CX. Die trauernde Witwe.

[391] Lbs. 29. Folio. Aus der Handschriftensammlung des Jón Sigurðsson.


Ein Ritter hat eine schöne Frau, die er zärtlich liebt. Einst, als sie beim Spiele sich ein wenig schneidet, so dass ihr Blut fliesst, fällt er vor Schreck darüber in Ohnmacht und stirbt. Die junge Witwe ist untröstlich. Sie lässt die Leiche in einer Kapelle beisetzen und beschliesst, ihr Leben am Sarge des Gatten zuzubringen. – – – In jener Zeit war es Sitte, dass in der ersten Nacht, nachdem ein Dieb gehängt worden war, ein Mann Wache halten musste, damit der Leichnam nicht gestohlen würde. Er hatte mit Gut und Leben dafür zu haften. Der Wächter, der in der Nacht nach der Beisetzung des Ritters die Wache zu halten hat, langweilt sich und friert. Da sieht er das Licht in der Kapelle, geht hin und bittet die Frau um Einlass, um sich zu wärmen. Sie lässt ihn auch herein. Wie er sich drinnen ein wenig behaglicher fühlt, sagt er ihr, dass es schade sei, wenn ein so schönes junges Weib sein Leben einem Toten dahin opfere. Sie solle für das Seelenheil ihres Mannes Almosen geben und sich wieder verheiraten. Die untröstliche junge Witwe ist über diese Rede entrüstet und weist dem Manne die Türe. Wie er nun an den Galgen zurückkehrt, ist der Dieb von dort gestohlen worden. In seiner Verzweiflung eilt er nun wieder zur Kapelle, um sich von der Frau Rat zu holen. Auf sein Anklopfen lässt sie ihn auch sogleich herein. Wie sie sein Unglück hört, schlägt sie ihm vor, den Leichnam ihres Mannes an den Galgen zu hängen. Natürlich nur unter der Bedingung, dass der Wächter für dieses Opfer sie nachher heirate. Er ist auch bereit dazu, nur hätten dem Diebe zwei Zähne gefehlt. »So nimm du einen Stein und schlag sie dem Toten aus«, rät die zärtliche Gattin. Der Wächter behauptet, dies nicht zu können, denn der Tote sei sein Busenfreund gewesen. Darauf nimmt die Witwe einen Stein und schlägt ihrem Manne die zwei Zähne aus. »Aber der Dieb war auch seiner Ohren beraubt!« »So nimm ein Schwert und schneide sie dem Toten ab«, schlägt die Witwe vor. Aber auch dies, sowie weitere Verstümmelungen der Leiche muss die Frau selber besorgen, da der Wächter aus Freundschaft für den Toten dies nicht[392] übers Herz bringt. Schliesslich muss sie den Gatten dann sogar noch selber am Galgen aufhängen. Wie sie nun alles vollbracht hat, will die Frau den Wächter gleich dort behalten und am nächsten Tage mit ihm sich trauen lassen. Jetzt aber verflucht sie der Mann um ihrer Schlechtigkeit willen und schlägt ihr den Kopf ab.

Dunlop-Liebrecht weist bei der Besprechung des Romans von »Petronius Arbiter« eine Anzahl von Bearbeitungen dieses Themas nach (S. 40–41). Die isländische Fassung scheint am meisten mit der Erzählung »Von der getrösteten Wittib« aus den »Sieben weisen Meistern« übereinzustimmen, denn dort findet sich auch der Umstand, dass der Ehemann aus Schrecken über einen Unfall, dem seine Gattin ausgesetzt war, stirbt, und dass sie darein willigt, seinen Leichnam zu verstümmeln, beides Züge, die der Erzählung aus dem lateinischen Romane fehlen. Ob auch schon in den »Sieben weisen Meistern« die Witwe ihren Gatten selber verstümmelt, und ob auch dort nachher der Wächter sie tötet, vermag ich nicht zu sagen, da Dunlop-Liebrecht nur eine knappe Inhaltsangabe geben, und das Buch von den »Sieben weisen Meistern« mir hier nicht zugänglich ist. Bei Dunlop findet sich dann noch eine ausführliche Literatur über die weiteren Nachahmungen dieser Erzählungen. Über dieses Thema gibt Griesebach (»Die trauernde Witwe«) eine ausführliche Monographie, die mir leider zur Vergleichung nicht zugänglich war.

Quelle:
Rittershaus, Adeline: Die neuisländischen Volksmärchen. Halle: Max Niemeyer, 1902, S. 391-393.
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