XI. Der rollende Rindsmagen.

[49] Konrad Maurer teilt in seinen Nachträgen zu den isländischen Volkssagen der Gegenwart (S. 317–19) den Inhalt eines alten, alliterierenden Gedichtes, des Vambarljóð, mit. Da diese kleine Erzählung nichts anderes als ein Märchen ist, so muss auch sie Aufnahme in dieser Sammlung finden:

Ein Königspaar in Gautland hatte eine einzige Tochter, namens Signý. Als die Königin gestorben war und ihr Gatte schier untröstlich schien, tritt einst ein schönes Weib mit einem Becher voll Wein in die Königshalle. Sie lässt aus ihm unbemerkt einen Tropfen auf des Königs Lippen fallen. Da erwacht er aus seinem Dahinbrüten, trinkt den Becher leer und hat seine verstorbene Gattin vergessen. Er heiratet nun die schöne Fremde. Wie der König einst auf Heerfahrt ist, geht die Königin zur Kammer ihrer Stieftochter und verwünscht sie dahin, dass sie zu dem Magen eines neugeschlachteten Rindes werden sollte (verða að vömb sem úr nýdrepnu nauti). Die Königstochter belegt die Unholdin ihrerseits mit dem Fluche, dass sie zur Katze werden und bei der Rückkehr des Königs sofort tot niederfallen soll. Würmer, Stangen, Gras etc. sollen sie stechen, wenn die Hexe ihren Fluch nicht mildere. Erschrocken fügt diese darum hinzu, dass ihre Stieftochter erlöst werden könne, wenn ein Königssohn sie in dieser Gestalt heiraten und zu sich ins Bett nehmen würde. – –

Nun wälzt sich der Rindsmagen durch viele Länder, bis er endlich nach Hólmgarðr (Nowgorod) zu einem alten Bauernpaar kommt, das in der Nähe des Königshofes wohnt. Er hütet für die alten Leute die Kühe. Tagtäglich treibt er diese nun auf die Äcker und Wiesen des Königs und lässt sie von ihnen abweiden. Einst kommt der junge König dazu und schilt den Rindsmagen dafür tüchtig aus. Doch der wird grob und sagt, dass andere Könige noch grössere Wiesen gehabt hätten und nicht so geizig gewesen wären. Der König wird über diese Antwort wütend und will den Magen totschlagen. Aber seine Füsse sind wie festgewurzelt, so dass er nicht mehr von der Stelle kann. Nur unter der Bedingung kann er wieder[50] loskommen, dass er dem Rindsmagen verspricht, ihn zu heiraten und in sein Bett zu nehmen. Wie er heimgeht, wälzt sich ihm der Magen nach, und sogleich muss die Hochzeit gefeiert werden. Die Mutter des Königs, die mit ihm zusammen lebt, hebt den Magen selber ins Bett ihres Sohnes und wacht in der Nacht über den beiden. Wie sie nach einer Weile wieder nach ihnen sieht, ist dort im Bette eine wunderschöne Prinzessin, der wüste Magen aber liegt daneben. Nun wird er schnell verbrannt, und Signý ist erlöst.

Eine Variante dieses Märchens findet sich noch in einem Manuskripte der Landesbibliothek in Reykjavík (Lbs. 536 4 to). Sie ist von dem elfjährigen Páll Pálsson 1863/64 nach der Erzählung der alten Frau Guðríður Eyolfsdóttir aufgeschrieben worden. Es sind hier eigentlich zwei Märchen zu einer Erzählung verarbeitet worden. Denn die erste Hälfte stimmt im Inhalte völlig mit dem von Árn. überlieferten Märchen von »der guten Stiefmutter Hildur« überein (Árn. II 391–7), während die zweite Hälfte des Märchens nur mit kleineren Abweichungen den oben mitgeteilten Inhalt des Vambarljóð wiedergibt. – In dem Beginn der Erzählung wünscht sich die kinderlose Königin, wie ihr beim Spaziergange im schneebedeckten Walde die Nase blutet, eine Tochter weiss wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz. Dieser letzte Zusatz ist bemerkenswert, da er bei Árn., wo zwei Märchen diese gleiche Einleitung haben (»Hildur, die gute Stiefmutter« und »die Königstochter Ingibjörg«), vollständig fehlt, und zwar auch mit Recht fehlt, da nach altnordischer Ansicht, die in den Märchen meist treulich bewahrt ist, schwarzes Haar hässlich war (vgl. Hamðismál Str. 12). – – – – In unserem Märchen stirbt nun aber auch die gute Stiefmutter Hildur. Der König verheiratet sich zum dritten Male, und zwar nun mit einer Unholdin, die ihre Stieftochter in einen Rindsmagen verzaubert – – Wie der junge König mit einem Spiesse den Magen, der die Kühe des Bauern auf seine Felder treibt, durchstechen will, bleibt er am Spiesse hängen, und der Spiess am Magen. Dieser rollt nun mit ihm über Berg und Tal, bis ganz zerschunden der König gelobt, mit dem Magen im gleichen Bette schlafen zu wollen. Heimgekehrt, lässt[51] der König alle Tore fest schliessen. Wie er sich schlafen legen will, ist jedoch der Magen schon in seinem Schlafzimmer. Der König legt sich ins Bett und lässt den Magen auf dem Boden liegen. Die Mutter des Königs, die von dem Versprechen des Königs gehört hat, hebt ihn jedoch ins Bett hinein. – Wie der König am anderen Morgen die schöne Prinzessin sieht, will er sie durchaus heiraten. Hildur sträubt sich, da sie schon einem Manne verlobt sei und von ihm ein Kind habe. Doch trotzdem wird die Hochzeit gefeiert. Beim Feste kommt Hildurs Verlobter, der Bruder der guten Stiefmutter, mit dem jungen Sohne, da mittlerweile die Zeit seiner Verzauberung verstrichen ist. Nach einem Jahr stirbt der König, und Hildur heiratet nun ihren ersten Geliebten.

