufel vor ihnen stände und liefen wie besessen davon.

Das Ansehen des Königs war dahin; zwar suchte er es dadurch zu gewinnen, daß er den Verwandten der ermordeten Barbiere ein bedeutendes Jahrgehalt bewilligte; aber im Allgemeinen wollte Niemand mehr mit ihm etwas zu thun haben.

1

Bei der Hand des Königs.

2

Der König hat Pferdeohren.

Quelle:
Knortz, Karl: Irländische Märchen. Zürich: Verlagsmagazin J. Schabelitz, 1886, S. 42-45.
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