Dieses Märchen schliesst sich in der Erlösung aus der Verzauberung durch eine Heirat eng an das vorhergehende Märchen von der Hündin an. Hier ist nur der Unterschied, dass der König gezwungen sein Versprechen hält, den Rindsmagen in sein Bett zu nehmen, ebenso wie im Froschkönig (Grimm II S. 1 ff.) die Prinzessin nur durch den Vater gezwungen den Frosch zu sich nimmt (vergl. auch Köhler S. 229).

Der Vergessenheitstrank, den die Unholdin dem trauernden König reicht, ist ja schon aus der »Völsungasaga« bekannt. Er kommt in den isländischen Märchen noch einmal in der Geschichte von der »rechten Braut« vor, wo die Stiefmutter dem heimkehrenden Jüngling einen Zaubertrank gibt. Auch in dem Märchen von der »vergessenen Braut«, das sich bei vielen Völkern vorfindet und in dem meist durch einen Kuss das Vergessen bewirkt wird, wird in einer der isländischen Fassungen erzählt, dass der heimkehrende Königssohn aus einem Goldbecher Wasser getrunken und infolgedessen die Braut vergessen habe.

Die Verfluchung der bösen Stiefmutter in eine Katze entspricht der gleichen Verfluchung im vorhergehenden Märchen.

Das Festbannen an den Boden, wie in der ersten Version, oder an den Speer und dieser an den Rindsmagen, wie die zweite Fassung erzählt (vgl. Snorra Edda I S. 208), ist ein in; den Märchen der meisten Völker oft wiederkehrendes Motiv.[52] Vielfach findet es sich in der Geschichte von der »vergessenen Braut«, wo die Freier jedesmal, an irgend einen Gegenstand festgebannt, die Nacht zubringen müssen (vgl. auch Grimm 64 »die goldene Gans« S. 258 ff.).

In den beiden Fassungen des isländischen Märchens »von der guten Stiefmutter« wünscht sich die Königin ein Kind weiss wie Schnee und rot wie Blut, wie ihr beim Schlittenfahren die Nase blutet. Bei der gleichen Gelegenheit spricht eine Königin den gleichen Wunsch aus in einem norwegischen Märchen bei Asbj. (33) »De tolv Vildaender« (I S. 150 ff.). In einer Variante zu »Sneewittchen« (Grimm III S. 88) und ebenso im Märchen vom »Machandelboom« (Grimm I S. 171) wünscht sich eine, Frau ein Kind weiss wie Schnee und rot wie Blut, als sie beim Apfelschälen sich in den Finger schneidet. Auch bei Bas. (5. Tag 9. Märchen S. 231 ff.) schneidet der Prinz sich beim Käseessen in den Finger, so dass beim Anblick des Blutes auf dem Käse in ihm der Wunsch nach einer Frau mit solchen Gesichtsfarben erwacht. Die gleiche Vorstellung bewirkt ein im Winter im Schnee oder auf einem Marmorsteine liegender Rabe in seinem Blute. Dieses Motiv finden wir bei Bas. (4. Tag 9. Märchen II S. 116 ff.), bei Schott (19) (der verstossene Sohn S. 199 ff.) und in einer Variante zu »Sneewittchen« (Grimm III. S. 88). Vergl. auch noch Köhler Aufs. S. 29.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 49-53.
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